Читать книгу Doggerland - Daniel Bleckmann - Страница 9

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Der Bär sieht traurig aus. Wie er mit seinem Jungen auf der winzigen Eisscholle hockt, seinen Blick direkt in die Kamera gerichtet, als würde er dem Fotografen zurufen: »Mensch, jetzt mach doch mal was!«

Doch scheinbar wirkt dieses Foto nur auf mich so. Seit drei Stunden stehe ich bereits vor dem Supermarkt, schwitze die Flyer voll und kratze mir mit den Sohlen meiner Chucks über die Mückenstiche an den Beinen. Meine Mutter sitzt hinter meinem Stand und tippt auf ihrem Handy herum. Dabei wollte sie doch die Rettet-Eisbären-Armbänder und Halsketten sortieren. Der Letzte, der sich die angesehen hat – war das gestern oder vorgestern? –, hat alles durcheinandergebracht.

Ich trete vom glühend heißen Parkplatz unter das Vordach des Supermarktes und starre durch das Fenster auf die Obst- und Gemüsetheke. Ich sehe in Plastik eingeschweißte Gurken, geschnittene Ananas in Plastikbechern und ein riesiges Regal mit Smoothiefläschchen. Auch aus Plastik.

Ich schließe die Augen. Das wird echt schwer. Als ich sie wieder öffne, sehe ich mein Spiegelbild im Supermarktfenster. Zu viele Pickel (schon wieder), zu fett an den Hüften (immer noch) und dann diese Segelohren. Einzig die blau gefärbte Haarsträhne in meinem brünetten Pony gefällt mir.

Mein Blick fällt auf meine Mutter. Schlank und Haare wie Seide. Jeder Blinde erkennt, dass wir nicht miteinander verwandt sein können. Dabei sind die Lala-Ohren, wie mein Zwillingsbruder sie immer nennt, noch nicht einmal das Hässlichste an mir. Der Gipfel der Uglyness sind meine Finger. Ich weiß, kaum jemand beschwert sich über seine Finger. Die meisten Menschen achten nicht mal auf ihre Flossen. Aber genau dieses Wort trifft es ziemlich genau. Meine Finger sind nicht normal. Denn ich wurde tatsächlich mit so was wie »Flossen« geboren.

Wenn 99 Komma irgendwas Prozent der Menschen sich das kleine Stückchen Haut zwischen ihren Fingern anschauen (das bisschen Haut, das sich strafft, sobald man die Finger spreizt) und sich dann vorstellen, dieser Hautlappen reicht bis zum Gelenk zwischen dem zweiten und dritten Fingerglied, dann haben sie ungefähr eine Ahnung von dem, wie meine »Schwimmhäute« aussehen. Mein rechter Mittelfinger ist so mit seinem Nachbarn, dem Ringfinger, verwachsen, dass ich beide nur knapp einen Zentimeter auseinanderspreizen kann. Das ist seit meiner Geburt so. Ein seltener Gendefekt namens Kutane Syndaktylie, etwas, das nur einer von 10 000 hat. Volltreffer, ha, ha. Der amerikanische Schauspieler Ashton Kutcher, der aus »Two and a Half Men«, hat zum Beispiel ebenfalls diese Mutation. Irgendwie tröstlich, dass so was auch nicht vor Promis haltmacht.

Aber ich bin kein Promi. Nicht mal die Tochter eines Promis. Ich bin die Tochter von irgendwem, der abgehauen ist. Die Frau, die gerade hinter meinem Stand hockt und wieder mal auf ihr Handy schaut, anstatt mich beim Sammeln von Spenden für Eisbären-Patenschaften zu unterstützen, die nenne ich zwar Mama (und ich liebe sie), aber in Wahrheit ist Irene Finsmann nur meine Adoptivmutter.

»Echt schlimm mit den Eisbären, oder?«

Ich drehe mich um und kämme mir die schwitzigen Haare über die Ohren. Gewohnheit. Der Junge ist in meinem Alter. Ich mustere ihn. Turnschuhe, Jeans mit Löchern und ein Hollister-Pulli, na ja. Aber er sieht irgendwie nett aus.

