Читать книгу Trotz allem - Gardi Hutter - Denise Schmid - Страница 8

INTENSIVES SUCHEN, FINDEN, ERFINDEN

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Doch Gardi Hutter ist eine ganz andere Schneiderin, als ihre Eltern es je waren. Lautet ihr eigener Beruf «Clown» oder «Clownfrau»? «Clownin» oder «Clownesse», wie es im Duden steht? Beim richtigen Begriff beginnt schon die erste Frage. «Clown» ist Englisch und daher neutral, aber eben eher männlich neutral. Denn männliche Clowns gibt es seit Jahrhunderten, weibliche dagegen sind ein Novum, ein Phänomen der weiblichen Emanzipation im 20. Jahrhundert. Oder gab es auch schon früher vereinzelt Frauen, die sich die Narrenfreiheit nahmen, und die Geschichtsschreiber haben sie nur ignoriert und am Ende vergessen?

Gardi ist nie warm geworden mit einer der bestehenden Spezialbezeichnungen. Sie will Clown sein, kein weiblicher Sonderfall. Schon früh in ihrer Karriere findet sie zu dem, was sie als ihren «Brand», ihre Marke bezeichnet: «Bei einem Auftritt in Duisburg 1983 versprach sich der Veranstalter. Er verdrehte Clown und Wäscherin und kündigte mich als ‹Clownerin› an. Ich war sofort begeistert: wenn schon stolpern, dann richtig. So hatte ich nicht nur eine eigene Figur, sondern auch gleich eine eigene Sparte.» Fortan bezeichnet sich Gardi Hutter als «Clownerin».

Es ist ein sehr besonderer Beruf, alleine auf der Bühne zu stehen, mehr als eine Stunde zu spielen, das Publikum zum Lachen zu bringen, zu verführen, zu bezaubern. Gardi Hutters Programme haben Tiefgang und Poesie. Das Schreckliche und das Lustige, das Traurige und das Schöne liegen immer nah beieinander. Es steckten viel Arbeit und Risiko in jeder neuen Produktion. Seit sie ihre Figur Hanna 1981 fand, lässt sie sich alle paar Jahre auf eine neue Erzählung dazu ein. Hanna war schon Wäscherin, Hexe, Maus, Souffleuse, Schaustellerin und Sekretärin.

In der Schneiderin steckt Gardi Hutters jahrzehntelange Bühnenerfahrung, und mit dem Thema Tod nimmt sie etwas auf und stellt sich in eine Tradition, die weit in die Vergangenheit zurückreicht. Harlekine, Buffoni, Clowns – sie alle haben schon seit Urzeiten mit der Idee des Schreckens gespielt und damit, dass sie uns durch die Überzeichnung, durch das Groteske zum Lachen bringen und für einen kurzen Moment so etwas wie Erlösung schenken. Gardi Hutter hat sich über längere Zeit mit diesem historischen Aspekt auseinandergesetzt.

Zum Beispiel damit, dass Clowns mit der ursprünglichen Form des Berufsschauspielers mehr zu tun haben als die heutigen Schauspieler, die man theaterhistorisch eher als «Darsteller» oder «Interpreten» bezeichnen müsste. Ursprünge und Parallelen findet man weit zurück überall dort, wo Menschen archaische Feste feierten, ihre Ängste in Rituale bannten, Masken trugen, tanzten und versuchten, dem Tod seinen Schrecken zu nehmen. Vorläufer der Clownfigur sind die Zanni der Commedia dell’Arte. Sie sind Dienerfiguren, die meist der bäuerlichen Schicht entstammen, darunter Arlecchino, Brighella, Pulcinella, Truffaldino und die weibliche Figur der Colombina, die keine Maske trägt und kokett gekleidet ist. Die Commedia dell’Arte entsteht im Italien des 16. Jahrhunderts. In etwa zur gleichen Zeit entwickelt sich im deutschsprachigen Raum das Stegreifspiel mit Hanswurst und im englischen Theater die Figur des Clowns. Letztere treten ab Anfang des 16. Jahrhunderts in den Pausen von Bühnenstücken auf. Shakespeare baute Clowns in «Othello» (1603) und «Ein Wintermärchen» (1606) ein, beide Male als etwas unterbelichtete Bauerntölpel. Das Spektrum der Darstellung und die Entwicklung des Clowns sind äusserst facettenreich. Im 19. Jahrhundert entwickeln sich die Zirkusclowns und bleiben bis in die Gegenwart fester Bestandteil jedes Programms. Gardi Hutter reiht sich ein in die bunte Schar von Spassmachern wie Clown, Buffone, Harlekin, Hanswurst, Narr, August, Pajass, Pulcinella und Pierrot und stellt ihnen eine Schwester vor die Nase.

