Читать книгу Sin.n.e - Danie Novak - Страница 15

14.

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Feinfühlig. Feinfühlig hatte man ihr klargemacht, dass ab nun alles anders werden würde. Milk hatte sich nicht gerührt. Hatte eine ernste Miene aufgesetzt, als in ihrem Inneren eine Welt explodiert war. Sie hatte keine Ahnung, wie sie sich fühlte. Wie sie sich fühlen sollte.

Irgendwann hatte sie Eva in die Arme genommen und sie war ihr unendlich dankbar dafür gewesen. Eine einzige Träne rollte an ihrer Wange hinab und sie dachte an das Bild des weiblichen Clowns im Zirkus. Damals hatte sie einen Moment eingefangen, den sie nicht hätte einfangen dürfen. Heute war ihr Moment gekommen. Sie drückte sich an Evas kuscheligen Pulli und spürte die salzige Träne auf ihrer Lippe.

„Das wird schon wieder! Heute gibt es doch schon so viele Möglichkeiten!“

Sie war ihr dankbar für diese Worte und dennoch würde Eva es nicht verstehen. Es nie verstehen, dass es ihr Fuß war, um den es hier ging. Der mit dem dunklen Fleck auf der Ferse. Der Fleck, der ausgesehen hatte wie der Stiefel Italiens.

Nach und nach trudelten die wahren Ausmaße des Unglücks an ihrem Bett ein. Milk ertappte sich dabei, wie der eigene Schmerz in Anbetracht der stetig steigenden Opferzahlen abzunehmen begann. Wie jeder weitere Schwerverletzte ihren eigenen Lebensmut zu stärken schien. Es fühlte sich pervers an und es widerte sie an.

„Milk?“

„Ja?“

„Soll ich ihm nun schreiben oder willst du es selbst tun?“

„Wem?“

Eva sah sie mitfühlend von der Seite an. Ihre Stimme war so eintönig gewesen. Die Geräusche des Umfelds so ungleich interessanter.

„Na Scott.“

„Scott?“

„Ja, du hättest vor zwei Stunden in Schottland ankommen sollen?“

Schottland... Ein Bild eines drahtigen Fotografen in schwarzer Lederjacke tauchte vor ihr auf. Die Gefühle blieben in Deckung.

„Milk? Ruh dich noch ein wenig aus. Ich erledige das.“

Ausruhen. Was dachte sie, wo sie hinwollte?

Scott Cochrane. Der Name hallte wie ein schwaches Echo aus der Vergangenheit zu ihr durch. Nein. Sie würde ihm nicht schreiben. Wollte nichts erklären müssen. Einfach nur atmen und die Kratzer und Wunden am ganzen Körper spüren. Milk lehnte den Kopf in dem weichen Polster zurück und wünschte sich nachhause. Zu ihrer Schwester, zu ihrem riesigen Wasserkopfbeladenen Plüschelefanten und dem selbstgemalten Dschungel in ihrem Kinderzimmer.

„Erledigt.“

Milk wand den Blick vom Fernseher, auf dem eine Dokuserie über Alligatoren über den Bildschirm flimmerte, ab und drehte sich zu Eva und ihrem Lebensgefährten um.

„Scott lässt dir ‚Alles Gute‘ ausrichten und hofft, dass du bald wieder auf..., dass es dir bald wieder besser geht. Habe ihn angerufen, dachte das wäre der bessere Weg.“

„Danke.“

„Dem Rest habe ich eine SMS geschickt.“

„Dem Rest?“

„Deiner Familie, Marco, James, Phyllis und Cord.“

Randall, Evas Lebensgefährte, hatte sich neben sie gesetzt und schob eine Packung Schokoherzen zu ihr hinüber. Milk lächelte ihm kurz zu und öffnete sie mit ihrer linken Roboterhand. Ihr rechter Arm schmerzte. Irgendwie hatte sich der Teil mit der Infusionsnadel entzündet und sie hatte bisher noch niemanden auftreiben können, der ihr die Nadel wechseln wollte. Der rote Knopf mit der stilisierten Krankenschwester darauf kam für sie nicht in Frage. Jeder einzelne in diesem Krankenhaus arbeitete wie einer von Santas Elfen am Tag vor Weihnachten.

„Wer ist Cord?“

Eva lächelte ihr schelmisch zu.

Milk überlegte. Sie konnte es nicht sagen, aber sein Name löste eindeutig ein wohliges Gefühl in ihr aus. Sie mochte Cord oder zumindest hatte sie ihn gemocht.

