Читать книгу Doggerland - Daniel Bleckmann - Страница 24

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Mir ist kalt. So kalt. Ich habe Angst, meine Augen zu öffnen. Da war das Gewitter, all das Wasser, der gewaltige Sog um die Dolmensteine, das blaue Leuchten. Lex ist untergegangen. Aber da ist kein Wasser mehr. Wir sind an Land. Wer hat uns aus dem Wasser gefischt? Oder träume ich?

Steine drücken in meinen Rücken. Plötzlich zieht etwas an meiner Hose. Und knurrt. Ich schreie, reiße die Augen auf und setze mich mit einem Ruck hin. Oh! Mein! Gott!

Jemand springt schreiend von mir zurück. Ein Mann, nein, ein Kind! Mit dreckigem Gesicht, verfilzten Haaren. Shit, was geht denn hier ab?

Schwarze Vorhänge schieben sich zurück vor meine Augen. Ich schüttle den Schwindel ab, zwinge mich, lang und tief einzuatmen. Wo bin ich?

Eine Höhle, ja, ich sitze im Eingang einer Höhle. Die Steine sind feucht, der Boden leicht schmierig und die Luft riecht nach Rauch. Von weiter vorn dringt schwaches Sonnenlicht hinein. Langsam gewöhnen sich meine brennenden Augen an das diffuse Licht. War es nicht gerade noch Nacht?

Der schmutzige Junge trägt seltsame Kleidung: eine Mischung aus derben Stoffteilen, Lederstücken und ein paar Fellfetzen. Seine wirren Haare sehen aus wie altes Stroh und werden nur durch ein Stirnband gebändigt. Auch die halbnackten Beine und Arme starren vor Dreck, als sei er soeben einen steinernen Abhang runtergerutscht. Wer zum Teufel ist das?

Ich will etwas sagen, aber meine Zunge fühlt sich an, als habe das Meersalz jeden Tropfen Speichel herausgesaugt. Mein Kopf wummert, mein Herz stolpert und meine Augen brennen, auch wenn ich sie mehrmals fest zukneife. Diese Höhle, der Junge – das alles wirkt total authentisch. Vermutlich bin ich dehydriert oder habe mir den Kopf angeschlagen.

Geduckt kommt der Junge näher. Ich zwinge mich, ruhiger zu atmen. Der abgerissene Kerl ist vielleicht nur ein Jahr älter als ich – das beruhigt mich irgendwie. Trotz aller Wildheit scheint er zudem etwas für Schmuck übrig zu haben: Um den Oberarm hat er eine Kette aus Muscheln geschlungen, an seinem Gürtel baumeln ein paar braun-weiß gestreifte Federn. Seine wasserblauen Augen beäugen mich misstrauisch.

Okay, sehr gut! Ja, echt gut geschauspielert. Ich sehe mich um. Jetzt könnte langsam mal jemand die Kulissen wegschieben oder »Cut!« rufen. Und der Kerl könnte lächeln. Denn mir ist echt kalt. Und wo ist eigentlich Lex?

Mein Bruder liegt eine Armlänge hinter mir, nahe einer Feuerstelle, in der nur noch ein paar Hölzer glühen. Auf seiner Stirn ist eine Beule und auf einem Fitnesshandschuh klebt geronnenes Blut. Aber sein Brustkorb hebt sich regelmäßig. Schläft er etwa? Nein, dieser Cheater tut so, als wäre er Teil dieses Schauspiels.

Ich will aufstehen. Erst jetzt merke ich, dass ich meine Gummistiefel verloren habe.

Ich grinse den Jungen möglichst cool an. Doch der zuckt zurück und knurrt wieder wie ein Tier. Herrje, er hat sogar eine Waffe, einen Bogen. Die Pfeilspitzen sehen, wie alles hier, verdammt echt aus.

Ich seufze. Gut, spiele ich eben mit. Langsam hebe ich meine Hände und zeige dem Höhlenmensch-Schauspieler meine Handflächen als Zeichen, dass ich harmlos bin.

Der Junge stößt einen erstaunten Laut aus und schnuppert in Richtung meiner Hände. Ich halte seinem Blick stand. Seine hellen Augen sind schön. Aber der Rest? Er riecht eigenartig; eine Mischung aus Leder, Algen und noch irgendwas Süßlichem. Meine Nase kitzelt. Ich muss niesen. Es hallt so laut in der Höhle wider, dass der Junge erschreckt zurückweicht. Hinter mir regt sich Lex.

