Читать книгу Heinrich Töpfer und die Jubelkugel - Detlef Köhne - Страница 14

12

Оглавление

Die Welt stand still. Heinrich lag auf einem weichen Untergrund. Er spürte, dass nichts so war, wie es sein sollte. Alles war schwarz. Undurchdringlich. Dann drangen Geräusche an sein Ohr. Leise zunächst, dann deutlicher. Unter Aufbietung aller Willenskraft zwang er sich zurück ins Bewusstsein.

»Hast du dem Kleinen was in den Kaffee getan?«, hörte er die Stimme eines Unbekannten sagen. »Der rührt sich ja überhaupt nicht.«

»Es war seit über zehn Jahren seine erste Reise durch ein Dimensionstor«, antwortete die Stimme Hagweeds. »Gib ihm einfach ein Glas Wasser, oder noch besser, eine Dose Red Bull, dann ist er im Nu wieder auf den Beinen.«

Heinrich stemmte die Augen auf und bereitete damit endlich der Schwärze ein Ende. Sein Kopf lag auf einem äußerst bequemen Kissen, das Kissen wiederum lag auf einer Couch, und die Couch stand, soweit er die Lage beurteilen konnte, im sehr gemütlich eingerichteten Hinterzimmer einer ziemlich lauten Gastwirtschaft. Der Lärm aus dem Gastraum drang nur gedämpft zu ihm, aber es schien eine Menge los zu sein und das schon am frühen Nachmittag. Wie ihm eine Uhr an der Wand verriet, war er nur wenige Minuten weggetreten gewesen.

Hagweeds ewig grinsendes Gesicht erschien im Türrahmen. »Moin. Wasser, Red Bull oder Cola?«, fragte er Kaugummi kauend.

»Wasser, wenn's recht ist«, stöhnte Heinrich und richtete sich auf. »Was ist passiert?«

Ein zweiter Mann, etwas älter als Hagweed, ziemlich groß, aber dafür unglaublich schmal und klapprig, mit einem frischen roten Gesicht, schob sich an Hagweed vorbei und reichte Heinrich ein Glas Wasser.

»Hallo, Kleiner«, begrüßte er Heinrich.

»Heinrich, das ist Kalli, der Wirt des ›Leckenden Nachttopfs‹«, stellte Hagweed den Schmalen vor.

»Hallo«, winkte Heinrich müde.

Kalli, der Wirt, nickte ihm freundlich zu. »Sein Gepäck ist schon oben«, sagte er dann zu Hagweed. »Kommt ihr mit dem Rest allein klar? Ich muss mich wieder um die Gäste kümmern.«

»Sicher«, nickte Hagweed. »Wir schaffen den Weg hinüber schon allein. Dank dir, Kalli.«

»Beeilt euch lieber ein bisschen«, sagte Kalli im Hinausgehen. »Die Läden machen bald zu.«

Hagweed sah zu, wie Heinrich sein Glas Wasser leerte. »Na, geht's wieder?«, fragte er sodann.

»Ich denke schon«, sagte Heinrich, obwohl das nicht ganz stimmte. Er war furchtbar durcheinander und hatte trotz des Glases Wasser kaum einen Tropfen Spucke im Mund. Wo war er und wie war er hierher gelangt? Irgendwie überstieg das Ganze sein Begriffsvermögen. »Was ist eigentlich passiert und wo zum Henker sind wir hier? Ich war doch gerade noch zu Hause und ... Sind wir mit deinem Auto gefahren?«

Hagweed schüttelte den Kopf. »Ich habe die Karre bei euch stehen gelassen. Man bekommt hier immer so schwer einen Parkplatz. Ich hole sie dann später.«

»Aber wie ...«

»Wir haben einen kleinen Sprung durch ein Dimensionstor gemacht«, erklärte Hagweed. »Nichts Ungewöhnliches also.«

Heinrich verzog das Gesicht zu einem einzigen Fragezeichen.

