Читать книгу Trotz allem - Gardi Hutter - Denise Schmid - Страница 16

WOCHENEND- UND FERIENFREUDEN

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Die Tüchtigkeit von Vater und Mutter zahlt sich aus. Obwohl es am Rathausplatz einen alteingesessenen Konkurrenten gibt, der für alle im Ort hörbar den «Bauernsohn als Kaufmann» verspottet, beginnt das Modehaus Hutter schon bald zu florieren. Ende der 1950er-Jahre leisten sich die Eltern ein Feriendomizil: die Hälfte eines kleinen Bauernhauses auf dem Ruppen. Hutters gehören auch zu den wenigen, die schon ein Auto besitzen, einen Zweitakter DKW, der in Gardi Hutters Erinnerung furchtbar stinkt. Davor fahren die Eltern auf einer Lambretta, einem Roller, auf dem auch Erwin und Fredi als Kleinkinder auf Ausflüge mitgenommen werden.

Im DKW wird den Kindern immer schlecht, wenn sie zu viert in den Wagen gequetscht werden. Auf langen Fahrten bekommen alle eine leere Heliomalt-Büchse auf den Schoss, für den Fall, dass sich jemand übergeben muss, und dann wird gesungen, und zwar so lautstark und viel, dass die Kinder die Übelkeit vergessen.

Am Samstag ist um 16 Uhr Ladenschluss, keine Viertelstunde später sitzt Familie Hutter im Auto und fährt die gut zehn Minuten hoch auf den Berg zum Ferienhaus. Alle haben noch schnell die Kleider gewechselt. Vom ordentlichen Gewand in ausgebeulte Lumpen. Der Ruppenpass führt hinter Altstätten in Richtung Appenzellerland. Die Aussicht vom Haus aus ist fantastisch und geht weit über das Rheintal. Alle sechs Hutters fühlen sich hier wohl.

Das Gebäude ist sehr bescheiden, verfügt zunächst weder über fliessendes Wasser noch über Heizung oder Strom. Hier kann sich Bauernsohn Erwin Hutter verwirklichen. Er streicht, hämmert, zieht Leitungen ins Haus – alles wird selbst installiert und gebaut. «Meine Eltern mussten nie Hunger leiden, aber in ihrem Gedächtnis war sicher noch gespeichert, wie karg die Bauern ein, zwei Generationen vor ihnen gelebt hatten. Deshalb wurde alles aufgespart und wiederverwendet. Sie hatten es so gelernt und gaben es an die nächste Generation weiter. Sie waren nicht eigentlich geizig, aber sehr sparsam, wenn es um Kleinigkeiten im Alltag ging. Als dann später alle von Recycling redeten, mussten sie nichts dazulernen.»

Das Haus am Ruppen und seine Umgebung hat Gardi Hutter als ihr Kindheitsparadies in Erinnerung: «Dort gingen wir morgens zu viert in den Wald und kamen abends wieder zurück.» Die vierköpfige Rasselbande tobt ums Haus, spielt in den beiden Baumhäusern, die Erwin und Fredi gezimmert haben, Räuber und Poli (Gendarm), Cowboy und Indianer. Gardi immer mittendrin. Solange die vier Kinder klein sind, stört es die Buben nicht, dass sie ein Mädchen ist, sie muss nicht die Squaw spielen. Doch als die älteren Brüder zu pubertieren beginnen, wollen sie irgendwann nicht mehr mit der kleinen Schwester spielen. Sie wird abgewiesen. «Wir spielen nicht mit Weibern», heisst es, was sie sehr kränkt.

Im Ferienhaus nimmt sich die Mutter Zeit für die Kinder. Bei schlechtem Wetter wird gemalt und gebastelt. Kasperlefiguren aus Pappmaché entstehen, mit denen anschliessend ausgiebig gespielt wird. Man ist unter sich, hier gibt es Momente familiärer Innigkeit, die im Alltag sonst so kaum möglich sind.

Im Sommer wird im kleinen Pool, den der Vater ausgehoben und eigenhändig ausgekleidet hat, gebadet und gespritzt. Ein grosser Magnet für die Bauernkinder aus der Umgebung.

Der Vater ist ein begeisterter Wanderer und Bergsteiger. Die Familie unternimmt kleinere und grössere Touren. Die Kleinen werden auf dem Rücken mitgetragen. Und später, als die Kinder heranwachsen, macht der Vater oft auch ausgedehntere Bergtouren mit den vier Kindern. Die Mutter bleibt im Tal. Sie geht spazieren und einkaufen, fern von den Altstätter Kleingeschäften sogar in die sonst verbotene Migros.

