Читать книгу Trotz allem - Gardi Hutter - Denise Schmid - Страница 9
PREMIERENFIEBER
ОглавлениеGardi Hutter fährt ihren grauen Tourbus – auf dem die vier Figuren Affe, kauernder und aufrechter Mann sowie Clown abgebildet sind – mit der ganzen Ausrüstung Anfang November von Berlin nach Stuttgart. Bühnenbildner Urs Moesch hat von Anfang an alles so geplant, dass sich das ganze Bühneninventar zusammenklappen und im 3,5-Tonnen-Lieferwagen verstauen lässt, denn so geht Gardi Hutter anschliessend auf ihre Tourneen.
In Stuttgart angekommen, bleiben ein paar Tage Zeit, um vor Ort alles einzurichten und zu proben. Unendlich viele Details sind immer noch zu klären. Es wird geklebt, genagelt, die Technik eingerichtet, mit doppeltem Beamer, doppeltem Computer für die Videoprojektionen im Spiegel. Alles ist abgesichert. Gardi Hutter muss sich vor dem Publikum zu hundert Prozent auf das Team hinter der Bühne verlassen können, damit sie die Freiheit hat, zu spielen. Sie steht zwar alleine im Scheinwerferlicht, aber im Hintergrund arbeiten immer ihre beiden Techniker mit, die sie zu jeder Aufführung begleiten, sowie zwei, drei Leute vom jeweiligen Theater.
Die Spannung steigt. «Ich schlafe vor jeder Premiere extrem schlecht, und eigentlich würde ich dann am liebsten mit niemandem mehr sprechen», sagt sie. Aber natürlich interessieren sich die Medien, was gut für die Publizität ist, und so gibt Gardi Hutter eben Interviews.
Eine Stunde vor Premierenbeginn sind ihre Nerven zum Zerreissen gespannt. Sie macht Körperübungen auf der Bühne, versucht, sich zu konzentrieren, die Energie zu bündeln. Doch da ist die Kamera der Schweizer Nachrichtensendung «10 vor 10», und ein Journalist hält ihr das Mikrofon vors Gesicht. Man spürt ihre Nervosität, aber sie bleibt Profi, antwortet, obwohl sie in diesem Moment eigentlich nur eines möchte: ihre Ruhe. «Die Anspannung ist jenseitig», sagt sie ins Mikrofon, und man glaubt es ihr. «Ein Jahr Arbeit muss nun durch diesen ganz engen Kanal, durch diese Premiere, und es steht so viel auf dem Spiel.»
Das Ende des Satzes ist nicht nur so dahergesagt. Gardi Hutter ist die Darstellerin, aber auch die Produzentin. Das bedeutet, dass sie viel Geld in die Hand nimmt, um das Stück zu realisieren, um alle Beteiligten zu bezahlen, von der Technik über die Regie bis zum ganzen Material, den Raummieten, der Werbung, der Agentin und vielem mehr. Dafür gehören ihr die Einnahmen aus der Tournee, und wenn das Ganze ein Erfolg wird, rechnet sich die Sache. Aber das Risiko ist erheblich.
«Das ist das Schönste und das Schlimmste an meinem Beruf», sagt Gardi Hutter, «die grosse Freiheit, dass ich spielen und erfinden kann, was ich will, und jedes Mal die Chance habe, über mich selbst hinauszuwachsen. Andererseits lässt sich ein Erfolg nie sicher planen. Man hat keine Gewähr, dass es gelingen wird.» Man muss sich ein Publikum suchen, muss es begeistern und verführen. Es ist ein freier Markt mit schmalen Subventionen. Gardi hat schon vor der Premiere von «Die Schneiderin» hundert Vorstellungen in ganz Europa verkauft. Bis 2020 wird sie diese Figur mehr als 500 Mal spielen. Sie ist nicht nur Clownin, nicht nur Autorin und Künstlerin, sie ist auch Geschäftsfrau.
Donnerstag, 28. Oktober, 20 Uhr im Theaterhaus Stuttgart, eine grosse private Spielstätte im Norden der Stadt. Alt und neu verbinden sich in der ehemaligen Glasfabrik. Das Licht im grossen Saal erlischt. Und dann geht es los. Tausend Kleinigkeiten greifen während der Vorstellung ineinander: Licht, Musik, Übergänge, Gags, Videoeinspielungen. Zum Auftakt sitzt Hanna im Schneidersitz auf dem Tisch, näht an einem weissen Kleid, nickt kurz ein, der Kopf kippt nach vorne. Die lange Nadel pikst ihre dicke, rote Nase. Hanna schreckt auf, quiekt, der erste Lacher nach 15 Sekunden. «Ich merke in der ersten Minute, ob ein Abend gut wird oder nicht», sagt Gardi Hutter. Dahinter steckt nicht nur die jahrelange Erfahrung, sondern auch ihr ausgeprägtes kommunikatives Sensorium. Sie kann sich enorm gut auf verschiedenste Situationen und Menschen einlassen, vor allem auch auf einen gefüllten Saal vor ihr. Im stummen Dialog mit dem Publikum, mit Mimik und Gestik, schafft sie den Energieaustausch mit den Menschen und läuft dabei zur Hochform auf – die perfekte Eigenschaft einer Clownin.
Irgendwann kommt die Anmachszene, in der sie ins Publikum geht, einen gut aussehenden jungen Mann auf die Bühne holt, sich mit ihm auf den Tisch setzt und ihm mit ihrer unnachahmlichen Hanna-Art schöne Augen macht. Man kann nicht anders, als über dieses verzweifelt noch ein letztes Mal Liebe suchende Wesen mit dem verfilzten Haarschopf, den rollenden Augen und der dicken Clownnase zu lachen. Grossartig, wie sich die unförmige Hanna im Gegenlicht zu Joe Cockers «You Can Leave Your Hat On» lasziv im Halbdunkel auszieht. Danach steht sie in weisser Unterwäsche, in Form von Hemd und Hose, da und sieht plötzlich aus wie ihr sphärisches Gegenüber, ihre Seele im Spiegel. Das Publikum johlt und lacht. Und es war nie billig oder schlechter Geschmack, sondern nur lustig, bewegend und anrührend, weil zutiefst menschlich.
Nach siebzig Minuten stirbt Hanna freiwillig. Sie sieht die Seele ihres Vogels im Spiegel flattern und will ihm folgen. Sie spannt hinter sich ein weisses Segel auf, im Tisch öffnet sich ein Grab, sie steigt hinein, lässt vor sich ein wallendes, hellblaues Stück Stoff herabfliessen, fixiert es so an der Grabklappe, dass das Bild eines Boots im Wasser entsteht, winkt – ganz Kapitänin auf ihrem Schiff – und versinkt leise.
Das Licht geht aus, Klatschen, Jubel. Aus dem Dunkel taucht die erleichterte Gardi Hutter auf, verbeugt sich, nimmt dankbar den Applaus entgegen und bittet das ganze Team auf die Bühne. «Beim Schlussapplaus an der Premiere weine ich vor Erleichterung.» Hinter der Bühne umarmen sich alle Beteiligten lange und intensiv. Es hat geklappt, es war toll. Freude pur. Und Gardi Hutter strahlt diesmal in die Kamera von «10 vor 10», erhitzt, erschöpft, erlöst und rundum glücklich. Es gibt noch eine Premierenfeier im Haus für geladene Gäste, und nach Mitternacht sinkt sie ins Bett. «Ich kann, ich will dann an nichts mehr denken, nur noch schlafen!»