»Sagen wir einfach, wir haben uns durch eine temporale Raumkrümmung begeben, hervorgerufen durch eine gelenkte magische Entladung. Durch ein Dimensionstor eben.«

»Ach so«, winkte Heinrich betont lässig ab. »Ja, dann ... Hör mal, ich weiß ja nicht, was für ein Zeug du da so rauchst«, er schielte auf Hagweeds merkwürdig aussehende Zigarette, die er sich soeben angezündet hatte, »aber du willst mir gewiss nicht ernsthaft weismachen, wir seien mit Hilfe von Zauberkraft hierhergekommen?«

»Na, dann bin ich mal gespannt, wie viele andere plausible Erklärungen du mir dafür liefern kannst«, lächelte Hagweed breit. »Zu deiner Information: Wir sind weiter gereist, als du vielleicht annimmst.«

Heinrich wischte sich die schweißnasse Stirn. Er fühlte sich hochgradig verwirrt und wusste überhaupt nicht mehr, was er denken sollte. Dabei hatte der Tag so gut angefangen. Eine Grillparty bei bestem Wetter hatte in Aussicht gestanden und danach hatte er sich mit seinen Freunden treffen wollen. Doch dann hatten sprechende Notebooks und sich verselbstständigende Drucker das Kommando übernommen. Zauberei? Wenn er ehrlich zu sich war, waren die Alternativen tatsächlich ziemlich begrenzt, aber er weigerte sich, einfach zu akzeptieren, dass magische Kräfte im Spiel waren.

»Ich weiß auch nicht«, sagte er schließlich unbestimmt. »Vielleicht hast du mich unauffällig chloroformiert und ich war 'ne Weile betäubt oder so was ... Nein«, widersprach er sich selbst, »das erklärte nicht, wie wir in drei Minuten hierher gekommen sind. – Womöglich hatte Dad recht und ich hab beim Grill anzünden zu viel Rauchgas eingeatmet und leide nun unter Halluzinationen. Oder ... ja, jetzt habe ich 's! Ich hätte gestern diese Sardellenpizza nicht essen dürfen. Die schmeckte auch schon so komisch. Bestimmt war die nicht mehr gut und deswegen träume ich jetzt schlecht. In Wirklichkeit bin ich noch gar nicht aufgewacht. Der ganze Heckmeck mit dem Notebook ist nicht passiert, ich sitze nicht im Hinterzimmer einer Kneipe und du bist ebenfalls nicht real. Wenn du echt wärst, würdest du nicht so unlogische Dinge tun, wie mit einer schrottreifen Ente durch die Gegend zu kutschieren, wo du doch mit Hilfe dieser Illusionstore oder Dispersionstore, oder wie du die Dinger genannt hast, umherspringen könntest.«

»Dimensionstore«, verbesserte Hagweed und setzte sich auf einen lederbezogenen Stuhl neben Heinrichs Couch. »Aber ansonsten gut überlegt, Harry. Nur ist die Sache mit den Dimensionstoren leider nicht so einfach. Man kann sie nicht an jedem beliebigen Punkt öffnen und auch nicht jeden beliebigen Punkt anspringen, und außerdem«, er lächelte hintergründig, »wer sagt dir denn, dass ich auf dem Weg zu euch nicht mitsamt dem Auto durch ein Dimensionstor gesprungen bin?«

»Heinrich.«

»Was?«

»Mein Name ist Heinrich. Nicht Harry, nicht Henry, Henri, Enrique oder Hendrik, sondern Heinrich. Klar soweit?«

»Okay, okay, wenn dir das lieber ist: Heinrich. Will schließlich keinen Streit mit einem angehenden Zauberer-Azubi riskieren.«

»Einem was, bitte?«

»Bist du immer noch nicht dahintergekommen?« Hagweed schaute ihn mit seinen dunklen Augen prüfend an. »Ja, auch du bist ein Zauberer, Heinrich.«

Einen Moment lang vergaß Heinrich zu antworten und starrte Hagweed nur mit offenem Mund an. »Bin ich nicht.«

»So sicher? Hast du noch nie seltsame Dinge in deiner Umgebung passieren lassen? Wenn du sauer warst? Oder Angst hattest?«

»Oh, aber klar doch«, schnaufte Heinrich. »Meine besondere Spezialität sind Verwandlungen. Als ich noch ein Baby war, habe ich es regelmäßig geschafft, meinen Vater mit meinem Geschrei von einem rational denkenden Erwachsenen in einen neurotischen, sabbernden Lappen zu verwandeln. Und erst vorletzte Woche habe ich das Windows auf meinem PC zerfrickelt und in einen nutzlosen Haufen Bits und Bytes verwandelt.

