Читать книгу Doggerland - Daniel Bleckmann - Страница 11
ОглавлениеEin Video für YouTube zu schneiden ist nicht einfach. Wenn dein dämlicher Zwillingsbruder im Zimmer nebenan allerdings auf voller Lautstärke (und ohne Kopfhörer) sein stumpfsinniges Ballerspiel zockt und dich nur eine dünne Wand von ihm trennt, dann ist das fast unmöglich.
Seit einer Woche sitze ich an »Das große Sterben – Diese Tiere gibt’s nicht mehr«. Ich kann mich einfach nicht entscheiden, welche der vielen Arten, die in den letzten hundert Jahren von der Bildfläche verschwunden sind, ich auswählen soll. Den Chinesischen Flussdelfin und das Westafrikanische Spitzmaulnashorn muss ich erwähnen, den Tasmanischen Tiger auch. Aber wer kennt schon den Kleinen Kaninchennasenbeutler oder die Weihnachtsinsel-Zwergfledermaus?
»Jetzt mach den Mist leiser, Lex!«, brülle ich.
Es kommt nicht die gewünschte Antwort. Stattdessen ruft Mama zum Abendbrot.
»Der Test wird noch mal wiederholt, aber die erste C14-Untersuchung hat ergeben, dass die Knochenharpune über 8000 Jahre alt ist.« Papa ist ganz aus dem Häuschen. Er hat noch nichts vom Abendbrot angerührt, dabei gibt es heute Flussbarsch mit Salzkartoffeln, sein Lieblingsgericht. »Und das bedeutet, dass unser Forscherteam die Ausdehnung von Doggerland unterschätzt hat. Die Harpune wurde von Fischern unweit der Stadt Grimsby aus dem Wasser gezogen. In Nordengland. Das ist der nördlichste Fund bisher. Und der größte. Ihrer Struktur nach ist sie aus Horn, ich tippe auf Rothirsch.«
Da ist es wieder – das Lieblingsthema meiner Eltern. Seit sie in dem internationalen Team um Mr Gaffney arbeiten, besteht ihre Welt nur noch aus Doggerland, Doggerland, Doggerland. Das ist ein noch ziemlich neues Forschungsgebiet. Wenn man allerdings meinen Zieheltern glauben kann, dann werden die Erkenntnisse nicht weniger als die gesamte Geschichte der Menschheit revolutionieren. Denn dort, wo heute die Nordsee fließt, gab es früher Land. Viel Land. Besiedeltes Land.
»Vielleicht sogar Cervalces scotti, Eric«, wirft Mama ein. »Sein Geweih war noch um ein Vielfaches größer.«
»Megaloceros? Ich bin mir nicht sicher, ob die Doggerländer tatsächlich Riesenhirsche gejagt haben«, entgegnet Papa und fängt nun endlich auch an zu essen. »Aber möglich wäre es. Schon die gewaltigen Geweihenden dieser großen Tiere gäben passable Waffen ab.«
»Yo, solche Riesenviecher bringen viele Points.« Lex spricht mit vollem Mund. »Fell und Geweih lassen sich für ordentlich Credits verticken. Außerdem regeneriert mein Jäger durch ’ne Fleischkeule viel schneller Lebensenergie.«
»Spielkind, du redest von einem Videogame und nicht der Realität.« Ich schiebe den Fisch auf meinem Teller an den Rand (ich mag’s nicht, wenn Mama mir aufschöpft) und begnüge mich mit Salzkartoffeln und Rucolasalat.
»Tatsächlich haben die Bewohner der Steinzeit viel weniger Fleisch konsumiert, als die meisten Menschen heute glauben«, sagt Papa schnell, bevor es zwischen mir und meinem Bruder wieder knallt. »Das hier«, er deutet auf seine fischbestückte Gabel, »stand zumindest in der Mittel- und Jungsteinzeit viel häufiger auf der Speisekarte als Auerochse oder Hirsch. Außerdem aßen die Menschen sehr viel Gemüse und Früchte. Und Nüsse. Besonders Haselnüsse.«
»Nutella rulez the world.« Lex grinst.
»Im Gegenteil: Die Palmölindustrie …«, hebe ich an.
»Och, nicht schon wieder die Leier«, stöhnt mein Bruder theatralisch auf. Er beugt sich über den Tisch und will sich einen weiteren Barsch mit der Gabel angeln.
»Hey, langsam, Sohnemann. Du hattest deinen Anteil.« Lachend zieht mein Vater die Fischplatte zu sich.
»Paps, ich muss essen. Ich bin im Wachstum. Und nenn mich nicht immer Sohnemann. Wir haben das Jahr 2020.«
»Schon gut, Buddy, hau rein.« Er schiebt den Fisch wieder in Lex’ Richtung. »Sei froh, dass du dein Essen nicht selbst jagen musst.«
»Oder zubereiten«, ergänzt meine Mutter.