Erwin Hutter ist Mitglied im Schweizer Alpen-Club SAC, der Nachwuchs im Alpen-Jugendclub. Es wird nicht nur gewandert, sondern auch geklettert. Gardi Hutter ist bis in ihre Teenagerjahre mit dabei und liebt die Berge ebenso sehr wie ihr Vater und die Brüder. Erwin und Gilbert machen als Erwachsene beide die Ausbildung des SAC zum Bergführer, leiten immer wieder Touren und pflegen das vom Vater angestiftete «Familienhobby» ein Leben lang.

Und natürlich wird auch Ski gefahren. Der Vater lernt zwar erst spät Ski fahren, mit Ende dreissig, aber noch rechtzeitig, um es mit seinen Kindern zu geniessen. Von Altstätten aus führt eine Schmalspurbahn bergauf Richtung Gais. Sobald es genügend Schnee hat, nehmen die Schulkinder an schulfreien Nachmittagen oder am Samstag den kleinen Zug, fahren auf die Höhe, den Stoss, und sausen hinunter. Ein Heidenspass, den ganzen Winter lang.

Ein Auto, ein Ferienhaus, bald einmal auch einen Fernseher – in einem abschliessbaren Schrank – und erste Auslandsferien kann sich Familie Hutter dank des wachsenden Wohlstands Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre leisten. Das Modehaus Hutter ist eines der ersten Geschäfte im Ort, die im Sommer zwei Wochen schliessen und ein Schild an die Tür hängen: «Wegen Ferien geschlossen». Mit dem DKW geht es mal nach Ascona zum Camping und bald darauf bis nach Italien ans Meer, die Heliomalt-Büchsen immer mit dabei. Zeltferien an der Adria in Cattolica und Jesolo, am breiten Strand mit endlos vielen Schirmen und Liegen. Auslandsferien – ein Abenteuer mit Meer und Sand, Gelati und Pizza und einer ungewohnten Sprache. Ein Foto von einem Ausflug nach Venedig zeigt die Kinder zu Füssen einer Löwenstatue. Die kleine Gardi schaut skeptisch hoch. Ist der Löwe wirklich aus Stein, wird er nicht vielleicht doch noch lebendig? Sie kann sich noch heute an die Furcht erinnern – ihre lebhafte Fantasie.

Neben den sportlichen Betätigungen und den Ferienfreuden ist das Singen eine weitere Spezialität im Familienleben der Hutters. Ob beim Geschirrabwaschen, abends im Wohnzimmer, auf Autofahrten oder beim Wandern, Familie Hutter singt Volkslieder, Kinderlieder, Wanderlieder, Soldatenlieder und am Jahresende voller Inbrunst Weihnachtslieder – das Repertoire ist gross. Die Mutter hat eine schöne Altstimme und singt oft die zweite Stimme. Zu sechst bildet man schon fast einen kleinen Chor, wobei der Vater eher mitsummt als singt. Gardi Hutter kennt die meisten Liedtexte heute noch und denkt mit leichter Wehmut zurück an die Selbstverständlichkeit, die im gemeinsamen Gesang lag. «Wir hatten bis Anfang der 1960er-Jahre keinen Fernseher, es gab wenig Ablenkung, die Abende waren lang. Im Sommer spielte man draussen. Im Winter wurde gejasst, wir spielten Eile mit Weile, Mühle und Dame oder beteten Rosenkränze. Man konnte auch einfach mal nur dasitzen und sich etwas umschauen. Undenkbar im Vergleich zur heutigen Intensität unseres Alltags. Es war zwar langweiliger, aber psychologisch sicher einfacher.»

Musik bildet zwar einen Teil des kindlichen Erfahrungsschatzes, aber nur ganz bestimmte Arten von Musik: Volkslieder, Kirchenmusik und Volkstümliches auf Radio Beromünster. Sobald es klassisch wird, wird der Apparat abgedreht. Mozart oder Beethoven gibt es bei Hutters nicht, klassische Musik ist ihnen fremd. Bei Opern halten sich alle die Ohren zu, und modernere Klänge, wie amerikanischer Jazz oder Elvis Presley, gelten als «Schund» und werden von der Familie ferngehalten. «Schund» ist in jener Zeit eine Klammer für alles, was nicht nur ästhetisch, sondern auch moralisch abgründig scheint.

Trotz allem - Gardi Hutter

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