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ОглавлениеKapitel 13
Landershofen, Schimmelleite,
Samstag, 3. Oktober 2015, 16:22 Uhr
Schlotter war am Ende. Pallasch konnte es am Blick erkennen. Hektisch jagten seine Pupillen umher ohne Halt zu finden. Das war typisch. Die meisten Menschen verhielten sich so, mussten sich an Äußerlichkeiten festhalten, wenn sie mit einer schrecklichen Nachricht konfrontiert waren. Das Gehirn benötigte Stabilität, um nicht aus der Fassung zu geraten. Sich nicht im Sturm der Emotionen zu verlieren. Im Gegensatz zu seinen Augen rührte sich der Rest von Schlotters Körper keinen Millimeter. Wie festgefroren hockte er am Rand der bunt geblümten Chaiselongue. Die Hände flach auf den Schenkeln, den Oberkörper aufgerichtet, wie ein Erdmännchen beim Ausschauhalten.
»Wann haben Sie Ihre Frau das letzte Mal gesehen?« Pallasch fragte nun schon zum dritten Mal. Er saß Schlotter gegenüber in einem modernen Clubsessel. Daneben Lachmann in einem weiteren. Notizbuch und Bleistift einsatzbereit. Schlotter antwortete nicht, richtete den Blick nun an ihnen vorbei, starr geradeaus auf einen riesigen, weiß lackierten Flügel. Mehrere Photographien standen auf dem geschlossenen Deckel. Großformate in silbern glänzenden Rahmen.
»Herr Schlotter, bitte …« Lachmann drehte den Bleistift zwischen den Fingern. »Wir benötigen Ihre Aussage. Verstehen Sie das nicht?« Schlotter reagierte nicht, fixierte den Flügel. Pallasch rollte die Wollstrümpfe von den Waden. Die Haut darunter juckte furchtbar. Er hätte sich umziehen sollen, doch dafür war es zu spät. Als er sich aus dem Sessel stemmte, knackten seine Kniegelenke. Er beachtete es nicht, schlurfte über den hellen Teppich zum Flügel hinüber. Auf jeder der dort versammelten Fotographien erkannte er Franziska Schlotter. Arm in Arm mit ihrem Mann vor einem Sportwagen. Lachend, eine Sektflöte in der Hand. Einen Kussmund formend neben ihrem Mops im Gras. Pallasch hob einen Fotorahmen vom Flügel. Franziska Schlotter hatte das Gesicht einem strahlend blauen Himmel zugewandt. Im Hintergrund eine von sattgrünen Zypressen umschlungene, mohnrote Hügellandschaft. Toskana, vermutete Pallasch.
»Wo ist das Foto aufgenommen?« Schlotters Blick fing ihn ein, folgte ihm, als er langsam zur Sitzgruppe zurückkehrte. Pallasch reichte ihm das Bild. Schlotter nahm es entgegen.
»Das ist in der Nähe von Vinci. Leonardo’s Geburtsort.« Ein Lächeln huschte über seine Lippen, ganz kurz nur. »Wir besitzen dort ein Landhaus. Fanny liebt es sehr.« Mit den Fingerspitzen umfuhr Schlotter die Silhouette seiner Frau. Seiner toten Frau. Auf Zelluloid gebannt. Hinter Glas. Für immer. Er schluckte ein paar Mal. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Pallasch wusste, dass sie schnell sein mussten, wollten sie noch etwas Relevantes aus ihm herausbekommen, bevor die Gefühle ihn gänzlich übermannten.
»Wann haben Sie ihre Frau zuletzt gesehen, Schlotter?« Pallasch trat einen Schritt zurück. Schlotter legte die Fotografie neben sich aufs Polster. Mit dem Glas nach unten.
»Fanny und ich haben gestern zusammen zu Abend gegessen.« Er hob den Blick. Seine Stimme war fest, als er sprach.
»Danach haben wir im Fernsehen noch einen Krimi geschaut. Ein Mordfall …« Er schloss die Lider, legte die Handfläche auf den Rahmen. »Kurz nach halb elf bin ich zurück ins Büro. Ich musste noch einen Bauentwurf fertig machen. Am Montag ist Stadtratssitzung. Ich muss ihn dort vorstellen.« Schlotter öffnete die Augen. »Ich hab die ganze Nacht durchgearbeitet. Als ich heut Morgen nach Hause gekommen bin, war Fanny nicht da.« Er sah zum Flügel. Seine Lider flatterten.
»Ihre Frau war nicht zu Hause und Sie haben sich keine Sorgen gemacht?« Lachmann trommelte den Bleistift aufs Notizbuch. Pallasch ärgerte sich. Lachmann wusste genau, dass er nicht unterbrechen durfte. Er störte das Ritual. Sein Ritual.