»Könnte er beides nicht«, nuschele ich. »Dafür müsste er ja seinen Controller aus der Hand legen.«
»Ach, Dumbo, und du kannst kochen, oder was?«, geifert Lex zurück.
»Leute!« Mama funkelt meinen Bruder und mich an. »Dass ihr immer herumsticheln müsst. Können wir euch überhaupt ruhigen Gewissens zu Oma und Opa schicken? Die alten Herrschaften ertrinken noch in eurem Meer aus Streit.«
Ich verdrehe die Augen.
»Ich habe gleich gesagt, deine Eltern packen das in ihrem Alter nicht mehr«, textet mein Vater weiter. »Zehn Tage in den Sommerferien, das ist zu lang. Also ich bin immer noch dafür …«
Ich höre nicht weiter zu und stochere in meinem Salat herum. Massentierhaltung und Plastikmüll, Kohle- und Atomkraft, Monokulturen an Land und im Wasser, Verschwendung von Lebensmitteln, Wegwerfmentalität bei Technikprodukten und alle Jahre wieder der Black-Friday-Rausch – wir Menschen machen es dem Planeten mit unserem Konsum nicht leicht. Und das nicht erst seit gestern.
Die plötzliche Stille am Abendbrottisch schreckt mich aus meinen Gedanken. Unsere Zieheltern sehen sich stumm an. Sehen sich lange an. Zu lange. Oje, ich kenne diesen Blick. Wenn sie ihn auspacken, dann herrscht zwischen ihnen dieses Erwachsenen-Ding, diese unausgesprochene Übereinstimmung, die nur bei sehr guten Freunden oder sich Liebenden vorkommt. Unweigerlich ziehe ich den Kopf zwischen die Schultern und schiele verstohlen zu Lex. Der scheint von der plötzlichen Stille nichts mitbekommen zu haben und schaufelt sich weiterhin seelenruhig toten Fisch in den Mund.
»Also versuchen wir es, Irene?«, fragt Papa lang und gedehnt, als würde er jetzt schon den Einspruch wittern.
Mama dreht sich ihre langen Haare zu einem Dutt auf, wie immer, wenn sie etwas Kompliziertes anpacken will. »Also gut, Eric.«
»Prima.« Papa springt vom Tisch auf. »Dann ist es beschlossen. Keine Ferien bei Oma und Opa: Ihr beide kommt mit auf die RV Belgica!«
Ich lasse mein schmerzvollstes Stöhnen hören. Endlich hat auch mein Schnellmerker-Bruder geschnallt, was hier gerade abgeht.
»Die RV was? Das olle Schiff, auf dem ihr arbeitet, wenn ihr … och nö! Nein, wir kommen nicht mit! Die Sache mit Oma und Opa war doch schon save.«
»Ihr wisst nicht, was ihr verpasst: England, die raue See, der Wind um die Nase, und unter Wasser eine verborgene Welt. Das wird ein großes Abenteuer.« Während Papa das sagt, fuchtelt er mit seiner Gabel durch die Luft, als kämpfe er gegen ein imaginäres Seeungeheuer.
Abenteuer. Alles, was ich in den Sommerferien will, ist Ruhe. Für meine eigenen Projekte. Auf meinem Zimmer. Ich will nicht ans Meer und auf ein Schiff voller komischer Wissenschaftler! Ich hoffe, ich kann mich in irgendeiner Kajüte verkriechen und lesen.
Lustlos wühle ich in meinen Klamotten-Schubladen. Was zieht man an auf einem Schiff? Regenjacke, Gummistiefel? Das Jurassic-Park-T-Shirt muss auf jeden Fall mit.
Etwas klackert unten in der Schublade. Ich grabe mich durch die Ecke mit den Socken und entdecke eine Kette. Drei schwarze Dreiecke, daumengliedgroß, baumeln an einem Lederband.
»Wo kommst du denn her?« Ich ziehe das verschlissene Band hervor. Es ist so dünn, dass es sicherlich bald reißen wird. Die Dreiecke sind Zähne. Von prähistorischen Haien. »Dich habe ich ja schon lange nicht mehr gesehen.« Ich reibe mit den Fingern über die scharfen Schneiden der Zähne.
Es war im Sommerurlaub. Im Süden der Niederlande, nahe der belgischen Grenze. Beim Strandspaziergang habe ich die Kette im Sand gefunden. Damals war ich sechs Jahre alt. Meine Eltern meinten, dass sie bestimmt ein anderer Urlauber verloren habe. Strandgut darf man jedoch behalten. Natürlich habe ich mich zuerst mit Lex darum gestritten. Aber es war mein Fund. Den ganzen Sommer lang habe ich die Kette voller Stolz getragen und mir Geschichten über ihre Herkunft ausgemalt.
Ich lege mir die Haizahnkette um den Hals. Seltsam, wie einem manche Dinge im Leben zweimal begegnen.