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ОглавлениеKapitel 1
Eichstätt, Gabrieli-Quartier, Innere Freiwasserstraße,
Freitag, 2. Oktober 2015, 22:23 Uhr
Ihre ganze Sorge galt Olivier. Das Gebäude war nicht sicher. Hier oben gab es keine Wände. Die Geschoße wurden lediglich von Stahlbetonsäulen getragen und überall klafften Löcher im Boden. Berni hatte ihr erklärt, dass dort später einmal Glas das Tageslicht einlassen sollte. Nur ein einziger unbedachter Schritt und man stürzte haltlos in die Tiefe. In welchem Stockwerk waren sie überhaupt? War es das Dritte? Oder das Vierte? Sie hatte keine Ahnung, war völlig orientierungslos. Über die windige Leiter hatte er sie das Baugerüst hinaufgetrieben. Höher, immer höher. Und die ganze Zeit hatte sie nur an Olivier gedacht.
Dann endete die Leiter und es ging nicht mehr weiter. Er befahl ihr unter der Plane hindurchzukriechen, sich neben dem Gerüst auf den Boden zu legen. Flach auf den Bauch. Hände über den Kopf, wie in einem billigen Sonntagabendkrimi. Als sie von der Leiter stieg, dachte sie ganz kurz daran, ihm den Stiefelabsatz ins Gesicht zu treten. Aber das war nicht möglich. Er trug Olivier auf seinem Arm. Fiel er, so fiel auch Olivier und einen Sturz aus dieser Höhe würden sie beide nicht überleben. Also tat sie, was er wollte, legte sich flach auf den eiskalten Beton.
Er stand jetzt über ihr, sie konnte ihn atmen hören. Seine Atemzüge ruhig und gleichmäßig. Keine Spur von Panik. Eine ganze Weile stand er schweigend in der Dunkelheit und sie betete, dass er Olivier nicht absetzte, ihn nicht sich selbst überließ.
»Auf die Knie, bitte«, forderte er. Seine Stimme merkwürdig beherrscht. Beinahe freundlich. So wie die eines Schaffners, der eine Reisende nach der Fahrkarte fragte. Sie gehorchte, stemmte die Handflächen auf den Beton und zog die Beine unter den Körper. Kleine Steinchen drückten ihr in die Kniescheiben, als sie auf dem Estrich niederkniete. Sie ignorierte es, hob den Kopf und betrachtete die Silhouette seiner Gestalt vor den Lichtern der Stadt. Noch immer hielt er Olivier auf seinem Arm. Erleichtert atmete sie auf.
Einen Lidschlag später kam die Angst. Plötzlich und unerwartet. Heftig und unkontrolliert. Rasende Angst. Todesangst. Sie füllte jeden Winkel ihres Bewusstseins. Kroch unter ihre Haut, erfasste jede Faser ihres Körpers. Sie konnte nichts dagegen tun. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie in sein Gesicht gesehen, dort unten am Altmühlufer, als er sie abgepasst und hinter den Bauzaun gezerrt hatte. Sie hatte es erkannt, das unheimliche Lodern in seinen Augen.
»Und jetzt, die Augen schließen.« Er sagte es, so als spreche er mit einem Kind, dem ein lang gehegter Wunsch erfüllt werden wollte. Sie tat, was er verlangte. Zitternd schloss sie die Lider. Was für ein perverses Spiel hatte er sich ausgedacht? Wollte er über sie herfallen? Sich hier oben an ihr befriedigen? Wie ein Tier seinen Trieb ausleben? Das Scharren von Schuhsohlen auf Beton. Er war ihr jetzt so nahe, dass sie ihn riechen konnte. Sie meinte gar die Wärme seines Körpers zu spüren. Jeden Moment rechnete sie damit, dass er den Reißverschluss seiner Hose aufzog. Hielt verbissen den Atem an.
