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Kapitel 10

Eichstätt, Gabrieli-Quartier, Innere Freiwasserstraße,

Samstag, 3. Oktober 2015, 15:07 Uhr

Pallasch öffnete die Jacke. Bei jedem Herzschlag hörte er das Blut in den Ohren rauschen. Sein Blutdruck hatte sich in schwindelerregende Höhen verabschiedet. Kein Wunder, der Zahn der Zeit nagte gnadenlos. Von Jahr zu Jahr nahmen die Verschleißerscheinungen zu. Sein Körper war den Strapazen nicht mehr gewachsen. In ein paar Tagen war er Sechzig. Inge hatte angedeutet, dass sein Geburtstag doch ein guter Zeitpunkt sei, den Dienst endlich an den Nagel zu hängen. ›Abhalftern‹ hatte sie es genannt und argumentiert, dass die durchschnittliche Lebenserwartung des deutschen Mannes siebenundsiebzig Jahre betrug. Rein statistisch blieben ihnen also noch siebzehn gemeinsame. Die sollten sie nutzen. Aber wie? Pallasch war unsicher. Was sollte er ohne Morde anfangen? Sich einen Fernseher zulegen? Tagein tagaus die Nachbarn beobachten? Einen Krimi schreiben? Nein, ohne den verhassten Job konnte er nicht. Er war darin gefangen, hatte nichts anderes. Keine Hobbys. Keine Freundschaften. Selbst zu seiner einzigen Tochter bestand so gut wie kein Kontakt. Es war eine Tatsache, der es sich zu stellen galt: Sein Leben war leer ohne Leichen.

»Waren Sie wandern Chef?« Lachmanns Blick war spöttisch. Er war aus dem Schutzanzug gestiegen, versuchte die langen Haare in einen Gummi zu zwingen. Pallasch sah verstohlen an sich herunter. Inge hatte ihm die Wanderausrüstung ihres verstorbenen Vaters vermacht. Er stand in altmodischer Kniebundhose, Wollstrümpfen und Stiefeln vor dem Kommissar.

»Nach was sieht’s denn aus, Lachmann?« Pallasch machte einem Techniker Platz, der einen großen Tatortstrahler durch den Flur manövrierte. Lachmann zog den Plastikschutz von den Schuhen.

»Echt Retro, Chef. Passt zu Ihnen.« Die Miene, die er bei dieser Bemerkung machte, war nicht schwer zu deuten. Pallasch wusste nicht gleich, was er antworten sollte. Der Techniker war aus der Tür, er beschloss es auf sich beruhen zu lassen.

»Kennen wir schon die Identität der Toten?«, fragte er. Lachmann versenkte die Überschuhe in einem blauen Müllsack.

»Nein, aber möglicherweise kann uns der Immobilienmakler weiterhelfen.« Er zog die schwere Tür auf. »Ein gewisser Fred Funke. Wartet draußen. Hatte einen Nervenzusammenbruch. Wollte auf keinen Fall noch einmal in die Wohnung zurück.«

Pallasch trat hinter Lachmann auf das offene Stockwerk. Ein eisiger Wind empfing sie. Es gab keine Außenmauern. Folie war zwischen Säulen aus Stahlbeton aufgespannt.

»Unter den Kaufinteressenten sind übrigens auch zwei alte Bekannte, Chef.« Lachmann grinste geheimnisvoll.

»Zwei alte Bekannte?« Pallasch hatte vorgehabt, sich hier draußen ein wenig umzusehen. Vielleicht gab es etwas zu entdecken, was für die Ermittlung von Bedeutung sein konnte. Jetzt wartete er, dass Lachmann weitersprach.

»Ignatz und Theodor Pussél. Die Zwillingsbrüder.« Der Kommissar schlug den Jackenkragen hoch. Pallasch konnte es nicht fassen. Ausgerechnet die Brüder Pussél. Ungläubig schüttelte er den Kopf. Im vergangenen Jahr war Theodor hier in Eichstätt in einen heftigen Schusswechsel geraten. Wie durch ein Wunder war er unverletzt geblieben.

»Wo sind die beiden?« Pallasch ignorierte das taube Gefühl, das sich an seinem Hinterkopf bemerkbar machte.

