Читать книгу Trotz allem - Gardi Hutter - Denise Schmid - Страница 14
KATHOLISCH, ZÜCHTIG, STRENG
ОглавлениеGardi Hutters Kindheit kennt viele Widersprüche, Widerstände, Unterschiede, aber vielleicht ist ihr Blick auch besonders geschärft für diese Aspekte. Der Kanton St. Gallen ist konfessionell gemischt, im Rheintal leben zwar mehrheitlich Katholiken, aber in Altstätten gibt es auch eine protestantische Kirche, und die beiden konfessionellen Lager stehen sich misstrauisch, wenn nicht gar feindlich gegenüber. Man grenzt sich strikt voneinander ab. Der tiefe Graben zwischen Protestanten und Katholiken ist auch noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein deutlich spürbar. Er geht zurück auf den sogenannten Kulturkampf im 19. Jahrhundert. Liberale, aufklärerische Ideen setzen sich damals weitherum gegen den als rückständig geltenden Katholizismus durch. In der Folge grenzen sich die Katholiken immer mehr ab und igeln sich in ihrem katholischen Milieu ein. Gardi Hutter wächst in diesem nach innen zwar intakten, nach aussen aber isolierten Umfeld auf.
Man bleibt unter sich, besucht mehrmals pro Woche den Gottesdienst, schickt die Kinder auf katholische Schulen, liest katholische Zeitschriften und Bücher, wählt die Kandidaten der katholischen Partei, geht in den katholischen Turnverein, singt im katholischen Kirchenchor und bleibt in den zahlreichen katholischen Vereinen unter sich. Es wird untereinander geheiratet, und nur katholisch geschlossene Ehen werden als gültig anerkannt. Homosexualität, Scheidungen, Abtreibungen, Sexualität vor der Ehe und ausserhalb der Fortpflanzung, uneheliche Kinder – alles Verstösse gegen die göttliche Ordnung und unaussprechliche Tabus.
In diesem Klima wächst Gardi Hutter heran. Früh wird ihr eingebläut, was der Unterschied zwischen Katholiken und Reformierten sei. Letztere kommen nicht in den Himmel, und sie besuchen in Altstätten eine separate Schule. An katholischen und protestantischen Feiertagen ignorieren sich die beiden religiösen Gemeinschaften gegenseitig oder stören einander sogar. Das lässt sich einfach bewerkstelligen, indem man beispielsweise während reformierter Festtage die Wäsche raushängt oder während katholischer Prozessionen draussen auf den Feldern Mist ausfährt.
Früh lernt Gardi auch, dass es einen grossen Unterschied zwischen Buben und Mädchen gibt. Er zeigt sich darin, was die einen dürfen und die anderen nicht. Gardi Hutters Kinderwelt ist wohlsortiert in Katholiken und Protestanten, in Mädchen und Buben, in Gut und Böse. Sie besucht die katholische Primarschule für Mädchen. Wenn sie ihre Cousinen besuchen will, führt der Weg über den protestantischen Schulhof. «Da bin ich immer schnell wie der Blitz durchgerannt, aus Angst vor den Reformierten.» Sie hat nur katholische Spielgefährten; mit den anderen kommt sie kaum in Kontakt. Als Teenager werden ihr die zwei schlimmsten Vergehen für ein katholisches Mädchen eingeschärft: «Das Schlimmste war, unverheiratet schwanger zu werden, und das Zweitschlimmste, einen Reformierten heimzubringen. Meine drei Brüder haben dann zwar alle Protestantinnen geheiratet, aber da waren die Sitten schon etwas gelockert.»
Die Sache mit den Konfessionen ist für Hutters ein Balanceakt. Wann immer möglich kaufen sie in den Geschäften anderer Katholiken ein; sie wollen aber natürlich auch protestantische Kunden. Wenn die Kinder etwas für die Familie besorgen, müssen sie immer laut und deutlich sagen, wer sie sind. «Wir mussten sagen: ‹Ein Kilo Brot für Hutter.› Das war meinen Eltern sehr wichtig.» So weiss der katholische Bäcker, dass Hutters ihm treu sind – und der protestantische Ladenbesitzer schätzt es, dass Hutters auch bei ihm kaufen. Neutralität, zumindest nach aussen, ist für die Kaufleute wichtig. Aber familienintern werden Gardi und ihre Brüder streng katholisch erzogen.
