Читать книгу Doggerland - Daniel Bleckmann - Страница 18

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Es ist kein Schiff, kein rostender Container oder irgendein anderes Treibgut. Nach dem seltsamen Baumstumpfkreis, diesem versunkenen Mahnmal einer längst vergangenen Zivilisation, sollte ich eigentlich nicht mehr überrascht sein. Ich bin es trotzdem.

Ich hole Lex ein. Sprachlos steht er vor dem roten Steingebilde, das sich aus dem Meer erhebt, als wäre es schon immer da gewesen. Zwei mächtige Steinpfeiler, jeder etwas länger als wir, ragen aus dem grauen Watt auf. Ein dritter Pfeiler liegt umgestürzt daneben und eine große Steinplatte, die einst wohl als eine Art Deckel gedient hat, ruht schräg an den Pfeilern, als hätte ein übermütiger Riese sie herabgeschubst.

»Was ist das?«, ruft Lex in den auffrischenden Wind.

»Also ich glaube … nein, das kann nicht sein!«

»Was kann nicht sein? Leya, was zur Hölle ist das?« Lex geht vorsichtig näher. Er hat tatsächlich seine kindische Plastikpistole gezogen.

»Ich glaube, es ist oder vielmehr war ein Dolmen«, rufe ich ihm nach.

»Dolmen? Sieht aus wie bei Asterix und Obelix.«

»Genau. Steindolmen sind Gräber. Prähistorische Hügelgräber, um genau zu sein. Wissenschaftler vermuten, dass da drum herum noch Erde aufgehäuft war.«

»Ah, Hünengräber, Opfertische und so. Davon gibt’s in Frankreich und England doch einige.«

»Ja, aber nicht mitten im Meer.« Ich ziehe die Schultern zu den Ohren, weil mir kalter Wind in den Nacken weht. Irgendwie wirken diese rostroten Steine falsch inmitten der schlammgrauen Wattfläche.

Gemeinsam treten wir näher. Auf der unteren Seite des mächtigen Decksteins und auf den Pfeilern sitzen Seepocken. Feuchter Blasentang klebt an den rostroten Steinen.

»Ach, dieses Mal keine Angst vor magischen Flüchen?«, rufe ich, als mein Bruder auf den umgestürzten Pfeiler klettert. Sofort beantwortet ein Donnerschlag die freche Entweihung.

»Uff!« Lex gibt sich cool, aber als er auf dem Stein steht, zeigt er nach links, auf den Horizont. »Da kommt was auf uns zu!«

Der Himmel sieht böse aus. Ein böses Dunkellila.

»Komm auch hoch.« Lex reicht mir die Hand.

»Sind das Spuren von Werkzeugen?«, murmele ich und wage, mit den Händen über die teils sehr unebene Steinoberfläche zu streichen. Manche Stellen des Pfeilers wirken, als wäre den Steinmetzen der Meißel mehrmals abgerutscht.

Regen setzt ein. Erneut donnert es.

»Ähm, Leya …?!« Lex zeigt dorthin, woher wir gekommen sind. »Die Bäume …«

Ich drehe mich um. »Scheiße!«

Um den vordersten der Baumreste, die uns hierher geführt haben, hat sich bereits eine große Lache gebildet. Vor ein paar Sekunden stand der Stumpf noch auf dem Trockenen.

»Wir sollten zurück. Sofort!«

Kaum habe ich das ausgesprochen, zerreißt der Himmel. Und es fängt an zu kübeln, wie ich es noch nie erlebt habe. Lex und ich suchen Schutz unter dem schräg liegenden Deckstein.

Ein bisschen mulmig ist uns dabei zumute. Aber dieser Stein ruht bestimmt schon so lange in der Position, dass er wohl kaum heute verrutschen wird. Ich hoffe, wir sind hier unten auch vor Blitzen sicher.

»Wir können nicht warten, bis das Gewitter vorbei ist, Lex.« Ich muss rufen, denn das Prasseln der Tropfen und der Donner sind auch unter dem Stein ohrenbetäubend. Mit einem Mal fühle ich mich sehr klein. Ein kleiner Mensch, inmitten der Weite des Meeres.

»Wasser von oben, Wasser von unten – Kacke! Wieso kommt die Flut jetzt schon?« Lex hebt einen Gummistiefel hoch, als hätte er Angst, dass der nass werden könnte. Darunter läuft der Schlick schmatzend über einer länglichen Muschel zusammen.

»Was ist das?« Lex greift in den Matsch und zieht einen Ast hervor. Er ist armlang, läuft vorne spitz zu und am anderen Ende verbreitert er sich wie bei einem sehr schmalen Paddel. »Ein Wanderstab hilft uns jetzt auch nicht weiter. Ein Schirm wäre besser.« Er streicht den Schlamm von dem Holz. »Aua! Blöder Stock.«

Als Lex seine Hand vor den aufgewühlten Abendhimmel hält, tropft Blut aus einem Schnitt am Daumen.

»Widerhaken. Das ist kein Stock!« Ich nehme ihm das glitschige Ding ab. »Da sind Kerben, nein, Zeichnungen. Das da könnte ein Fisch sein. Und das … ein Mensch mit einem Speer? Lex, das ist eine Harpune!«

Mein Bruder lutscht seine Wunde aus, spuckt in den feuchten Sand und verreibt seine Spucke mit dem Fuß. »Eine Harpune? Wie dieses alte Ding, das wir uns auf Paps’ Handy anschauen mussten? Das Teil, weshalb wir überhaupt auf dieser Expedition sind?«

»Ja, so ähnlich«, antworte ich, obgleich ich mit einem Schauder feststellen muss, dass die Form, die Größe der beiden Harpunen sich verdammt ähneln. »Ist momentan aber auch egal, Lex, wir haben andere Sorgen.« Die ersten schmalen Bäche schieben sich bereits zwischen den welligen Sandhügeln in unsere Richtung. »Wir gehen!«

Ich bemerke es erst, als wir uns aus dem Schutz des Decksteins gewagt haben und schon ein paar Meter durch den strömenden Regen gelaufen sind: ein hohes Sirren.

»Hörst du das auch?«, fragt Lex und bleibt abrupt stehen.

»Ja, kommt das etwa … von den Steinen?«

Wir drehen uns gleichzeitig um.

Um den Dolmen hat sich bereits viel Wasser gesammelt. Dort, wo es an die Steine schwappt, vibrieren kleine Wellen.

Als ein weiterer Blitz den Abendhimmel zerreißt, sehen wir im Wasser ein hellblaues Leuchten. Und das Leuchten lebt.

Doggerland

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