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ОглавлениеKapitel 3
Eichstätt, Gabrieli-Quartier, Innere Freiwasserstraße,
Samstag, 3. Oktober 2015, 10:11 Uhr
Raupenbagger durchpflügten den vom Regen aufgeweichten Lehmboden vor dem vierstöckigen Rohbaugerippe aus Beton und Glas. Über die vergangenen Monate hatte sich das Gebäude Stück für Stück aus dem Kalkgestein emporgehoben, erstrahlte nun am Ufer der Altmühl wie die knöchernen Überreste eines urzeitlichen Megadinosauriers. Geräuschlos schoben sich die Glastüren auf, als Ignatz hinter seinem Bruder Theo den Eingang erreichte. Über weißen Marmor hasteten sie in die Empfangshalle, wo ein gedrungener Mann in neongelber Weste gerade eine Gruppe Menschen in einen Aufzug dirigierte.
»Guten Morgen«, grüßte Ignatz, fragte sich gleichzeitig was an diesem Morgen gut sein sollte. Zu wenig Schlaf. Zu wenig Kaffee. Zu wenig Sonnenschein. Der Mann in der Weste reichte ihm wortlos einen Plastikhelm. ›Felix Brandner. Bauleiter der Schlotter GmbH‹ las Ignatz auf dem Messingschild an seiner Brust. Er nahm den Helm entgegen, setzte ihn auf den Kopf. Der Helm war viel zu groß. Natürlich.
»Steht Dir gut, Bruderherz.« Mit einem frechen Grinsen klopfte Theo auf den Deckel. Ignatz drückte sich an Brandner vorbei in die Kabine. Er fühlte sich wie Calimero, die italienische Zeichentrickfigur aus der Kindheit, die stets eine halbe Eierschale mit sich herumgetragen hatte. Theos Helm passte wie angegossen. Natürlich. Die Türen schlossen sich.
»Müssen wir uns das denn wirklich antun, Theo?« Kaum merklich setzte sich der Aufzug in Bewegung. »Du kannst Dir doch so eine überteuerte Immobilie gar nicht leisten.« Im Hintergrund dudelte leise ein Jazzklassiker.
»Nö, aber das weiß ja hier niemand, oder?«
Das schicke Pärchen, das ihnen gegenüberstand, bedachte Theo mit einem pikierten Blick. Er in Anzug und Krawatte. Sie im hellen Kostüm. Der Ausdruck auf ihren Gesichtern vermittelte, dass sie mit Theos unappetitlich offen zur Schau getragener Illiquidität nichts anzufangen wussten. Ignatz entdeckte sandfarbene Lehmflecken auf ihren Schuhspitzen. Es waren die gleichen Flecken, die auch an seinen Schuhen hafteten. Wir haben zwar unterschiedlich viel Geld in den Taschen und doch müssen wir über dieselbe schmutzige Erde wandeln, dachte er zufrieden, besah sich die anderen Passagiere.
Links von ihm ein großer, mürrisch dreinblickender Mann mit schwarzem Vollbart. Er lehnte an der Kabinenwand und spielte mit dem Smartphone. Daneben eine ältere Dame mit wachen Augen, den Gehstock in der einen, eine große Tasche in der anderen Hand. Sie zwinkerte ihm zu, als ihre Blicke sich trafen. Waren die beiden wirklich am Kauf eines so schwindelerregend überpreisten Eigenheims interessiert oder einfach nur neugierig auf das, was im Eichstätter Tagblatt doppelseitig als ›Wohntraum über den Dächern der Stadt‹ gepriesen wurde?
Der Aufzug stoppte, die Türen öffneten sich. Einer nach dem anderen verließen sie die Kabine, versammelten sich vor einem deckenhohen Panoramafenster. Dahinter zeigte sich die barocke Altstadt malerisch unter wolkenverhangenem Himmel.
»Ist die Aussicht nicht wunderbar, Schatz?« Die Dame im Kostüm schlang ihrem Begleiter die Arme um den Hals.
»Hhm«, erwiderte der, wenig begeistert. »Was ist denn das da hinten für ein Kasten? Schaut ja aus wie sozialer Wohnungsbau.«
»Das ist das Flüchtlingsheim, das die Stadt hat bauen lassen«, antwortete der Vollbärtige, ohne von seinem Smartphone aufzuschauen. »Da werden demnächst noch mal hundert Flüchtlinge aus Syrien einziehen.« Der Anzugträger gab ein Grunzen von sich. Seine Begleiterin klimperte bestürzt mit den Lidern.
