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ОглавлениеKapitel 4
Eichstätt, Gabrieli-Quartier, Innere Freiwasserstraße,
Samstag, 3. Oktober 2015, 10:57 Uhr
»Na so was.« Funke schob den Schlüssel zurück in die Hosentasche. »Da ist ja gar nicht abgesperrt.« Vorsichtig drückte er die Tür auf, tapste auf den hellen Granit. Die anderen hinterdrein. Erst der Bärtige, dann die Alte, dann das Pärchen. Er voran, sie an seiner Hand mehr oder weniger mitgerissen. Als alle um eine Ecke des langen Korridors verschwunden waren, fegte ein Windstoß Ignatz den Helm vom Kopf. Scheppernd kullerte er über den Flur. Er sprang ihm nach, bückte sich ihn aufzuheben, da hörte er Musik.
»On Jubilee street there was a girl named Bee … She had a history, but she had no past …« Eine leise wimmernde Gitarre, eine düstere, unheimliche Stimme. »When they shut her down the Russians moved in … And I am too scared … And I am to scared to even walk on past…«
Verwundert richtete er sich auf. Der Ursprung des Gesangs war nicht ausmachen. Nirgendwo konnte er Lautsprecher entdecken. Theo schlenderte heran, cool wie immer. Ihn schien die eigentümliche Berieselung nicht zu irritieren. Ignatz setzte den Helm zurück auf den Kopf, folgte seinem Bruder den Korridor hinab. Sie fanden Funke und die übrige Bande in einer riesigen Küche. Allesamt um einen freistehenden Herd versammelt. Ein pompöser Herd mit gigantischen Ausmaßen. Ignatz zählte nicht weniger als acht Kochfelder. Staunend fragte er sich, wer in der Welt mit acht Kochplatten zurechtkam. Er selbst hatte schon Schwierigkeiten bei Dreien den Überblick zu behalten. Weitschweifig dozierte der Makler über die technischen Finessen der zahllosen Gerätschaften, die rund um den Superherd zu finden waren. Ignatz fand es sterbenslangweilig, aber Theo und der Alten gefiel es. Eifrig stellten sie Fragen und Funke antwortete derart detailreich, dass man meinen konnte, er habe jedes einzelne Maschinchen selbst entworfen und zusammengeschraubt. Das Kreischen der Gitarre wurde lauter, der Gesang düsterer.
»I’m transforming … I’m vibrating … I’m glowing … I’m flying … Look at me now … I’m flying … Look at me now …«
Funke zog schwungvoll eine in die Wand versenkbare Schiebetür auf.
»Der Essbereich!«, rief er euphorisch. Wie auf Kommando erklang ein Klavierriff. Sie spazierten durch die Tür. Ignatz musste feststellen, dass der Essbereich der Küche proportionsmäßig in nichts nachstand. Der Raum bot mühelos Platz für sämtliche Ritter der Tafelrunde. Einschließlich der Pferde.
»The silicon chip inside her head gets switched to overload … And nobody’s gonna go to school today … She’s going to make them stay at home …«
Funke begann wortreich über Wärmetechnik, Klimatisierung und Energieeffizienz zu schwadronieren. Diesmal fand er in dem Bärtigen einen interessierten Zuhörer. Theo und die anderen wandelten umher, begutachteten die Einrichtung. Die Musik hielt sich im Hintergrund, war gerade so laut, dass sie Funkes Vortrag nicht störte. Ignatz gähnte. Die Beschallung musste irgendwo unter der Deckenverkleidung verborgen sein.
»Tell me why? I don’t like Mondays … Tell me why? I don’t like Mondays …«
Ein merkwürdiges Gefühl machte sich in ihm breit. Vage erinnerte er, dass der Song von einem Mädchen im Teenageralter handelte. An einem Montagmorgen hatte sie von ihrem Kinderzimmerfenster aus mit dem Gewehr des Vaters auf die gegenüberliegende Grundschule geschossen, den Direktor getötet und mehrere Schüler verletzt. Auf die Frage eines Journalisten, weshalb sie das getan habe, hatte sie lapidar geantwortet: »Ich mag keine Montage.«
»I want to shoot the whole day down …«
Der Schwarzbärtige jedenfalls war zufrieden, tippte mit entrücktem Lächeln auf dem Smartphone. Theo, die Alte und das Pärchen hatten vor einer dunklen Holztür Stellung bezogen, bestaunten die filigranen Schnitzereien. Fabelwesen, die mal kopulierend, mal meuchelnd übereinander herfielen. Ignatz überlegte noch, was der Künstler damit zum Ausdruck bringen wollte, als Funke die goldene Klinke drückte, sie hinüber in den ›Wohnbereich‹ delegierte. Ebenso platzangsteinflössend und mit einer nahezu ausgestorbenen kanadischen Baumart ausgelegt, wie der Makler stolz zu berichten wusste. Ignatz fand’s grausig. Er stellte sich an eine der raumhohen Scheiben, sah auf die herbstliche Stadt hinab. Der Anzugträger gesellte sich zu ihm.
