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INSPIRATION FASNACHT

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Doch Gardi Hutter berichtet auch von Positivem aus diesem katholischen Umfeld. Weihnachten, die verschiedenen Prozessionen und die Altstätter Fasnacht gehören dazu. Ein paar Tage vor Weihnachten ist das Wohnzimmer jeweils plötzlich zugesperrt. Dann wissen die Kinder, dass das Christkind jetzt daran ist, alles vorzubereiten. «Wir äugten natürlich durchs Schlüsselloch, und einmal sah ich tatsächlich ein Zipfelchen vom Christkind, ich war mir ganz sicher. Das Kindlein, das sonst in der Windel in der Krippe lag, flog durch den Raum, dekorierte und brachte die Geschenke, so stellte ich es mir vor. Nach unendlich langem Warten ging an Heiligabend dann endlich die Tür auf, die Kerzen brannten am Baum, die Geschenke lagen da. Es war jedes Mal eine Verzauberung. Dann wurden alle Weihnachtslieder rauf und runter gesungen, und jedes Kind musste ein Gedicht aufsagen. Es wurde Blockflöte und Handorgel gespielt, und irgendwann durften wir endlich die Geschenke auspacken.»

Als optisch schöne katholische Bräuche hat Gardi Hutter die Prozessionen am Palmsonntag und zu Fronleichnam in Erinnerung. Eine Woche vor Ostern wird mit dem Palmsonntag die Heilige Woche eingeleitet. Die Buben dürfen mit Buchszweigen grosse Gestänge binden, die sie an der Prozession tragen. Für die Mädchen gibt es kleine Blumenkörbe. Gardi beneidet einmal mehr die Brüder um die eindrücklichen Kreuze, die manchmal zwei bis drei Meter hoch sind.

Die Prozession wird durch das Städtchen geführt. Strassen und Plätze werden mit frischem Buchenlaub, mit Gräsern und Blumen geschmückt, richtige Blumenteppiche werden auf dem Weg der Prozession ausgebreitet. Die Hausbesitzer wetteifern um die schönste Dekoration, Hutters gehören dazu. Beim Umzug gehen vorneweg die Geistlichen und Ministranten, dahinter weiss gekleidete Mädchen. «Wir waren in unserer Jugend auf vielen Prozessionen, nicht nur am Palmsonntag und zu Fronleichnam, auch zur Forstkapelle, zur Flurbegehung, zum Weissen Sonntag und so weiter. Das ist aus heutiger Sicht eine Form von erlebtem, empfundenem und visualisiertem Glauben. Es waren kollektive Rituale, die für meine Kinderseele sehr nährend waren. Inszenierungen von grosser Symbolkraft, dem Theater sehr verwandt.»

Und dann die berühmte Altstätter Fasnacht, sechs Tage Ausnahmezustand, ein buntes, wildes Treiben mit fester Abfolge von Umzug, Polonaise, Beizentour und Bööggverbrennen, mit Mehl- und Gerstensuppe, Berliner Pfannkuchen, Punsch, Fasnachtschüechli und sehr viel Alkohol. Die Fasnacht in Altstätten ist weder die grösste noch die älteste der Schweiz. Aber mit einer Tradition, die auf ein erstes schriftliches Zeugnis von 1617 zurückgeht, der Vielfalt an Aktivitäten und den optisch auffälligen Röllelibutzen gehört sie zu den originellsten im Land; der gleichnamige Verein existiert seit 1919.

Auch die Fasnacht ist in Altstätten eine klar männlich dominierte Veranstaltung. Junge Frauen dürfen als sogenannte Ehrendamen eine Nebenrolle spielen: «Obwohl die Ehrendamen nun seit hundert Jahren als schmucker Teil zu den Auftritten und den Polonaisen gehören, sind diese nicht Mitglieder des Vereins. Eine Mitgliedschaft im Verein ist seit der Gründung nur Männern vorbehalten», heisst es dazu in einem neueren Buch. Seit 2004 finden die Ehrendamen zumindest Erwähnung in den Vereinsstatuten. Und in ihren langen, weissen Kleidern stehlen sie den herausgeputzten Herren gewiss nicht die Schau.

Ein Röllelibutz trägt weisse Hose, schwarze Jacke, quer über die Schultern farbige Brustbänder, eine fleischfarbene Drahtmaske und auf dem Kopf den Butzenhut, einen elaborierten Kopfschmuck mit glänzenden Perlen, Früchten, Blumen, Bändern und Federn. Um die Hüften wird das Geröll getragen, ein Lederband mit Schellen, die beim Herumspringen tönen. Hinten aus der Jacke tritt eine dunkelrote Quaste. Dann das Wichtigste: die Wasserspritze. Damit bespritzen die Röllelibutzen an den Umzügen die Zuschauer, jagen ihnen hinterher. Es sind primär die jungen Frauen, die mit Wasser bespritzt werden – die sexuelle Anspielung ist unübersehbar. Wobei sie an Gardi als Kind vorbeigeht. Von Sexualität hat sie keine Ahnung. Nur die Regel, dass die Frauen niemals Röllelibutzen werden können und selbst in den furchterregenden Ribelbüüchwiibern, mit ihren wilden Masken und Perücken, Männer stecken, empfindet sie schon im Kindesalter als ungerecht.