»Aber hinter dem hohen Zaun kommen die doch nicht raus. Die bleiben eingesperrt, bis das mit der Ausweisung geklärt ist, oder etwa nicht?« Bevor jemand antworten konnte, öffneten sich die Türen des Fahrstuhls erneut. Ein adrett gekleideter Mann hüpfte aus der Kabine.
• • •
»Willkommen im Gabrieli-Quartier!« Mit breitem Lächeln eilte er auf sie zu. ›Fred Funke. Immobilienmakler der Schlotter GmbH‹ war am Revers des taubenblauen Jacketts zu lesen. Funke streckte Ignatz eine braungebrannte Hand entgegen.
»In diesem Gebäude werden sie von purem Luxus umgeben sein«, erklärte er in einer Wolke aus teurem Rasierwasser.
»Nur die allerbesten Materialien werden hier verarbeitet.«
Ignatz blickte sich um. Es brauchte einiges an Phantasie den Worten des Maklers Glauben zu schenken. Das ganze Gebäude steckte noch in den Geburtswehen. Das Stockwerk hatte weder ausreichend Wände noch einen Bodenbelag. Bauplane schlug im Wind. Von der Decke hingen zahllose Kabel herab und im Betonboden klafften Löcher, nur notdürftig mit kniehohem Gitter gesichert. Alles in allem glich der Ort eher einer Bombenruine als einem Luxusquartier. Funke schien es nicht zu stören. Im Gegenteil.
»Sie werden sehen, unsere Wohnungen sind wahrhafte Meisterwerke«, tönte er und flog weiter, den Rest der Truppe begrüßen.
Währenddessen machte sich Brandner demonstrativ lustlos daran, ein paar farbige Hochglanzprospekte zu verteilen. Auch Ignatz bekam eines zu fassen. Auf den Weitwinkelfotos sah alles wirklich sehr luxuriös aus. Er ließ den Prospekt in der Gesäßtasche verschwinden.
»Folgen Sie mir Herrschaften. Ich verspreche Ihnen, unsere Musterwohnung wird sie begeistern.« Funke hopste los, einer Tür aus Holz und milchigem Glas entgegen. Zwischen all dem Bauschutt wirkte sie wie das Portal in eine andere Welt. Das schnieke Pärchen heftete sich ihm an die Fersen, gefolgt vom Bärtigen und der älteren Dame. Trotz der Gehhilfe legte sie eine erstaunliche Schnellfüssigkeit an den Tag, bis ein schriller Pfiff sie alle in der Bewegung erstarrten ließ.
»Ja, wo samma denn, Funke?« Den Daumen in den Gürtel der Arbeitshose gehakt, produzierte sich Brandner vor einem Betonmischer. »Das ist ein Sicherungsbereich. Hier gilt die Unfallverhütungsvorschrift.« Funke war baff. Er öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. Wie ein Karpfen, der durchs Aquariumglas das Treiben in der Restaurantküche bestaunte. Brandner beorderte sie zurück vors Panoramafenster hinter dem sich der Himmel weiter verdüstert hatte.
»Mensch Brandner, ist das denn unbedingt notwendig?« Funke presste die Handflächen aufeinander. Brandner beachtete ihn nicht. Schmallippig forderte er sie auf, sich hintereinander aufzureihen. Sie taten es, wenn auch widerwillig.
»Sie machen sich lächerlich, Brandner«, maulte Funke. Es nutzte nichts. Der Bauleiter lotste sie im Gänsemarsch über das Stockwerk. Im Zickzackkurs, vorbei an Kabelbergen, Schutthaufen und halbfertigem Gemäuer. Der Wind hatte aufgefrischt, lautstark rüttelte er an der Bauplane.
»Linientreu, wie ein preußischer Beamter«, raunte Theo, als die Delegation endlich vor der Wohnung angelangt war und auf weitere Anweisungen wartete. »Der Kerl sollte sich Gauleiter nennen. Das trifft es besser als Bauleiter.« Er kicherte und die Alte, die seine Worte gehört hatte, lachte heiser.
»Sind Sie jetzt zufrieden Brandner?« Funke richtete die Krawatte, deren fest sitzender Knoten sich im Eifer des Gefechts kein bisschen gelöst hatte. Brandner zuckte die Achseln.
»Vorschrift ist Vorschrift.« Auf direktem Weg trottete er zurück zum Aufzug, achtete nicht auf gemeine Bodenfallen, Funken sprühende Stromkabel oder Extremitäten verstümmelndes Schneidwerkzeug. Lächelnd sah Ignatz ihm nach, während der Makler einen Schlüssel aus der Hosentasche fingerte und sich über das Türschloss beugte.