Drei Kirchgänge pro Woche sind die Regel: Dienstag und Freitag müssen die Kinder vor der Schule die Frühmesse besuchen und dazu noch den Sonntagsgottesdienst: «Wir waren im Hochamt, die ganze Gemeinde zusammen. Ich sass bei den Mädchen links, meine Brüder bei den Buben rechts, und von der Empore her überwachten die Eltern, ob wir nicht verbotenerweise tuschelten – natürlich taten wir das. Das Verbotene war schon damals reizvoll. Wir wisperten nach vorne oder gaben kleine Briefchen hin und her, die wir im Gebetbuch versteckten. Wenn wir versuchten, das Kichern zu unterdrücken, ergab das so ein Schnarren durch die Nase, das wie Ersticken tönte. Meistens passierte das während der Wandlung, dem stillsten Moment der Messe. Alle Gläubigen bekamen es mit, und die Strafe zu Hause war uns so sicher wie das Schlussgebet. Trotzdem war ich sehr gläubig als Kind, es gab auch lange keine anderen Einflüsse.»
Im Elternhaus gibt es kaum Bücher: die Bibel, einige Märtyrerbücher und Johanna Spyris «Heidi», das Gardi wiederholt liest und liebt. Als die Brüder älter werden, kommen die Bücher von Karl May ins Haus, die sie ebenfalls verschlingt. Sie ist eine Leseratte, was zu Hause nicht auf viel Anklang stösst: «Hast du nichts Gescheiteres zu tun, hiess es, wenn ich mich hinter ein Buch verkroch. Lesen war Faulheit, nur Schwitzen galt als Arbeit.»
Weil die paar wenigen Bücher im Haus aus katholischen Verlagen stammen, besteht Gardi Hutters Lektüre zunächst vor allem aus Märtyrerbüchern, in denen Christen wegen ihres Glaubens verfolgt, gequält und getötet werden. Sie erdulden die Qualen im Namen Jesu und werden später heiliggesprochen. Es sind frühchristliche Helden- und Heldinnengeschichten, Vorbilder für den rechten Weg ins Paradies. Gardi Hutter kann aus heutiger Sicht wenig Gutes daran finden: «Es waren letztlich Sadomaso-Bücher, in denen sehr ausführlich beschrieben wurde, wie die Heiligen gefoltert, gesteinigt, gerädert oder verbrannt, den Frauen die Brüste abgeschnitten wurden und andere Scheusslichkeiten.» Aber als Kind lebt sie die hochdramatischen Geschichten von Märtyrerinnen wie den Heiligen Lucia, Barbara oder Angela mit. Schöne, tiefgläubige Frauen, die sich eins mit Jesus Christus fühlen und dann für ihren Glauben von dunklen Bösewichten zu Tode gequält werden. Nur über das Leiden wird man erlöst, so lautet die immer gleiche Botschaft. Das kleine Mädchen lässt sich von der grossen Dramatik wie von den Ritualen der Kirche, von Musik, Weihrauch und Glockenklang, beeindrucken.
Heute schüttelt sie über vieles in ihrer religiösen Erziehung den Kopf: «Vergleiche ich diesen gefolterten Jesus mit einem mild lächelnden, tiefenentspannten Buddha, kann ich mich nur wundern über das Symbol unseres Glaubens, unseres ganzen Denkens und Fühlens. Er war allgegenwärtig. In jeder Stube, jedem Schulzimmer hing ein gefolterter Mensch am Kreuz, am Rand von Wiesen- und Waldwegen; auf Berggipfeln begegnete er einem. Eigentlich grauenhaft, ein Fall für Amnesty International. Es wurde von Liebe und Güte gesprochen, aber der Grundtenor hiess «Schuldgefühle». Man kommt schon schuldig zur Welt. Die Grundlage meiner ganzen katholischen Erziehung, die Instrumente von Angst und Einschüchterung, das würde ich heute als menschenverachtend bezeichnen.» Doch was ihr im Rückblick unverständlich erscheint, ist damals einfach normal. Die Eltern und Grosseltern haben es so gelernt und geben es weiter an die nächste Generation. Das enge Korsett moralischer und erzieherischer Werte hält noch. Kinder schulden ihren Eltern Gehorsam, so wie es im Kolosserbrief des Alten Testaments steht: «Ihr Kinder, gehorcht euren Eltern in allem; das gefällt dem Herrn.» Wer nicht gehorcht, muss Gehorsam lernen. Es wird nicht diskutiert, sondern gezüchtigt. Das gehört ebenso zum Erziehungsprogramm bei Familie Hutter wie fehlende körperliche Nähe. Die Kinder werden nicht umarmt oder liebkost. Man darf sie auf keinen Fall loben oder verwöhnen, das könnte üble Folgen zeitigen. Nur Gilbert, der Jüngste, darf als Sonnenschein der Mutter etwas Nähe von ihr geniessen, man sieht es auf den Familienfotos.
