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»Habe ich nicht gesagt, wir kommen in dasselbe Haus?« Rum hielt Heinrich freudestrahlend sein Einschulungszertifikat unter die Nase, als sie in den Flur zum Speisesaal abbogen. ›Heldenheim‹, lautete die Empfehlung des Gremiums.

Als Rums Blick auf Heinrichs unwilliges Gesicht fiel, drosselte er seine Begeisterung etwas, denn ihm musste klar sein, dass Heinrich sie nicht teilte. Heinrich erzählte ihm kurz, dass die Leiterin ihres gemeinsamen Hauses ihn bei der Findungskommission abgepasst und er versucht hatte, sie davon zu überzeugen, dass sie einen Fehler machte.

»Hat wohl nicht so viel gebracht, wie?«, fragte er betont teilnahmsvoll.

Heinrich schüttelte resigniert den Kopf. »Zwecklos«, sagte er. »Die sturen Böcke haben sich allen Ernstes in den Kopf gesetzt, einen zweiten Copperfield aus mir zu machen.«

»Na, komm schon«, sagte Rum freundschaftlich und schlug Heinrich auf die Schulter. »Essen wir erst mal was, dann sieht die Welt gleich anders aus.«

Heinrich wusste zwar nicht, wie eine Mahlzeit seine Situation auch nur etwas verbessern sollte, aber er widersprach nicht. Rum war trotz dieser fragwürdigen Aufnahmeprozeduren offensichtlich angetan von seiner neuen Umgebung und warum sollte er ihm die Freude vermiesen, nur weil er es anders sah? Außerdem konnte er nicht verhehlen, dass er einen Riesenkohldampf hatte. Ein Witchburger, eine Hot-Hag und ein bisschen Süßkram waren als Ernährungsgrundlage der letzten sechsunddreißig Stunden entschieden zu wenig gewesen.

Im Speisesaal herrschte Hochbetrieb. Die Tische waren zu vier langen Tafeln zusammengestellt, eine Tafel für jedes Haus. Ein Typ am Eingang warf einen Blick auf ihre Zertifikate und wies ihnen den Tisch ganz links an. Die anderen Heldenheims begrüßten sie herzlich. Hie und da drehten sich Köpfe zu Heinrich um, und vereinzelt wurde getuschelt.

»Was tuscheln die? Kennen die mich?«, fragte Heinrich verwirrt und setzte sich an den Tisch.

»Naja, einige von denen haben, denke ich, schon von deiner Geschichte gehört oder gelesen. Also diese Sache mit Schwurbelbart und Dem-der-dabei-auch-eine-Rolle-spielt.«

»Meine angebliche Geschichte, meinst du. Die werden schön enttäuscht sein, sobald ich das erste Mal den Stab raushole.«

Ein Mädchen, das nur die letzte Bemerkung mitgekriegt hatte, wendete den Kopf und schaute ihn mitleidig an.

»Den Zauberstab, meinst du«, murmelte Rum.

»Oh, ich ...«, stammelte Heinrich. »Ja, natürlich.«

Das Mädchen zwinkerte ihm frech zu und drehte sich wieder zu seinen Freundinnen um.

Vereinzelt öffnete sich die Saaltür und weitere Erstsemester kamen herein. Die Einschulungsprozedur musste langsam ihrem Ende entgegengehen; am Tisch waren kaum noch freie Plätze übrig. Das Ratten hassende Mädchen aus der U-Bahn erschien im Türrahmen und steuerte ebenfalls den Heldenheimtisch an.

»Hallo, Jungs. Lärmine Danger. Ich soll hier zaubern lernen«, stellte sie sich munter vor und ließ sich Heinrich und Rum gegenüber auf die Bank fallen. »Wie steht's bei euch? Alles senkrecht?« Sie schien aber gar keine Antwort zu erwarten, denn schon hatte sie ihnen den Rücken zugekehrt und begann über den Gang hinweg eine lebhafte Unterhaltung mit den älteren Jungs am Nachbartisch. Sie gehörten zum Haus der Haferstrohs.

»Lärmine Danger. Der Name ist Programm«, knurrte Rum. »Soll sich doch gleich zu denen setzen, wenn die ihr lieber sind. Was meint sie bloß mit alles senkrecht

Heinrich betrachtete den Umhang eines Typen, der ihm schräg gegenübersaß. Auf der Brust trug er ein buntes Emblem in den Farben Rot und Gelb. Ein grinsender Kürbis mit Augen und Armen, der ein großes ›H‹ in die Luft hielt, war darauf abgebildet. Es war eines der Embleme, das er schon auf der U-Bahn-Fahrt gesehen hatte.