Meine Verschwindezauber sind auch nicht von schlechten Eltern: Ich kann innerhalb weniger Tage das Taschengeld für einen ganzen Monat verschwinden lassen. Und ich kann mit Schlangen reden. Als ich als Vierjähriger mal im Zoo war, wollte ich eine Anakonda dazu überreden, einen Salto rückwärts zu drehen und Breakdance zu tanzen. Ich habe so lange nörgelnd auf sie eingeredet und an die Scheibe getrommelt, bis sie einen Hörsturz bekam, die Augen nach hinten drehte und behandelt werden musste.«

»Siehst du.«

»Schwache Beweiskette.«

»Professor Schwurbelbart meint ...«

»Wer ist denn dieser Professor Schwurbelbart, von dem du dauernd erzählst?«

»Schwurbelbart? Du musst doch Professor Schwurbelbart kennen. Er hat dich schließlich damals ... Und außerdem ist er ... Also, er glaubt zumindest ... Naja, das soll er dir gelegentlich besser selbst erzählen. Zunächst mal ist er der Direx von Hochwärts.«

»Von was, bitte?«

»Hochwärts. Sag bloß, Hochwärts kennst du auch nicht.«

»Klingt ein bisschen wie Niederdeutsch für bergauf oder aufwärts. Aber so wie die letzte halbe Stunde verlaufen ist, nehme ich an, dass etwas anderes gemeint ist, oder?«

»Du sagst es. Hochwärts ist unsere Akademie für angehende Hexen und Zauberer. Du musst doch in deinem Brief darüber ...«

»Stimmt, in dieser merkwürdigen E-Mail war davon die Rede. Eine Schule, in der zaubern gelehrt wird.« Heinrich fasste sich an die Stirn und lachte. »Eins muss ich ja zugeben: Ich habe schon langweiliger geträumt.«

»Du kennst weder Schwurbelbart noch Hochwärts, du weißt nicht, dass du ein Zauberer bist ... Die Nupsis haben dich ja ganz schön im Dunkeln gelassen, was?«

»Nupsis. Da ist schon wieder eins von diesen seltsamen Wörtern, die du dauernd benutzt. Was sind Nupsis?«

»Ach, die kennst du auch nicht? Nupsis nennen wir Leute, die nicht zaubern können. Kommt in den besten Familien vor. Na, das wirst du alles bald noch lernen. Aber jetzt lass uns mal los.« Hagweed stand auf. »Weitere Fragen klären wir später, jetzt müssen wir uns erst mal ein bisschen ranhalten. Es gibt noch viel zu erledigen. Kommst du?« Er drückte in einem gläsernen Aschenbecher auf einem Beistelltischchen seine Zigarette aus und ging hinaus.

»He, Moment«, rief Heinrich. »Nicht so schnell.« Er stellte sein Wasserglas neben den Aschenbecher und schnappte sich ein herumliegendes Streicholzbriefchen mit einem Werbeaufdruck. Vielleicht gab ihm das einen Hinweis darauf, wo er war. Dann folgte er geschwind Hagweed. Am Absatz einer abwärtsführenden Treppe holte er ihn ein. »Was meinst du mit: Das werde ich bald lernen? Du wirst mich jetzt nicht an eine Schule für Kartentricks und Kaninchen-aus-dem-Hut-zaubern verschleppen, oder? Bis jetzt war das alles noch ganz lustig, aber das läuft auf eine Art Kindesentführung hinaus, meinst du nicht? – Wohin gehen wir überhaupt?«

»Zum Klo«, sagte Hagweed und bog am Fuß der Treppe in einen langen Gang ab, der mit gerahmten Bildern behängt und mit einem flauschig klingenden Teppich ausgelegt war.