»Anna und Berger verhören sie drinnen im Wohnzimmer.« Lachmann stoppte an einem orangefarbenen Betonmischer.

»Neben den Pusséls und Makler Funke gibt es noch vier weitere Zeugen. Wollen Sie selbst mit den Brüdern sprechen, Chef?« Pallasch dachte kurz darüber nach. Er mochte die kauzigen Zwillinge. Mehr als einmal hatten sie ihm geholfen einen verzwickten Fall zu lösen.

»Nein«, entschied er kurzentschlossen. »Wir nehmen uns den Makler vor.« Pallasch hatte den Mann im graublauen Anzug bereits gesichtet. Vor dem Panoramafenster, gleich neben dem Aufzug. Er stand mit dem Rücken zu ihnen, sah selbstversunken auf die Stadt hinab.

• • •

Der Tatortpfad zwischen Wohnung und Aufzug war mit rotweißem Absperrband gesichert. Er schlängelte sich quer durchs Stockwerk. Es galt allerlei Hindernissen auszuweichen. Schutthügeln. Baumaschinen. Bodenlöchern. Spätestens als Lachmann geräuschvoll einen Blecheimer umtrat, war ein Überraschungsangriff auf Makler Funke zunichte gemacht.

»Der Bauleiter hat auf diesen Weg bestanden«, erklärte Lachmann entschuldigend. »Zur Sicherheit. Felix Brandner heißt der Mann.« Pallasch bemerkte, dass Lachmann ein altmodisches Notizbuch in der Hand hielt. Er musste lächeln.

Beim letzen gemeinsamen Fall hatte die übermäßige Begeisterung des Kommissars für die technischen Finessen seines Smartphones ihn beinahe das Leben gekostet. Lachmann schien aus der Erfahrung gelernt zu haben. Schon eine ganze Weile hatte Pallasch ihn nicht mehr mit dem Smartphone hantieren sehen.

»Steht Ihnen gut, Lachmann. Echt Retro.« Pallasch deutete eine Schreibbewegung an und stapfte weiter. Auf den restlichen Metern spürte er Lachmanns bohrenden Blick im Rücken. Der Kommissar schmollte. Erst als sie neben dem Makler vor dem Panoramafenster standen, zog er seine Dienstmarke hervor, um in gewohnter Manier seinen Text abzuspulen.

»Kommissar Lachmann und Hauptkommissar Pallasch. Mordkommission Ingolstadt.« Der Makler streckte ihnen eine gebräunte Hand entgegen.

»Funke. Fred Funke. Immobilienmakler.« Die Stimme klang wie die eines Reklamesprechers. Passend, fand Pallasch. Als Funke merkte, dass seine Geste nicht erwidert wurde, zog er die Hand zurück. Pallasch stellte sich ans Fenster. Der Regen hatte nachgelassen. Hauchfeine Tröpfchen rieselten wie an unsichtbaren Fäden aufgereiht in Richtung Erde. Er musste die Lider zu schmalen Schlitzen verengen, um sie sehen zu können. Entlang des Flusses hatte sich ein dichter, bodennaher Nebel über das Tal gelegt. Die wenigen Autos, die sich über das Kopfsteinpflaster der engen Gassen quälten, hatten bereits die Scheinwerfer eingeschaltet. Pallaschs Blick fiel auf den Turm der nahen Klosterkirche. Die goldene Heilige auf der Spitze reckte ein Fläschchen gen Himmel. Walburgisöl. Ein Eichstätter Wunder. Der Leichnam der Heiligen sonderte die zähe Flüssigkeit ab, sie tropfte aus ihrem Kalksteinsarg.

Von den Klosterschwestern in Fläschchen abgefüllt, wurde der kostbare Saft an Leichtund Abergläubige verkauft. Dem Öl wurde eine heilende Wirkung zugeschrieben. Für Pallasch alles Hokuspokus.

»Oh Gott.« Funke zupfte ein Einstecktuch aus der Brusttasche. »Es ist so schrecklich.« Er tupfte sich die Augen. »Die arme Fanny. Und ausgerechnet hier musste sie sterben.«

Das letzte Quartier

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