»Ja, bald wird es keine mehr geben«, höre ich mich sagen und entrolle den Stapel mit den Flyern. »Willst du einen mitnehmen?« Meine Mutter sieht kurz von ihrem Handy auf, als wäre es ein epochales Ereignis, dass endlich mal wieder jemand an meinem Stand stehen geblieben ist.

Wortlos greift der Junge nach dem Flyer. Seine Hand zuckt zurück, als er meine Finger bemerkt.

»Ist nicht ansteckend«, will ich am liebsten rufen, da hat er mir den Flyer über die Eisbären-Patenschaft bereits abgenommen.

»Echt schlimm«, murmelt er wieder. »Voll schlimm.« Er schnaubt zweimal durch die Nase. Klingt irgendwie komisch.

Ich will etwas sagen, meine einstudierte Rede vorbringen, da bemerke ich das Schmunzeln um seine Mundwinkel.

»Klimawandel, das geht uns alle an, da muss man echt was tun.« Er sieht kurz auf, sein Blick fällt auf meine Mutter. »Du bist oft hier, oder?«

»Ja, jeden Nachmittag, direkt nach der Schule.« Wieso fragt er mich das? Mein Bauch beginnt zu grummeln.

Er nickt und vertieft sich wieder in den Flyer. Ich habe nicht das Gefühl, dass er wirklich liest.

Da klingelt das Handy meiner Mama.

»Dr. Finsmann hier«, meldet sie sich, nachdem der Klingelton den halben Parkplatz beschallt hat. »Hi Vince … oh, Sie sind in Deutschland?! … Ja, das ist richtig … ich … Was? Warten Sie … im Ernst? Können Sie mir ein Foto … ach so, Sekunde, ich schau mal nach.« Sie nimmt das Handy vom Ohr, blickt auf das Display (deshalb telefonieren die Kids meiner Generation nie am Ohr) und schreit auf. »Das ist … Wahnsinn. Ja, das könnte tatsächlich aus … ja, Doggerland … späte Epoche, vor dem Untergang … Natürlich, ich bin schon unterwegs.«

Meine Mutter springt auf, läuft um den Stand herum und nimmt dabei den halben Tisch mit. »Leychen, ich muss los.« Sie streicht mir die blaue Haarsträhne aus der Stirn und drückt mir einen nassen Kuss auf. »Das Institut – Eric ist auch schon da – oh mein Gott, dieser Fund ist revolutionär. Es wird sicher spät. Im Kühlschrank … ach, du kannst das alleine. Und bleib vom Zimmer deines Bruders fern. Hab dich lieb!«

Ich blicke ihr nach, wie sie vom Parkplatz rauscht.

»Nice Mum«, sagt der Junge. Ich hatte ihn fast vergessen. »Echt nice.«

Ich verziehe meinen Mund. Ich kenne diesen Blick von Jungs.

»Willst du ein Armband kaufen? Die schmalen kosten 2 €. Alles Geld geht an den Zoo. Die wollen nach der Vergrößerung des Eisbärengeheges auch die Notfall-Station in Alaska renovieren. Dorthin werden die kranken und schwachen Tiere gebracht.« Uff, das waren viele Worte.

Der Junge verzieht den Mund zu einem Grinsen. »Sag mal, kannst du mit diesen Pfoten eigentlich bis zu den Eisbären paddeln, um sie direkt zu retten?« Damit zerknüllt er den Flyer. »Fang!«

Der Papierball prallt an meiner Stirn ab. Hinter dem halb durchsichtigen Häuschen mit den Einkaufswagen gackern mehrere Stimmen los. Also doch. Hat mich mein Gefühl nicht getäuscht.

»Yo, Flossi, pass auf, dass dich auf dem Nachhauseweg kein Bär frisst.«

»Und sauf nicht ab, Mutant.«

Zwei Jungen und der, der den Köder gespielt hat, schwingen sich auf ihre Fahrräder und sausen lachend davon. Einer tritt noch gegen den Karton, der aus dem überquellenden Mülleimer neben dem Eingang zum Supermarkt ragt. Die Pappe fliegt auf die Straße. Ein fetter SUV walzt den Müll achtlos platt. Da habe ich bereits damit begonnen, meinen Stand einzupacken.

Doggerland

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