»Bescheidene Aussicht, was?« Mit dem Kinn nickte er in Richtung der Flüchtlingsunterkünfte. Ignatz tat so, als habe er die Bemerkung nicht gehört. »Sowas drückt den Preis, aber saftig.« Ein Vogelschwarm formierte sich vor dunklen Wolken über den Glockentürmen des Doms. Wie schwarzer Rauch um zwei überdimensionierte Zigarren waberte er rastlos hin und her. Ignatz registrierte, dass der Anzugmann ihn noch immer anstarrte. Er erwartete wohl eine Reaktion. Ignatz wollte aber nicht, wandte sich erleichtert ab, als Funke eine weitere verborgene Tür aufzog und zur Besichtigung der »Sanitäranlagen« lud. Eine rauchige Stimme aus dem Nirwana folgte ihnen auf den Flur.
»You who wish to conquer pain … You must learn what makes me kind … The crumbs of love that you offer me … They’re the crumbs I’ve left behind …«
Nacheinander quetschten sich die Alte, das Pärchen und der Bärtige zu Funke ins Gästebad. Theo hielt sich im Türrahmen. Ignatz blieb zurück auf dem Flur, lauschte dem gruseligen Sprechgesang. Im Bad suchte man sich mit Detailwissen über Frischwasserzufuhr und Abwasserleitungen zu übertrumpfen.
»You say you’ve gone away from me … But I can feel you when you breathe … Do not dress in those rags for me … I know you are not poor …«
Nachdem das Bad besichtigt war, trieb Funke die Meute in die »persönlichen Gemächer.« Wenige Meter den Gang hinauf und sie erreichten eine unscheinbare Tür. Sie verschmolz so perfekt mit der Wandmaserung, dass Ignatz sie glatt übersehen hätte. Der Makler drückte einen versteckten Mechanismus. Die Tür schwang auf. Vor ihnen lag ein schmaler Flur. Und weitere Türen.
»You don’t love me quite so fiercely now … When you know that you are not sure … It is your turn, beloved … It is your flesh that I wear …«
Funke öffnete eine der Türen, demonstrierte den »Wellnessbereich« mit Sauna, Whirlpool und anderem Schnickschnack. Die Dame im Kostüm quiekte vor Freude, der Anzugträger knipste mit dem Smartphone Fotos. Die Alte und der Bärtige bewunderten die barrierefreie Wanne. Theo inspizierte die Tageslichtdusche. Ignatz hockte sich auf den Rand eines kleinen Schwimmbeckens und studierte das bunte Wandmosaik. Exotische Tiere, die sich um eine Wasserstelle versammelt hatten. Mehr und mehr gelangte er zu der Einsicht, dass Franz-Peter Tebartz-van Elst wohl doch nicht so furchtbar verschwenderisch gewesen war, wie ihm gemeinhin nachgesagt wurde.
Vom Wellnessbereich ging es weiter in das Ankleidezimmer. Zu rotierenden Kleiderschränken mit maßlosem Fassungsvermögen. Ignatz Fassungsvermögen war längst erschöpft. Er hatte die Nase voll. Als Funke »Und zu guter Letzt, das Allerheiligste!« ausrief und die Entourage im Schlepptau auf die letzte verbliebene Tür zuhielt, packte er Theo am Arm.
»Na, hast Du genug?« Theo grinste breit.
Als Ignatz den Mund öffnete, um zu antworten, ertönte der Schrei. Hell. Laut. Panisch. Der Schrei einer Frau, einer jungen Frau. Zweifellos die Begleiterin des Anzugträgers. Einen Moment lang war Ignatz wie gelähmt. Reglos betrachtete er Theo, sah in dessen Gesicht den eigenen Schrecken wie in einem Spiegel. Dann stürzten sie los. Den anderen nach. Ins Allerheiligste.