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Ich rieche den Rauch, bevor ich das Speerhaus betrete. Der Gestank von verbranntem Baumblut hängt über unserem Dorf, er klebt auf der Haut, haftet in Haaren und Kleidern. Und hier, vor dem Haus des Häuptlings, dem einzigen in unserem Dorf aus Pfahlhäusern, das nicht im Wasser steht, hier ist der süßlichschwere Geruch am stärksten.

Mein Nacken kribbelt – sie ist hier. Sie lässt ihn kaum noch aus den Augen. Wenn mein Vater mich sprechen will und sie ist auch dabei, bedeutet das nichts Gutes.

Ich zögere, bevor ich die Tür aus Holz, Fischbein und Muscheln aufziehe. Leichter Regen klopft auf die Tierhäute, die das Dach des Speerhauses bedecken. Alle anderen Häuser tragen Dächer aus Flussgras. Das ist einfacher zu beschaffen. Nur der Häuptling darf sein Langhaus mit Leder vor dem Wasser des Himmelsmeeres schützen.

So viele Schritte wie Finger meiner beiden Hände sind es bis zum Stein; dem großen Stein, auf dem mein Vater sitzt. Ich spanne meine Arme an, mache meine Brust weit. Ich will wie ein furchtloser Wildbeuter gehen und nicht wie ein Kleinmann springen, nur weil ich froh bin, meinen Vater endlich sehen zu dürfen. Ich spähe in die Schatten des Speerhauses. Heute brennen hier keine Feuer. Die meisten Männer und Frauen meines Stammes sind draußen auf den Flüssen, mit Reusenflechtereien oder dem Zerlegen der Fänge beschäftigt. Und doch spüre ich Augen, die mich aus der Dunkelheit mustern. Ich drücke den Rücken durch, schiebe mein strohfarbenes Haar unter das Stirnband – ich habe es mir vor einem Mond aus der Haut eines Speerkopfes geschnitten – und hebe das Kinn. Jede meiner Bewegungen muss zeigen, dass Alif keine Furcht kennt, schon gar nicht vor ihr.

Mein Vater hockt auf dem Stein. Sein Blick ist auf den Rotspeer auf seinen Knien gerichtet. Nur der Häuptling der Tashi darf die Waffe mit dem roten Stein berühren. Zu Füßen meines Vaters liegen die beiden Graupelze. Sie heben den Kopf und knurren, als ich näher komme. Ich mag sie nicht. Es steckt noch zu viel Wildnis in ihnen.

Mit hoch erhobenem Kopf richte ich meine Augen auf die Steinspitze des Rotspeers.

»Lass das, Alif, du läufst wie ein Ganknog.« Mein Vater späht durch seine zerzausten strohblonden Haare und rutscht auf dem Stein hin und her. Seit ein paar Monden liegt der Schwarzpelz, den er erlegt hat, auf dem Stein, aber dennoch ist der Häuptlingsstein immer kalt. Ich will mir einen wärmeren Sitz suchen, werde ich den Stamm einmal führen.

»Du wolltest mich sehen, Argor?« Ich mache eine kleine Verbeugung. Es schmerzt etwas, dass mich mein Vater mit einem Ganknog vergleicht. Diese großen weiß-schwarzen Vögel schreiten auf langen Stelzen durch die nassen Wiesen, auf der Suche nach Fröschen und Fischen. Immerhin gilt das Auftauchen dieser Vögel als Zeichen, dass einem die Geister der Erde wohlgesonnen sind.

»Wir wollten dich sprechen.« Die Augen meines Vaters, Häuptling Argor vom Stamm der Wasserläufer, huschen auf die Seite meiner Pfeilhand, in die dunkle Tiefe des Speerhauses.

Dort also lauert die Schlange. »Wenn es darum geht, dass ich mit dem Bogen …«, beginne ich meine Gegenwehr.

Argor bringt mich mit einer unwirschen Handbewegung zum Schweigen. Er stößt das stumpfe Ende des Rotspeers auf den Boden und richtet sich mit einem schmerzerfüllten Stöhnen von seinem Stein auf. »Sie hat die Erdgeister befragt«, sagt er mit leiser Stimme, und dennoch erfüllt sie den ganzen Raum. »Die Zeichen stehen gut.«

Sofort rennt mein Herz. Doch ich wage nicht, meinen Vater noch einmal zu unterbrechen.

»Du wirst eine neue Gelegenheit erhalten.« Er streicht sich die zerzausten Haare aus dem Gesicht. »Mein Erstsohn darf auf die Hatz und zeigen, ob er bereit ist für den Kreis der Wildbeuter. Ob er endlich ein ganzer Mann ist.«

Falsche Geister treiben mir Wasser in die Augen. Eilig blinzele ich die Tropfen weg. Keine Schwäche zeigen. »Danke, Vater«, sage ich und ärgere mich, dass meine Stimme leicht bricht. »Ich werde dich nicht wieder enttäuschen. Da bin ich mir sicher.«

»So? Bist du das?« Schlangengleich und doch wie warmes Wasser kriecht eine Stimme hinter mir heran.

Sofort versteife ich mich wieder. Der stechendsüße Odem des gelben Baumblutes umfließt mich. Ich zwinge mich, nicht zu atmen. Aber ich muss mich umdrehen.

Die Schamanin steht weniger als ein Speermaß entfernt hinter mir. Sie hält ihren Kopf mit dem kurzen Speerkopf-Geweih leicht gesenkt. Ihre Augen heften sich wie Egel auf mich.

Ich weiche zurück, als sie ihre Rauchlaterne hebt. Das Feuer, das die Baumblutsteine im Inneren zerfließen lässt, flackert auf. Die Flammen werfen ein eigenartiges Licht auf das blassblaue Schuppenleder, in dem ihre Finger bis zu den Ellenbogen stecken.

»Jórunn«, presse ich mit wenig Luft hervor. »Ich bin bereit für meine erste Hatz.«

»Wir werden sehen«, krächzt sie und saugt den Rauchfaden aus ihrer Laterne zwischen braunen Zähnen ein.

Ich schlage die Augen nieder. Kaum einer kann dem Blick unserer Schamanin lange standhalten. Selbst der Häuptling gibt sich in Jórunns Nähe wie Eis im späten Jungmond.

»Ja, wir werden sehen, Alif«, meldet sich die Stimme meines Vaters zurück. Er lehnt den Rotspeer gegen den Häuptlingsstein, steigt über seine knurrenden Haustiere und kommt auf mich zu. Er legt seine Hand auf meine Schulter. Müde Augen tasten mich ab. Ist das Schwermut in seinem Blick? Oder Zweifel? »Du darfst die Prüfung erneut antreten. Allerdings …« Bevor ich etwas sagen kann, dreht mich mein Vater zur Seite und deutet auf den hinteren Teil des Speerhauses, den Teil, der mit vielerlei Tierhäuten abgehängt ist. »Auch mein anderer Sohn soll beweisen, dass er ein ganzer Mann ist. Jórunn will es so.«

Vater, nein, wispere ich, nur in Gedanken.

»Tritt heraus, Shaggabug!«, fordert Argor.

Der Vorhang hebt sich nicht. Shagga ist vorsichtig. Er weiß, dass Jórunn hier ist. Ich höre, wie mein Vater seufzt. Da bin ich schon an ihm und dem großen Stein vorbei, und schlage das Leder beiseite.

»Komm, Shagga«, sage ich sanft und strecke meine Finger in das Dunkel. »Versuchen wir es zusammen. Erneut.«

Doggerland

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