Heinrich dachte nach. Auch wenn dies bloß ein Traum war, sollte er nicht trotzdem einfach umdrehen und versuchen abzuhauen? Irgendwie würde er es schon schaffen, sich nach Hause durchzuschlagen. Andererseits hatte er weder Geld noch Handy bei sich. Beides steckte in der Jacke, die zu Hause an der Garderobe hing. Wenn er nur wüsste, wo er hier überhaupt war. Er zog das Streichholzbriefchen aus der Tasche. ›Damit auch Nichtmagiern ein Licht aufgeht‹ stand darauf. ›Zum Leckenden Nachttopf‹. Kein Name des Inhabers, keine Adresse. Ebenso wie das Hinterzimmer, in dem er aufgewacht war, passten auch das Ambiente des holzgetäfelten Treppenhauses und dieses Flures eher zu einem Hotel der gehobenen Kategorie als zu einer Gastwirtschaft. Der ›Leckende Nachttopf‹ musste ein recht gut gehender Club sein.

»›Zum Leckenden Nachttopf‹, komischer Name für ein Lokal«, murmelte Heinrich und steckte das Streichholzbriefchen wieder ein.

»Jepp. Kann schon mal zu Missverständnissen führen«, sagte Hagweed. »Kalli hat mir mal von der Beschwerde eines weiblichen Übernachtungsgastes erzählt, der ihm mit einer Klage wegen irreführender Werbung gedroht hat. Sie hatte die halbe Nacht auf dem verdammten Nachttopf gesessen und nichts war passiert.« Er kicherte. »Ähm, solltest du die Pointe nicht kapiert haben, lass es dir bitte von deinem Onkel erklären, ja?«

»Schon wieder dieser Quatsch mit meinem Onkel«, schnappte Heinrich. »Das ist nicht mein Onkel, das ist mein Vater, klar? Ich habe gar keinen Onkel, und du hast dir den Falschen geschnappt. Wir haben wirklich nichts mit den Durstigs zu tun!«

»Hier geht's rein«, zeigte Hagweed unbeeindruckt und stieß eine Tür auf.

Die Herrentoilette, erkannte Heinrich und durchschritt mit Hagweed den gefliesten Vorraum. Freundliches Licht und gedämpfte Musik empfingen sie. Waschbecken, Fliesen und Spiegel waren picobello geputzt. Es roch nach Zitronen und Seife.

»Da wären wir«, sagte Hagweed gut gelaunt. »Geh in eine der Kabinen, schließ die Augen und konzentrier dich.«

»Ich muss aber grad nicht.«

»Sollst du auch gar nicht. Lass da drin bloß die Hosen oben. Ich habe keine Lust verhaftet zu werden, weil ich mit einem Minderjährigen mit heruntergelassenen Hosen in der Winkel-Mall auftauche, okay?« Er schob Heinrich mit sanftem Nachdruck in eine der Kabinen und schloss hinter ihm die Tür.

Verwirrt ließ sich Heinrich auf dem Klodeckel nieder und starrte die Kabinentür an. Wände und Armaturen der gefliesten Kabine waren ebenso sauber wie der Waschraum. Noch nicht einmal versaute Sprüche waren an die Wände geschmiert. Heinrich seufzte. Die Gelegenheit abzuhauen, war erst mal dahin. Dann lächelte er unwillkürlich. Was passierte hier bloß mit ihm? Resignierend schüttelte er den Kopf und schloss die Augen.

Als Hagweed Sekunden später an seine Tür polterte und »Okay, komm raus!« rief, war – nichts passiert. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Heinrich öffnete das Kabinentürchen und blickte unvermittelt in Hagweeds grinsendes dunkles Gesicht.

»Willkommen«, sagte er und machte eine einladende Handbewegung, »in der Winkel-Mall.«

Heinrich Töpfer und die Jubelkugel

Подняться наверх