»Morgen bekommt ihr die Aufnäher mit dem Heldenheimkürbis«, erklärte der Typ, der Heinrichs interessierten Blick bemerkt hatte. »Die werden auf eure Umhänge aufgenäht und dann seid ihr welche von uns.«

»Sieh mal«, zeigt Rum. »Das da hinten müssen die Schwylerins sein.«

In der Tat, die als Tischdekorationen dienenden Kürbisse und die Tischdecken an der Tafel am anderen Ende des Saales und die Umhänge der dort sitzenden Schüler waren in den Farben Altrosa, Lila und Pink gehalten.

»Da ist mir gelb rot aber lieber.« Heinrich und Rum entdeckten an dem rosa Tisch auch ihre drei schweigsamen Mitfahrer von der U-Bahn-Fahrt: die beiden Fettsäcke und den blonden Spargel.

»Habe ich mir doch gedacht, dass die da landen«, murmelte Rum.

Heinrich ließ den Blick weiter durch den Speisesaal wandern. Dem Eingang direkt gegenüber an der Kopfseite des Saales befand sich die Tafel des Lehr- und Verwaltungspersonals. Dahinter erhob sich eine kleine Bühne, was dem Saal ein wenig den Anstrich einer Schulaula verlieh. Von der hohen Decke her verbreiten zahlreiche Kronleuchter ihr warmes Licht.

»In ›Zahlen, Daten, Fakten – Hochwärts für Besserwisser‹ habe ich mal gelesen, dass hier früher eine verzauberte Decke eingezogen war, die aussah wie der Himmel draußen«, sagte Rum mit einem Blick nach oben, »und dass man zu besonderen Ereignissen, wie zum Beispiel Halloween, sogar Hunderte echter Fledermäuse hier drin hat umherfliegen lassen.«

»Nette Idee. Warum hat man das geändert?«

»Nun, ich glaube, du würdest dich ganz schön bedanken, wenn ständig ein leiser Schauer Fledermausscheiße von der Decke in dein Essen rieselte. Und die Sache mit der verzauberten Decke hat man eingestellt, nachdem infolge von Schadensersatzklagen die Versicherungsbeiträge immer höher wurden. Du weißt schon, Verletzungen durch herabfallende Hagelkörner, Augen- und Hautschäden durch ungefiltert einfallendes Sonnenlicht und so weiter.«

»Hm, auch wieder wahr.«

Am Lehrertisch erkannte Heinrich Hagweed und Professor McGummiball, die mittlerweile ebenfalls eingetroffen war. Neben Hagweed saß ein auffälliger großer Kerl, dessen Kopf rundherum mit Alufolie umwickelt war. Nur die Augen schauten heraus. Er unterhielt sich steif mit einem Lehrer mit altrosafarbenem Umhang und schimmernd schwarzen Haaren, der ihm jedoch kaum zuhörte, sondern in Heinrichs Richtung sah und ihn aufmerksam musterte. Er fixierte ihn geradezu. Heinrich rieb sich die Stirn. Seine Beule zwickte.

»Was ist los?«, fragte Rum.

»Ach, nichts. Meine Beule tut nur etwas weh. Kennst du welche von den Typen am Lehrertisch? Wer ist der Kerl, der mich so anstiert? Der mit der Angela-Merkel-Frisur.«

Rum schaute in die angezeigte Richtung. »Der? Das muss Professor Ziep sein, Hauslehrer von Schwylerin. Der daneben ist Mr. Spack. Über den habe ich mal was gelesen. Unterrichtet ›Abwehr schwarzer Magie‹ und ist außerdem wissenschaftlicher Leiter von Hochwärts. Soll ein bisschen paranoid sein, der Kerl. Hat ständig Angst, von Außerirdischen entführt zu werden, und deshalb zur Abwehr gegen ihre Strahlen immer die Birne mit Alufolie umwickelt.«

»Groß ist das Kollegium ja nicht. Bei so vielen Schülern hätte ich mit mehr Lehrern gerechnet.«

»Es scheinen auch nicht alle da zu sein. Außerdem machen die natürlich alle mehrere Fächer, besonders in den oberen Jahrgangsstufen. So locker sitzt das Geld hier auch nicht, dass die Lehrer mit nur einem müden Unterrichtsfach schon als Oberstudienräte bezahlt werden.«

»Wer ist der alte Sack, der gerade aufgestanden ist?« Ein älterer Zauberer hatte sich von der Tafel erhoben und richtete sich zu beachtlicher Höhe auf. Sein wallender Bart ließ nicht viel vom Gesicht erkennen, außer einem heiteren Lächeln und ein paar lebhaften hellblauen Augen.

»Keine Ahnung. Könnte mir vorstellen, dass ...«

»Das ist Professor Schwurbelbart«, fiel ihm das Mädchen namens Lärmine Danger ins Wort. Sie hatte ihr Gespräch mit den Haferstrohs unterbrochen und beobachtete ebenfalls neugierig den Lehrertisch. »Über den hat kürzlich was in der ›Bravo‹ gestanden. War, glaube ich, in irgendeinen Skandal in der Groupieszene verwickelt.«

»Danke«, brummte Rum unwillig. »Ich ...«

»Sieht lustig aus, mit seiner Kinderbrille, nicht?«, unterbrach Lärmine erneut. »Ob er die aus der Kinderkollektion von Stiehlmann hat?«

»Ich wollte ...«, setzte Rum neu an.