„Keine Ahnung. Manche Dinge haben sich seit dem Unfall in meinem Kopf etwas verschoben.“

„Unfall!“

Randall schnaufte verächtlich und Eva legte ihm die zierliche Hand auf die Schulter. Milk fühlte, wie sie die beiden schützen wollten. Aber wovor? Der Tatsache, dass das hier nicht hätte passieren dürfen? Dass die strengen Einreisebedingungen und Terrormaßnahmen seit dem neunten September 2001 rein gar nichts gebracht hatten. Dass die Täter vielleicht sogar hier aufgewachsen waren, jahrelang dieselbe Luft geatmet hatten, wie die unschuldigen Mitreisenden in dem Abteil. Dass alles wie immer und überall auf dieser Welt seinen Weg fand, um so richtig in die Hose zu gehen?

Manchmal ging es schlicht und einfach darum, in den Eimer aus Pech zu treten. Doch Milk hatte Glück gehabt und das wusste sie. Ihr Eimer hatte eine andere Substanz beinhaltet.

„Okay, Milk. Die Besuchszeit ist für uns leider um, aber wir kommen morgen Nachmittag mit deiner Schwester wieder. Sie landet gegen Mittag und wir holen sie ab.“

„Danke.“

Als die beiden gegangen waren, sah sich Milk nach ihrem Smartphone um. Die bunte Hülle funkelte fröhlich auf dem hellbeigen Beistelltisch. Miriam scrollte durch die Nachrichten und las jene, die Eva verfasst hatte.

Fast überall waren dieselben Antworten gekommen. Glückwünsche, Beileidsbekundungen und der übliche „Baldige Besserung“-Scheiß. Als ob sie irgendetwas anderes im Sinn hätte, als schnell wieder aus diesem Bett zu steigen.

Milk las Cords Nachrichten und scrollte zurück zu dem ungezwungenem Bild, das er ihr geschickt hatte. Irgendwie hatte er geahnt, dass sie ‚eines der Opfer‘ sein würde und die Frage, ob sie noch Österreicherin war, amüsierte sie. Plötzlich verspürte sie die Lust ihm darauf zu antworten. Ihn einfach anzurufen und ein wenig zu plaudern. Milk rechnete nach. Hier war es kurz nach zwanzig Uhr, was bedeutete... dass es in Wien kurz nach vier Uhr morgens sein musste. Verdammt! Sie musste den kopflosen Impuls wohl auf die Wartebank setzten und sie hatte wenig Lust dazu. Der Fernseher strafte sie mit einer Einöde an Sendungen und ihre Zimmernachbarin hatte sich in einen wohligen Schlaf geschnarcht.

Milk wählte den grünen Kreis und drückte für einen Sekundenbruchteil darauf. Es hatte gereicht. Ihr Telefon wählte. Es läutete. Und eine verwunderte Stimme meldete sich am anderen Ende. Am anderen Ufer, das langsam aber sicher im Begriff war, sich von ihrem Ufer zu entfernen. Jedenfalls hatte ihre Schwester etwas Ähnliches bei ihrem letzten Besuch auf der südlichsten Spitze von Manhattan erwähnt.

„Hallo?“

Es war bereits das zweite Mal gewesen und Milk räusperte sich rasch.

„Hi Cord! Hi, es tut mir leid. Hast du schon geschlafen?“

„Nein.“

Seine Stimme klang anders, als sie sie in Erinnerung hatte. Aber auf ihre Erinnerung war in diese Fall sowieso kein Verlass.

„Nein, gerade nachhause gekommen.“

Sie hörte, wie eine Tür ins Schloss fiel und bildete sich ein, eine zweite Stimme gehört zu haben.

„Ist jemand bei dir? Störe ich?“

„Du störst nicht. Wie geht es dir?“

„Gut und dir?“

Es entstand eine kurze Pause und Milk spielte mit dem kleinen Drachen an ihrem Mobiltelefon.

„Ja, geht.“

Wieder bildete sie sich ein, eine Stimme zu hören und bemühte sich, die Geräusche um sie herum auszublenden.

„Warst du fort?“

Blöde Frage! Natürlich war er das gewesen.

„Ja.“

„Cord, du sagst es mir doch, wenn du jemanden aufgerissen hast und ich dich nicht weiter stören soll, oder?“

Sie hatte es bemüht lässig gesagt, war sich der Wirkung ihrer Worte aber nicht sicher. Sie wusste nichts über ihn. Weder, ob er eine Freundin hatte, oder vielleicht einen Freund, noch, was er abgesehen von seinem Vorstellungsgespräch den ganzen Tag lang so trieb.

„Sag ich dir.“

Jetzt war die Veränderung eindeutig gewesen. Er rauchte und er hatte getrunken.