»Nein«, erwiderte Schlotter, ließ die Schultern hängen.
»Weshalb nicht?«, bohrte Pallasch nach. Schlotter hob die Hände, strich die halblangen Haare zurück. Pallasch kannte die Geste. Sie sollte die lichte Stelle am Hinterkopf verbergen. Bei ihm hatte es bald nicht mehr geholfen. Er war auf Kurzhaarfrisur umgestiegen.
»Fanny wollte den Tag mit Olivier im Eichstätter Hospiz verbringen. Sie betreut dort Sterbende. Ich hab sie erst für heut Abend zurück erwartet.« Schlotter biss die Zähne aufeinander. Es fiel ihm schwer die Tränen zurückzuhalten.
»Olivier?« Lachmann sah von seinem Büchlein auf. Pallasch schenkte ihm ein strafendes Stirnrunzeln. Vergebens. Lachmann bemerkte es nicht.
»Ihr Hund. Ein Mops«, entgegnete Schlotter gepresst. »Er war ihr ein und alles. Wir konnten keine Kinder bekommen. Sie verstehen?« Pallasch verstand, was Schlotter andeuten wollte. Es war ein weit verbreitetes Phänomen, dass sich kinderlose Paare einen Hund zulegten. Psychologen bezeichneten das als Kompensation des leeren Nests. So jedenfalls hatte Pallasch es in einer von Inge’s Frauenzeitschriften gelesen. Lachmann notierte ins Notizbuch.
»Haben Sie eine Idee, wer Ihre Frau getötet haben könnte?« Pallasch war sich bewusst, dass die Frage ziemlich unsinnig war. Hätte Schlotter eine Vermutung, dann hätte er ihnen die längst mitgeteilt. War er selbst der Mörder, würde er ihnen das wohl kaum auf die Nase binden. Schlotters Lippen wurden schmal, als er antwortete.
»Meine Frau war der gutmütigste Mensch, den ich kenne, Herr Kommissar. Sie hatte keine Feinde. Jedermann hat sie geliebt.« Schlotters Augenwinkel füllten sich mit Tränen. Jetzt konnte er sich nicht länger beherrschen. Die Hände vor dem Gesicht begann er zu schluchzen. Pallasch stellte fest, wie merkwürdig es klang. Das Heulen erwachsener Männer erinnerte ihn stets an das Brunftgehabe von Schimpansen. Oder an irgendein Wildtier, das in eine Falle getappt war. Lachmann drehte den Bleistift zwischen den Fingern.
»Kommt Ihnen das bekannt vor?« Pallasch zog den Folienbeutel mit der Notiz aus der Jacke. Mit dem Handrücken wischte Schlotter sich die Augen. Er las, seine Gesichtszüge veränderten sich. Die haltlose Traurigkeit verschwand. Die buschigen Brauen rückten nahe zusammen.
»Was soll das?«, fragte er misstrauisch. »Wo haben Sie das her?«
»Es steckte im Mund der Leiche.« Lachmann lehnte sich im Sessel zurück. »Im Mund Ihrer Frau, Herr Schlotter.« Pallasch verdrehte die Augen.
»Was?« Schlotter sprang auf. »In Fannys Mund?« Er ballte die Hand. »Ist meine Frau …« Er stockte. »Ist sie missbraucht worden?«
»Das können wir noch nicht genau sagen.« Pallasch stopfte den Beutel zurück in die Jacke. »Bisher gibt es keine Anzeichen dafür.« Schlotter öffnete die Faust und atmete aus. Dann setzte er sich zurück auf die Liege. Pallasch blieb stehen.
»Haben Sie eine Ahnung, was die Notiz zu bedeuten hat?« Schlotter stützte die Ellenbogen auf die Knie, ehe er antwortete.
»Er wird weiter morden, Herr Kommissar.« Schlotter sah ihn an. »Und er mag keine Hunde.« Pallasch nickte stumm. Genau das war die Botschaft. Da war er sicher.
»In der Musterwohnung läuft Musik«, schaltete sich Lachmann ein. »Warum, Herr Schlotter?« Schlotter sprach mechanisch ohne aufzuschauen.
»Wissenschaft. Musik setzt Emotionen frei. Das steigert die Kaufbereitschaft. Sobald die Wohnung betreten wird, startet das System automatisch.« Er suchte mit der Hand den Fotorahmen. »Ich spiele nur Songs, die Fanny und mir etwas bedeuten …« Er schluchzte. »Bedeutet haben.«