Gardi Hutters Eltern sind keine böswilligen Menschen, im Gegenteil. Sie geben ihr Bestes und versuchen, gute Eltern zu sein. Doch die Erziehung ist strikte geregelt, und es herrscht eine klare Rollenteilung zwischen den Eltern. Die Mutter erzieht und ist die Hauptansprechperson für die Kinder. Wenn Gardi oder ihre Brüder etwas ausgefressen haben, gibt es von der Mutter eine Ohrfeige und die Drohung, sie sollten nur auf den Vater warten. Der muss das Kind abends zusätzlich mit dem Stock oder einem Kleiderbügel auf den Hintern züchtigen. Schläge gibt es fürs Lügen, wenn etwas kaputtgeht oder man heimlich im Laden oder im Kleiderlager Verstecken gespielt hat. Dabei ist gerade das ein besonderes Vergnügen, sich zwischen den Mänteln und Röcken zu verbergen und mit den Brüdern zwischen den vielen Kleidern Fangen und Verstecken zu spielen. Nur erwischen lassen darf man sich nicht. «Wenn uns die Mutter in der Hitze des Gefechts nur eine Ohrfeige verpasst hätte, wäre es noch gegangen», sagt Gardi Hutter, «aber schlimm war, dass der Vater uns abends nochmals für das gleiche Vergehen bestrafte. Bis dann war die Aufregung aber meist schon vorbei, es ergab gar keinen Sinn mehr.»
Der Vater ist überhaupt ruhiger und gelassener als die Mutter. Gardi meint, er sei ein friedliebender Mensch gewesen und die Rolle als strafender Vater habe nicht zu ihm gepasst. Aber er muss sie ausfüllen. Es gehört sich so. Die Mutter ist wachsam und hat alles unter Kontrolle. Gardi als einzige Tochter steht unter besonderer Beobachtung, sie soll ein Vorzeigemädchen sein. Doch sie ist schlau und lernt im Laufe ihrer Kindheit und Jugend, mit dem Kontrollregime umzugehen. Wenn sie etwas will, ist es am besten, sie fragt die Mutter, wenn diese im Geschäft ist, dann muss sie freundlich bleiben und sagt schneller Ja, weil Kunden im Laden sind und sie sich nicht auf lange Diskussionen einlassen kann. Wenn Gardi also fragt, ob sie draussen spielen darf, wird das zwar bewilligt, aber nie ohne Auflagen. Alle Kinder müssen von klein auf viel im Haus mithelfen. Mittags und abends werden sie eingespannt beim Abwaschen und Abtrocknen und beim Aufnehmen des Küchenbodens. Als sie grösser werden, heisst es Auto waschen, im Garten helfen, Keller aufräumen. Auch im Modehaus müssen sie mithelfen, beim Auspacken neuer Lieferungen und beim jährlichen Inventarisieren. Der Vater liest von jedem Kleidungsstück die Nummer auf dem Etikett ab, und die Kinder tragen sie in eine Liste ein. «Wenn neue Kleider in Schachteln angeliefert wurden, mussten wir alle Schnüre aufwickeln und stundenlang das Seidenpapier, das die Kleider knitterfrei halten sollte, ausstreichen und zusammenlegen. Nichts wurde weggeworfen, alles wurde wiederverwendet. Das geht mir bis heute nach. Wenn ich etwas mit Seidenpapier geliefert bekomme, streiche ich es aus und bewahre es auf.»
Dass die Kinder so viel helfen müssen, hat einerseits mit der hohen Arbeitsbelastung der Eltern zu tun; es ist gleichzeitig aber auch Teil des erzieherischen «Antiverwöhnprogramms». Gespielt wird erst, nachdem etwas geleistet wurde. Wie auf dem Bauernhof müssen alle mit anpacken. Und auch einen religiösen Zug hat die Methode: Irma Hutter lebt nach dem Motto «Müssiggang ist aller Laster Anfang». Doch es ist nicht etwa so, dass die Kinder dauernd kontrolliert würden, das geht gar nicht. Die Eltern sind viel zu beschäftigt im Laden, und so gibt es trotz strenger Erziehung doch einigen Freiraum, den die Kinder draussen nutzen.