»Ich hab hier etwas für Dich. Du darfst die Augen öffnen.«
Zögernd schlug sie die Lider auf und sah … Olivier! Sie juchzte vor Freude, als er ihr Olivier in die Arme legte. Sanft, so wie man einer Mutter ihr Neugeborenes überreicht. Überglücklich drückte sie Olivier an sich, realisierte erst jetzt, dass er sich nicht rührte. Kalt und leblos war sein kleiner Körper. Fast wie … Tot. Um Himmelswillen, bitte nicht! Sie packte Olivier an den Schultern. Schüttelte ihn, in der verzweifelten Hoffnung er würde schlafen. Doch seine Glieder blieben schlaff. Seine Augen schwarz und stumpf. Oh Gott, nein! Ihr Baby war tot! Er hatte ihn getötet. Dieser verfluchte Scheißkerl hatte ihn heimtückisch ermordet. Wut stieg in ihr auf. Unglaubliche Wut. Aus Leibeskräften begann sie zu schreien. Sie wollte aufspringen. Ihn schlagen. Das Monster in die Tiefe stürzen. Da spürte sie seine Hände im Nacken.
Sie riss den Kopf zurück, als sich seine Finger um ihren Hals legten. Er stand hinter ihr. Das Gesicht zu einer schemenhaften Fratze verzogen. Sie wand sich, versuchte sich aus dem Griff zu befreien. Unmöglich. Er war zu kräftig. Viel zu kräftig. Ohne Erbarmen drückten seine Finger zu. Wieder begann sie zu schreien. Versuchte es zumindest, aber nur ein klägliches Röcheln fand den Weg aus ihren Lungen. Er verstärkte den Druck. Sie hörte, wie etwas in ihr zerbrach. Verzweifelt rang sie nach Luft. Zerrte an seinen Handgelenken. Schlug um sich. Es half nicht. Wie zwei Schraubstöcke umkrallten seine Finger ihren Hals. Er wollte sie erwürgen. Sie töten. So wie er Olivier getötet hatte. Aber sie wollte nicht sterben. Nicht hier. Nicht jetzt. Sie musste kämpfen. Sich ihm widersetzen. Mit aller Kraft bäumte sie sich auf. Boxte mit den Fäusten. Strampelte mit den Beinen. Alles vergebens. Ihre Hiebe und Tritte gingen ins Leere. Unbeeindruckt bohrten sich seine Klauen immer tiefer in ihre Kehle. Sie fühlte, wie die Energie aus ihrem Körper wich, ihre Muskeln erschlafften. Da wurde ihr klar, dass es kein Entrinnen gab. Der Kampf war verloren. Ein letztes Mal noch dachte sie an Berni. Dachte an das Leben, das sie einander versprochen und dann doch nie gelebt hatten. Sie fühlte nicht mehr, wie ihre Arme und Beine zu zucken begannen. Sah nur die hellen Lichter vor ihren Augen tanzen. Sinnlose Entladungen eines sterbenden Gehirns. Dann erloschen die Lichter und ihr Geist verlor sich in der endlosen Finsternis.
• • •
Er löste die Umklammerung, stieß den toten Körper von sich. Mit einem dumpfen Laut schlug er auf, verschmolz zu seinen Füßen mit den Schatten. Seine Finger schmerzten. Er hatte nicht gedacht, dass es so anstrengend sein würde. Behutsam dehnte er die steifen Glieder, als eine Böe die Schutzplane von einer der Säulen riss. Flatternd verschwand sie in der Nacht, gab den Blick frei auf die beleuchtete Stadt. Er fühlte sich gut. Unvorstellbar gut. Die Vergeltung gab ihm Kraft. Kraft sich aus dem Kerker der Trauer zu befreien, in dem er so lange hatte ausharren müssen. Endlich würden sie Buße tun für das, was sie ihm angetan hatten. Jeder einzelne von ihnen sollte ihn spüren, den Schmerz, der sich über die Jahre durch seine Seele gefressen hatte, bis nichts mehr von ihr übrig war. Sie hatten es verdient, das Leid, das er über sie bringen würde. Sie alle. Ihr Todeskampf würde ihn stark machen. Stark und mächtig. Und frei. Frei, um wieder mit ihr vereint zu sein. Wiedervereint. Nach all der Zeit. Für immer.