»Leya?!« Lex’ Stimme klingt, als wäre er erkältet. Stöhnend reibt er sich mit der Hand über die Stirn und betrachtet verwirrt das getrocknete Blut auf seinem Fitnesshandschuh. »What the …?«

»Keine Ahnung, aber sie haben das alles echt gut hinbekommen, oder?«

»Sie?« Erst jetzt bemerkt Lex den anderen Jungen. »Aah! Wer … was?« Er springt auf.

Der andere Junge spannt seinen Bogen. Er zielt direkt auf Lex.

»Jungs!« Ich stehe auf. »Das reicht jetzt, echt! Ich habe es verstanden. Ein super Setting, tolle Atmosphäre. Aber hey, ich friere. Wer auch dahintersteckt, könnte mir bitte mal eine Decke bringen.« Ich trete zwischen Lex und den Schauspieler. Meine Beine sind wackelig. »Mama, Paps?«, rufe ich in die Tiefe der Höhle. »Hallo, wir haben’s kapiert. Lektion gelernt. Ihr könnt euren Streich dann jetzt beenden.«

Meine Stimme hallt weit in die Dunkelheit. Ich wusste nicht, dass es in New Kilnsea solche Grotten gibt.

Wie haben Irene und Eric uns eigentlich aus dem Meer und bis hierher transportiert? Der Filmriss seit unserer kleinen, aber leichtsinnigen Wattwanderung will sich immer noch nicht mit Antworten füllen.

»Leya!« Lex’ Stimme klingt angespannt. »Geh hinter mich!«

Noch immer zielt der Schauspieler mit dem Steinpfeil auf mich. Seine Augen sind zu Schlitzen verengt, die Nasenflügel beben leicht. Er macht das wirklich gut.

»Schluss jetzt!« Ich schlage mit der Hand gegen den Bogen. Der Pfeil zischt von der Sehne und verschwindet in der Tiefe der Höhle.

Dann geht alles ganz schnell. Der Junge lässt den Bogen fallen, greift nach mir, seine Hand umklammert meinen Nacken. Lex schreit auf, springt herbei. Ich versuche mich dem eisernen Griff zu entwinden, doch der Junge ist stark. Lex geht dazwischen. Wir drei stolpern zurück, purzeln in Richtung Höhlenausgang. Dabei erhasche ich einen Blick des Jungen. Oje, der meint das wirklich ernst!?

Eine Stimme, ein lautes Wort, das ich nicht verstehe, lässt uns in dem Gezerre innehalten. Im Höhleneingang, vom Sonnenlicht umhüllt, steht noch ein Junge.

Als sich meine Augen an die Lichtverhältnisse angepasst haben, weiß ich schlagartig, dass das kein weiterer Schauspieler ist. Denn der Junge hat keine Hände mehr! Dort, wo einmal Finger und Handflächen gewesen sind, sind nur noch Stumpen, umwickelt mit schmutzigen Tüchern und Lederriemen. Das ist kein Theatertrick, keine Maske!

Schlagartig wird mir schlecht. Kalter Schweiß schießt in meinen Nacken. Himmel, wo sind wir hier reingestolpert?

Der zweite Junge ist deutlich kleiner und schmächtiger, vielleicht auch etwas jünger als der andere. Er erinnert mich an einen Vogel. Einen zerrupften Vogel. Doch in den ebenfalls wasserblauen Augen steht nicht die Wut, die ich bei dem ersten Jungen sehe, sondern etwas anderes: Dieser Junge ist neugierig.

Der erste Junge lässt Lex los und stößt ihn von sich. Seine Sprache klingt fremd in meinen Ohren, als er dem anderen Jungen etwas zuruft. Doch ein Wort kann ich heraushören: Bruder!

Aus den Augenwinkeln schiele ich zu Lex. In seinem Gesicht steht Verwirrung. Und Angst.

Niemand bewegt sich, keiner wagt etwas zu sagen. Aber meine Gedanken rasen und mein Gehirn kapiert, was es die ganze Zeit nicht wahrhaben wollte:

Wir sind nicht mehr in England.

Doggerland

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