Dennoch geniesst sie die Fasnacht. Es ist die aufregendste Zeit im Jahr. Sich kostümieren, maskieren, in eine andere Rolle schlüpfen, gehört von Kindsbeinen an zu ihren Erfahrungen. Sie lernt und liebt es, sich zu verwandeln, eine andere Person zu werden. Ihre Fantasie wird durch die katholischen Bräuche stark angeregt, davon erzählt sie wiederholt.

«Für uns Kinder war die Fasnacht die schönste Zeit im Jahr, wir haben uns immer wahnsinnig darauf gefreut.» Die Mutter näht den Kindern Kostüme. Mal ist Gardi ein Marienkäfer, mal eine Hexe, dann eine Indianerin. Am schmutzigen Donnerstag geht es los mit dem Kinderumzug um 14 Uhr. Nach dem Umzug tanzen die Jungbutzen und Jungehrendamen auf der Breite eine Polonaise. Anschliessend spielt die Guggenmusik auf dem Rathausplatz auf, und es gibt Suppe. Am Freitag geht es weiter mit Maskenbällen, alle Lokale sind dekoriert. Die Themen lauten «Wilder Westen», «Honolulu», «Hölle» oder «Auf der Alm da gibt’s koa Sünd». Am Samstag findet die «Tschätteri-Nacht» statt. Die Gruppen ziehen mit Musik und beleuchtetem Kopfputz durch die Stadt. Ab 21 Uhr beginnt die Beizentour von Lokal zu Lokal. Auch die Besucherinnen und Besucher sind verkleidet und machen mit. Am Samstagabend trifft man auf dem Frauenhofplatz die furchterregenden Ribelbüüchwiiber mit ihren klobigen Holzzoccoli. Am Sonntag der grosse Festumzug durch die Stadt. Vorneweg die Blaternbutzen, die mit Schweinsblasen auf die Neugierigen einschlagen. Montag ist der zweitletzte Tag, abends wird in einem Riesenfeuer ein Böögg mit eingelegten ohrenbetäubenden Krachern verbrannt. Für die Röllelibutzen und ihre Ehrendamen ist der Fasnachtsdienstag der wichtigste Tag. Frühmorgens gibt es einen Sternmarsch mit anschliessender Polonaise, um 14 Uhr einen weiteren grossen Umzug. Wenn es dunkel ist, wird auf dem Rathausplatz die Abendpolonaise getanzt. Die Fasnacht neigt sich dem Ende zu, um Mitternacht ist der Spuk vorbei. Mit dem Aschermittwoch beginnt die Fastenzeit.

Zuvor ist die ganze Stadt sechs Tage lang im Ausnahmezustand. Gardi fürchtet sich als Kind vor den wilden Masken, vor den herumspritzenden Röllelibutzen, dem Lärm, aber es geht auch eine grosse Faszination von dem Treiben aus. «An der Fasnacht gingen die Emotionen hoch. Der uralte Brauch, die Winterdämonen und Totengeister zu vertreiben, ist darin noch lebendig, seine Kraft spürbar. Man lacht über das Schreckliche und weiss gleichzeitig, dass man irgendwann stirbt. Man flucht und schreit, säuft und lässt die Sau raus. Einmal im Jahr geht man emotional über seine Grenzen. Diese Erlebnisse von gleichzeitigem Gruseln und Lachen, Erschrecken und Feiern haben mich geprägt. Da wurde in meiner Kindheit ein Same gelegt.»


In der katholischen Primarschule für Mädchen in Altstätten, 1960. Gardi steht in der obersten Reihe, rechts neben der Lehrerin.


Als Sechstklässlerin in der Klasse von Herrn Schwarz (oberste Reihe, 3. von links).


Gardi 1962 als «Braut Gottes» bei der Erstkommunion. Sie fühlt sich im langen, weissen Kleid wie eine Prinzessin. Danach fliessen Tränen; sie muss sich umziehen, weil die Familie ins Ferienhaus fährt.


Die neunjährige, ausgelassene Gardi im Sommerlager ihrer Schule 1962 in Riom im Bündnerland. Die Liebe zu den Bergen wird auch im Elternhaus gepflegt und begleitet sie bis heute.


Fasnacht in Altstätten: Für Gardi ist das als Kind die schönste Zeit des Jahres, und das wilde, fantasievolle Treiben hat einen prägenden Einfluss auf sie. Sie empfindet aber auch die Ungerechtigkeit, dass sich nur Buben und Männer als Röllelibutzen verkleiden dürfen.


Sonntagsspaziergang am Bodensee in den 1960er- Jahren mit Familienhund Rexli. Gardi und Gilbert, ordentlich gekleidet, so wie es die Mutter mag.


Das Modehaus floriert, und Hutters können sich am Hang über Altstätten ein neues Haus mit Planschpool im Garten bauen. Hinten links Irma Hutter, in der Mitte vorne Gardi Hutter.

Trotz allem - Gardi Hutter

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