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VIER KINDER UND EIN BADETUCH

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In Gardi Hutters Kindheit gibt es viel Auslauf und Bewegung, Spiel und Sport. Der Körper ist immer nur dann völlig tabu, wenn es um Nacktheit oder Sexualität geht. Und obwohl sie mit drei Brüdern aufwächst, sieht sie, bis sie 17 Jahre alt ist, nie einen nackten Männer- oder Bubenkörper. Die Mutter bringt das Kunststück fertig, dass Gardi selbst den kleinen Bruder Gilbert nie unbekleidet sieht. Einmal pro Woche baden die vier Kinder gemeinsam im selben Badewasser, erst die beiden älteren Brüder, anschliessend Gardi zusammen mit Gilbert. Und wie geht das, gemeinsam in derselben Wanne, ohne dass man einander nackt sieht? Bruder und Schwester müssen sich Rücken an Rücken in die Wanne setzen und nacheinander einzeln aussteigen, sich abtrocknen lassen und verschwinden, bevor der andere aufsteht. Bruder Erwin erzählt, dass dieses Prozedere auch für ihn und Fredi gegolten habe. Er habe mit dem Bruder auch Rücken an Rücken gebadet und ihn nie nackt gesehen. Das Badetuch ist immer schon recht feucht, wenn Gardi als Dritte an der Reihe ist, aber eines muss reichen für die vier Hutter-Kinder, auch als sie heranwachsen. Man ist, wie gesagt, sparsam im Kleinen.

Irgendwann wird das Haus an der Trogenerstrasse für Familie und Laden zu klein, und die Eltern haben mittlerweile die nötigen Mittel, um sich ein Haus zu bauen. Sie kaufen ein schönes Grundstück, etwas erhöht am Hang über Altstätten. Es ist neues Bauland, und sie sind die Ersten auf der Wieswanne, mit weiter Sicht über die Gemeinde, das Rheintal und auf die umliegenden Berge. 1965 ist der einstöckige Bungalow mit vier Schlafzimmern und grosszügigem Wohnesszimmer bezugsbereit. Gardi erhält wieder ihr eigenes Zimmer und der älteste Sohn Erwin nun auch. Fredi und Gilbert teilen sich weiterhin einen Raum.

Das Ferienhaus auf dem Ruppen, das in der Nähe liegt, wird verkauft. Nun konzentriert sich alles auf das neue Heim. Die Eltern pflanzen ausgiebig Gemüse ums Haus an, werden beinahe zu Selbstversorgern – die bäuerliche Herkunft verschwindet nie ganz. Der Vater legt im Garten, so wie schon auf dem Ruppen, wieder einen kleinen Pool für die Kinder an.

Das neue Einfamilienhaus ist zwar moderner und schöner als das frühere Haus mit Laden und Wohnung, aber Gardi fehlen die Spielgefährten aus der Altstadt, und der Schulweg ist einiges länger. Nicht weit entfernt liegt der kleine Waldpark, dort lässt es sich immerhin noch spielen, und auch auf dem nahe gelegenen Bauernhof ist sie gerne. Aber sie sagt, die Fremdheit, die sie schon früh als Kind gespürt habe, sei am neuen Wohnort noch grösser geworden. Wenn sie von oben auf die Stadt schaut, sieht sie unten das einzige Hochhaus von Altstätten, das alles überragt, und stellt sich vor, wie viele Kinder es dort geben muss und wie herrlich es wäre, dort zu wohnen und oben und unten Spielkameraden zu haben. «Ich wäre auch gerne ins Waisenhaus gezogen, das gleich neben unserer Primarschule lag und an dessen hohem Zaun ich oft hing und sehnsüchtig die spielenden Kinder beobachtete. Ich hatte ja keine Ahnung, wie es in einem Waisenhaus zuging. Ich sah nur, dass dort ganz viele Kinder zusammenlebten, und das war mein Traum.»

Sie erinnert sich auch noch, wie sie eines Tages Leute reden hört, die am neuen Bungalow vorbeispazieren. Sie sagen, was für ein schönes Haus mit Garten das sei und was für ein Glück die Kinder dieser Familie hätten. Gardi ist beschämt und fühlt sich schuldig, weil sie am neuen Ort gar nicht so glücklich ist, wie sie es wohl sein sollte, sich nach anderem sehnt.

Im Esszimmer des neuen Hauses hat der Architekt eine Eckbank eingeplant und dahinter drei Regale für Bücher. Aber bei Hutters gibt es kaum Bücher, und so geht Erwin Hutter in die Papeterie im Ort, die auch Bücher im Angebot hat, und bestellt «drei Meter Bücher». «Der Händler verkaufte meinem Vater wohl alle seine Ladenhüter, doch das zu einem sehr guten Preis. Bis zum Tod meiner Eltern sind diese Bücher auf dem Regal gestanden, und nie hat sie jemand gelesen. Es war eine Bibliothek zum Anschauen.»

Gardi Hutter beginnt als Teenager zu realisieren, dass Bildung das Ticket für den gesellschaftlichen Aufstieg ist, und das unkultivierte Elternhaus ist ihr manchmal peinlich. Doch was sie als Jugendliche beschämt, sieht sie im Rückblick in einem anderen Licht: «Als ich 1995 den St. Galler Kulturpreis im Stadttheater erhielt, war der ganze Altstätter Gemeinderat anwesend. Meine Eltern, beide schon über siebzig, standen etwas verlegen, fast schüchtern daneben. Sie konnten sich in solchen Kreisen nicht unbeschwert unterhalten. Ich sah sie dort stehen und erkannte die zwei tapferen Bauernkinder, die alles gegeben hatten. Es rührte mich sehr.»

Trotz allem - Gardi Hutter

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