Читать книгу Doggerland - Daniel Bleckmann - Страница 14
ОглавлениеWir folgen der Wirtin über eine Leiter hinunter in den Fasskeller des Pubs. Der Boden klebt, es riecht nach vergorenem Malz und ich habe das Gefühl, Alkoholdämpfe zu atmen.
»Ich wohne schon mein ganzes Leben in New Kilnsea«, beginnt Jodi, während sie mit geschickten Handgriffen die Schläuche von den Anschlüssen der Cider-Fässer abdreht. »Die Sternenkinder-Legende habe ich das erste Mal mit sechs oder sieben Jahren gehört.« Sie schüttet den Rest, der im Schlauch schwappt, in einen Abfluss im Boden.
Lex hockt sich zögerlich auf den Rand eines Fasses. Ich suche mir ebenfalls einen möglichst klebfreien Sitzplatz.
»Einst gab es ein Sternenpaar«, beginnt Jodi, während sie an den Fässern hantiert, »zwei Sterne, die am Firmament wohnten. Sie glichen einander so sehr und standen so nah beieinander, dass man sagte, ihre Hände und Finger wären miteinander verschmolzen.«
Lex wirft mir einen stirnrunzelnden Blick zu.
»Aber sie waren glücklich«, erzählt Jodi weiter und klinkt den nächsten Schlauch aus. Limonade ergießt sich über ihre Schuhe. »Glücklich und zufrieden. Und dennoch wurde ihnen alsbald langweilig.«
»Kenne ich«, wirft Lex ein.
»Also verließen beide Zwillingssterne ihren Platz am Firmament und wanderten Hand in Hand zur Erde herab. Sie segelten über die Weltmeere, streiften durch die Länder und ihr Licht schenkte den Menschen Wissen, von dem sie zuvor nicht einmal geträumt hatten.«
»Was für Wissen?«, frage ich mit leichter Gänsehaut. Der Kasten mit den leeren Flaschen unter meinen Füßen klimpert.
»Na … göttliches Wissen. Die Geheimnisse des Universums.« Jodi lacht. »Das, was Otto Normalo eben nicht wissen sollte.«
»Das gab sicher Ärger«, sage ich.
»So ist es. Der Vater der Sternenkinder, der allmächtige Himmelsfürst, war sehr erzürnt über ihr Fortgehen. Also schleuderte er ihnen Felsen hinterher.«
»Asteroiden«, übersetzt Lex.
»Vermutlich, vielleicht auch ganze Planeten.« Ohne Anstrengung wuchtet Jodi ein volles Fass zu den Wandanschlüssen, die hinauf zur Theke führen. »Die Gesteinsbrocken schlugen auf der Erde ein und lösten gewaltige Erdbeben und riesige Flutwellen aus – unser Planet wurde bis in seinen Kern erschüttert.«
»Die Apokalypse, der Tod allen Lebens.« Lex springt auf. Das leere Fass, auf dem er saß, schwankt.
Ich lächle. Ja, auf so was steht mein Bruder.
»Da draußen, im Meer, da gibt es tatsächlich noch Zeugnisse von einer großen Flut.« Jodi macht eine dramatische Pause. »Und da kommt euer Doggerland ins Spiel. Bei besonders starkem Niedrigwasser legt die Ebbe vor unserer Küste die Reste von Baumstümpfen frei. Kein Treibholz, sondern echte, verwurzelte Bäume. Versunken und für viele Jahrtausende vergessen im Meer. Manche nennen diese vermoderten Baumstümpfe Noahs Wälder.« Jodi leert Schlauch Nr. 3 aus. »Ist schon beeindruckend: jahrtausendealte Reste von Wäldern. Vielleicht stammen die ja aus eurem Doggerland.«
Ich sehe Lex an und weiß sofort, was er denkt. Ist wohl so’n Zwillingsding. »Und wie endet die Legende? Was geschah mit den Sternenkindern?«, will ich wissen.
»Sie entkamen der Katastrophe«, fügt Jodi noch hinzu und überprüft alle Anschlüsse an der Wand. »Und zusammen mit einigen der sterblichen Menschen besiedelten sie neue Welten. Ende.«
»Da draußen?«
Lex starrt angestrengt auf die dünne Linie, wo das zurückgewichene Meer auf den Abendhimmel trifft.
Wir stehen wieder am Pier.
»Komm schon, du hast doch auch Bock auf eine Tour.« Mein Bruder zupft seine gelben Handschuhe zurecht. Nie geht er ohne die Fitnesshandschuhe aus dem Haus, selbst in der Schule trägt er sie.
»Du meinst jetzt?« Ich schaue auf den Horizont. Die Sommersonne steht bereits tief.
»Wieso nicht. Ist doch Ebbe.«
»Aber nach Ebbe kommt die Flut.«
»Und nach einer Mathearbeit kommt die nächste, na und? Komm schon, wir haben eh nichts vor.« Lex schiebt seine Spielzeug-Armbrust – sie musste unbedingt mit auf den Ausflug – unter seinen Gürtel. »Vielleicht finden wir sogar was, das unsere Eltern interessieren könnte. Jodi sagte, wir müssen dem Pier bloß in schnurgerader Linie hinaus folgen.«
Ich schaue ins Watt. Da ist dieses eigenartige Gefühl. Als würde mich etwas rufen. Nicht hörbar, sondern tief in mir. Ein Kribbeln, dem ich nachgeben muss. Ich merke, wie meine Finger über die Haizahnkette unter meinem Shirt tasten. »Okay, machen wir einen kleinen Spaziergang durchs Meer.«