Ihr Wissen um die Hintergründe und die Entwicklung der Clownfiguren nimmt Gardi mit in die Gespräche mit Dominik Flaschka im April 2009. Der Tod soll im neuen Programm das Leitthema sein. Sie hat dazu ein Konzept verfasst. Und der physische Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist ein Segel. 2011 war Gardi Hutter mit Freunden auf einem Segeltrip im Bermudadreieck. Dabei ging ein Segel kaputt, sie bekam es geschenkt und dachte: Damit möchte ich mal etwas machen. Und dann kommt bald einmal die Idee der letzten Reise dazu und weitere Ideen. Sie könnte sich in das Segel einwickeln und damit zum Wickelkind, zur Braut oder zur Mumie werden. Sie diskutiert tagelang mit Regisseur und Autor Flaschka, ob die Figur im neuen Stück womöglich eine Seefahrerin sein könnte oder vielleicht eine Schneiderin, die das Segel näht? Gibt das genügend her? Sie hat noch nie eine Schneiderin auf der Bühne gesehen, aber es gibt so viele weibliche Rollen, so viel weibliches Leben, das noch nie auf einer Bühne zu sehen war. Die Schneiderin setzt sich durch.

Im September 2009, ein gutes Jahr vor der Premiere, beginnt die erste Probenrunde mit Regisseur Michael Vogel in Berlin. Der Regisseur ist wichtig für die Künstlerin. Er ist ihr Gegenüber, ihr Denk- und Austauschpartner. Er entwickelt mit ihr das Stück. Es entsteht nicht theoretisch auf dem Papier. Geschrieben wird zwar auch viel, da ist das von Gardi Hutter entwickelte Grundkonzept, aber nicht nur das. Täglich kommen neue Ideen, Gedanken, Abläufe hinzu, alles wird festgehalten. Sie ist sehr gut organisiert, es gibt ausführliche Probenprotokolle. Aber noch wichtiger ist die praktische Entwicklungsarbeit.

Michael Vogel und sie arbeiten das erste Mal zusammen. Er ist etwas jünger, sympathisch, ruhig, reflektiert. Er ergänzt die quirlige Gardi Hutter gut. Ausserdem bringt er viel Erfahrung mit als Regisseur, Autor, Schauspieler und künstlerischer Leiter der internationalen Theatertruppe Familie Flöz, die komödiantische, poetische und meist nonverbale Stücke auf die Bühne bringt. Er weiss, worum es geht, er hat ein gutes Auge für die Entwicklung von Szenen, und Gardi sagt: «Wir haben einen ähnlichen Humor. Wir lieben es, zusammen hin und her zu fantasieren, Absurdes und Schräges zu finden. Ich mag, dass er so uneitel ist. Wir amüsieren uns arbeitend, in lockerer Stimmung.» Sie schätzt das besonders, weil die Zusammenarbeit im Theater schnell emotional wird. Es gibt viele Reibungsflächen, viele irrationale Zerwürfnisse. «Man gibt sich im Theater immer als ganzer Mensch und muss sich oft auf ein inneres Chaos einlassen, und da prallen dann die Emotionen eben oft auch aufeinander.»

Sie hat in jenem September eine Wohnung in Berlin gemietet, die der Trapezkünstlerfamilie Die Maiers gehört. Sie verdienen mit «Luft- und Bodenunfug» ihr Geld und haben für ein paar Wochen ein Engagement in Amerika. Die Wohnung ist ideal zum Proben, denn sie verfügt über eine riesige, 48 Quadratmeter grosse, neun Meter hohe Küche. Eher ein Proberaum mit angegliederter Küche. Jedenfalls gibt es genügend Platz, um sich Dinge auszudenken und auszuprobieren. Michael Vogel und Gardi Hutter hängen das Segel auf und beginnen, sich zu überlegen, wie man die Grundidee umsetzen könnte: Der Tod stellt Hanna nach, sie bettelt und fleht: «Nur noch eine letzte Zigarette, eine letzte Mahlzeit, eine letzte, eine letzte, eine letzte …»