„Es ist nur so. Ich kann... ich will im Moment nicht alleine sein und... naja, ich habe gedacht, das wäre eine gute Möglichkeit dich näher kennenzulernen.“

Milk hoffte inständig, dass er sie nicht an ihr letztes Telefonat und die wenig charmante Art ihn abzuwimmeln hinweisen würde. Aber er tat es nicht.

„Interessante Uhrzeit, aber klar, was willst du wissen?“

Milk lächelte. Der Alkohol hatte ihn ihr in die Finger gespielt und sie wünschte, sie hätte ein ähnliches Hilfsmittel in einem Umfeld wie diesem.

„Alles.“

Sie lachte laut auf.

„Mh, also geboren wurde ich am ersten April Neunzehnhundertund...“

„Scherz!“

„Ja, ganz richtig. Ich war der Scherz der Familie.“

„Erzähl mir von deiner Familie, hast du Geschwister?“

„Einen Bruder und eine Schwester, beide älter. Und du?“

„Ich auch. Eine Schwester und einen Halbbruder. Der ist allerdings jünger, ganze fünfzehn Jahre. Ein Schatz!“

„Wie alt ist er?“

„Hey! Du verschlagener Heuchler, warum fragst du nicht einfach, wie alt ich bin?“

„Tu ich doch.“

Da hatte er allerdings Recht. Milk lachte ein zweites Mal auf und blickte sich im Zimmer um. Das hier war so furchtbar skurril. Der intensive Geruch der Blumen vom Nachbartisch erinnerte sie an eine Beerdigung und sie hielt sich rasch einen Finger unter die Nase.

„Er ist fünfzehn und somit...“

„Bist du dreißig. Na und? Ich bin bald einunddreißig.“

Damit hatte sie nicht gerechnet. Dass er älter war als sie selbst. Sein Bild wirkte so jugendlich, so erfrischend kindlich. Vermutlich verarschte er sie, aber was machte das schon.

„Erzähl mir mehr! Was ist deine Lieblingseissorte?“

„Melone.“

„Dein liebstes Reiseziel?“

Sie hörte, wie er ausatmete und fast fühlte sie das Lächeln am anderen Ende der unsichtbaren Schnur.

„Jedes. Ok, vielleicht Korea? Da war ich noch nie.“

„Ich auch nicht. Ich habe nur ein Jahr in Kyoto gelebt.“

„Ehrlich? Wie war das?“

„Fein. Geordnet irgendwie, widersprüchlich und seeehr westlich. Ich habe mich das erste Mal als eine typisch westliche Bewohnerin dieses Planeten gefühlt. Aber ich würde alles darum geben, wenn es überall auf der Welt so schmackhaftes Essen gäbe.“

„Ja, die Asiaten haben‘s drauf.“

„Cord?“

„Ja?“

„Du hast doch niemanden bei dir gehabt?“

„Doch. Aber sie ist auf der Couch vor dem Fernseher eingeschlafen.“

„Du Arsch!“

Irgendwie imponierte ihr das.

„Keine Sorge, sie ist die Nichte eines Freundes und ich habe ihr angeboten, dass sie hier übernachten kann. Meine Wohnung liegt im Zentrum.“

„Wo?“

„Im dritten.“

„Ist sie süß?“

„Meine Wohnung? Ja, kann man schon sagen, groß ist sie jedenfalls nicht.“

„Spinner!“

„Ja, sie ist süß.“ „Wie ein Punschkrapfen in Schlagobers.“

Milk prustete los und die Patientin neben ihr gab ein leises Grunzen von sich.

„Wann habt ihr bei euch denn Bettruhe?“

Bettruhe? Gab es sowas denn im Spital? Milks Erfahrung mit der Massenaufbahrung kranker Menschen stützte sich auf die Entfernung ihrer Mandeln mit elf Jahren.

„Keine Ahnung. Bist du müde?“

„Etwas. Aber deshalb frage ich nicht.“

„Na klar. Egal warum du gefragt hast, ich danke dir für das Gespräch.“

Milk fühlte sich bemüßigt etwas hinzuzufügen, aber sie brachte es nicht über die Lippen. In ihrem Bauch kribbelte es und sie erinnerte sich daran, dasselbe auch vor ihrem Unfall verspürt zu haben. Nur war es... Sie verwarf den Gedanken rasch.

„Keine Ursache. Immer wieder gern.“ „Schlaf gut, Milk.“

„Du auch, Spinner.“

Sie legte auf und sah auf das schwarze Display. An einer Seite war es angelaufen und vor ihren Augen verdunstete die Flüssigkeit in den Raum.

Sin.n.e

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