«Am ersten Probentag möchte ich immer den Beruf wechseln. Das Gefühl von Verlorenheit und Talentlosigkeit ist unerträglich», schreibt Gardi Hutter in ihren Aufzeichnungen zum Werkbuch «Die Schneiderin». Doch dann entwickeln sich Ideen Schritt für Schritt, mit Ausprobieren, Diskutieren, Verwerfen. «Es ist ein Im-Dunkeln-Tappen, und ich leuchte mit der Taschenlampe umher, und ab und zu erkenne ich im Lichtkegel etwas Brauchbares», schildert Gardi Hutter den kreativen Prozess. Vier Wochen lang beschäftigen sie und Michael Vogel sich mit dem szenischen Erfinden des Stücks. Danach steht das Grundgerüst. Anfang Oktober werden Freunde und Bekannte zu einer Probevorstellung in die Wohnung eingeladen. An welchen Stellen lachen sie, was funktioniert, was nicht? Im Anschluss wird diskutiert, und es zeigt sich, dass die Probezuschauer nicht verstehen, wie die Schneiderin stirbt, dass sie nämlich in ein Paket fällt und per Post wiederkehrt. Die Schlussszene ist aber essenziell für das Stück, deshalb braucht es eine neue Idee. Nur welche? Regisseur und Künstlerin beschliessen, dafür in einigen Monaten eine eigene Probenwoche anzusetzen, und gehen auseinander. Sie verbringen den Winter mit anderen Aktivitäten. Gardi Hutter ist unterwegs, tritt als Hanna auf, sorgt für ihr Einkommen.

Die Sommermonate verbringt sie im Tessin, wo sie in Arzo wohnt, ganz im Süden des Kantons, unweit von Mendrisio, nahe der italienischen Grenze. Im Juni und Juli 2010 entsteht bei Urs Moesch in Verscio das Bühnenbild. Moesch ist gleich alt wie Gardi. Er begleitete Clown Dimitri viele Jahre als Techniker auf dessen Tourneen und macht Bühnenbilder. Gardi Hutter legt mit Hand an. Sie hämmert und zimmert gerne, malt den grossen Schneidertisch auf alt um. Sie ist praktisch begabt, hat eine Werkstatt in ihrem Haus in Arzo, und als Ausgleich zur Arbeit schnitzt sie am liebsten an alten Wurzeln herum. Ideen entwickeln, dramaturgische Bögen erfinden, spielen sind das Zentrale ihres Berufs, aber sie liebt auch alles Handwerkliche, das er mit sich bringt. Das Ein- und Ausräumen, das Auf- und Abbauen, das Werken, Tüfteln und Problemelösen. Zur selben Zeit wie die Bühnenausstattung werden in Verscio die Kostüme gefertigt; Anna Manz, die ihr Atelier gleich neben Urs hat, näht sie. Gardi hat klare Vorstellungen, es soll nicht einfach ein farbiges Gewand her. Das Kostüm soll etwas über die Figur erzählen. Die Schneiderin trägt am Ende ein Kleid aus lauter Stoffresten.

Ebenfalls im Sommer werden die Gags entwickelt. Dafür kommt Gardi Hutters Ex-Mann Ferruccio Cainero für eine Woche ins Tessiner Dorf Camedo. Dort hat die Clownin einen Proberaum in einer umgebauten alten Textilfabrik gemietet. Ferruccio Cainero ist nicht nur Gagspezialist, er kennt auch die Figur der Hanna am besten. Sie haben sie damals gemeinsam entwickelt, als sie zusammen in Mailand lebten.

Und dann die letzten grossen Proben von Ende August bis Ende Oktober in Berlin. Sie sind im TISCH, im Theater im Schokohof, eingemietet, einem kleinen Studiotheater in Berlin-Mitte, das sich heute nur noch «Schokoladen» nennt.

Ende Oktober ist das Stück so weit, man kann es einem kleinen Publikum zeigen. Erst kommen Freunde und Bekannte, dann auch unbekannte Theaterinteressierte. Pro Abend schauen sich zwanzig bis dreissig Leute die Probevorstellungen an. Gardi Hutter und Michael Vogel registrieren während der Aufführungen genau, an welchen Stellen gelacht wird und wo nicht und bitten das Publikum, seine Meinung ohne Rücksicht zu äussern. Auf diese Art finden die Endproben statt.

Nach einer dieser Vorstellungen läuft ein Zuschauer Gardi Hutter bis zur U-Bahn-Station nach, weil es ihm wichtig ist, ihr persönlich zu erklären, weshalb sie auf der Bühne auf keinen Fall verständlich sprechen dürfe, dass mache doch ihre Figur kaputt. Das Grammelot, das lautmalerische Sprechen, gehört essenziell zum Spiel der Hanna. Aber diesmal sind Gardi Hutter und Michael Vogel der Meinung, dass die Schneiderin ein paar witzige Sätze sagen soll. Beide brechen gerne Regeln. Schliesslich beherzigen sie die Kritik des Zuschauers aber doch: Hanna spricht nicht auf der Bühne, aber wenn sie ins Publikum springt, darf sie auch mal reden. So erbettelt sie beispielsweise von den Zuschauern ihre «letzte Zigarette», und als sie auf dem Paket «Rauchen ist tödlich» liest, schreit sie den Zigarettenspender an: «Wollen Sie mich umbringen?!»

Trotz allem - Gardi Hutter

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