»Und erst der Hut. Der ist bestimmt von Boys 'r us«, kicherte sie leise und zog die Nase kraus. »Seht mal, mit dem Bart sieht er aus, als hätte er einen Fußsack unterm Kinn. Und die Nase! Der Riesenzinken steht ihm im Gesicht, wie eine Spitzhacke im Scheunentor.«

»Ich ..., ich geb 's auf«, resignierte Rum.

»Keine Chance«, grinste Heinrich belustigt.

Schon hatte sich Lärmine wieder von ihnen abgewendet und unterhielt erneut mit lauter Stimme den Nebentisch.

Professor Schwurbelbart hatte sich unterdessen hinter der Lehrertafel herausgewurstelt und kletterte auf die Bühne. Er trat hinter ein darauf platziertes Rednerpult und klopfte ein paarmal gegen ein bereitstehendes Mikrofon. »Eins zwo, eins zwo, Soundcheck,« säuselte er hinein und richtete sodann das Wort an seine Schüler. Es wurde still im Saal.

»Hallo, zusammen. Mann, lange nicht mehr so viele Gören auf einem Haufen gesehen. War eine ruhige Zeit in den letzten Wochen. Naja, alles Schöne geht mal zu Ende.« Er räusperte sich und fuhr fort. »Wie an jedem ersten Sonntag im September haben wir heute viele neue Schüler unter uns. Es entspricht der Tradition, dass ich, bevor wir uns über das Abendessen hermachen, einige Worte der Begrüßung an euch richte. Auch wenn das, was ich zu sagen habe, nur für die Neuen interessant sein wird, würde ich es dennoch schätzen, wenn mir auch die Alteingesessenen zumindest mit einem halben Ohr zuhörten, auch wenn sie sich unerträglich langweilen. – Nun denn, zunächst einmal herzlich Willkommen zu einem neuen Jahr in Hochwärts. Wir werden, wie immer, alles in unserer Macht stehende tun, um euch nach bestem Wissen auszubilden. Warum tun wir das?« Er schaute in die Runde. »Nun, weil wir euren Eltern versprochen haben, dass wir euch von der Straße holen, und weil wir vom Ministerium eine verdammte Stange Geld dafür bekommen. Aber von irgendwas müssen wir schließlich leben. Also: Bildung für euch, Geld für uns. Ich finde, das ist nur fair.

Nach dem gleich stattfindenden Abendessen werdet ihr von den Marshalls eurer Häuser in eure Gemeinschaftsräume gebracht. Das Wohnen in den Aufenthalts- und Schlafräumen ist nach wie vor mietfrei, obwohl die Zuschüsse vom Ministerium schwer gekürzt wurden. Die schlechte Nachricht: Die Geschlechtertrennung in den Schlafräumen wurde auch in diesem Jahr aufrechterhalten. Ist ja schließlich eine Schule und keine Partnerschaftsvermittlung.« Er kicherte über seinen eigenen Witz. »Äh, ja. Morgen kriegt ihr in der Bekleidungskammer die Aufnäher mit den Hausemblemen für eure Umhänge. Fortan gilt für die gesamte Unterrichtszeit Tragepflicht für diese Tuntenfummel – oh, tut mir leid, Schwylerin. – Wie ihr in der Freizeit rumlauft, bleibt euch überlassen, solange ihr nicht gegen die guten Sitten verstoßt.

Zum Schluss bitte ich euch, die Sicherheitshinweise zur Kenntnis zu nehmen. Das Video läuft als Endlosschleife auf allen Terminals der Info-Center auf den Etagen sowie im Eingangsbereich. Bitte schaut euch das Video zumindest einmal an und beherzigt die Hinweise. Ihr wisst ja, unser Schusi-Chef, Mr. Filz, sieht alles.« Schwurbelbart nickte zu einem Pfeiler hinüber, an den ein alter Mann mit Hut und beigefarbenem Trenchcoat gelehnt stand. Er sah allerdings nicht im Entferntesten wie ein aufmerksamer Beobachter aus, sondern eher, als kippte er jeden Moment vor Schwäche aus den Latschen. Auf dem Arm hielt er mühsam ein kleines Männchen im weißen Anzug, das man für eine Bauchrednerpuppe hätte halten können. Allerdings war das Männchen höchst lebendig, spähte aufmerksam umher und reckte sich wiederkehrend zum Ohr des Sicherheitschefs hinauf, um ihm dies und jenes zuzuflüstern. Es trug eine dickrandige Hornbrille und einen weißen Hut, den Heinrich als den Panamahut aus der Findungskommission wiedererkannte.

»Das sind Mr. Filz und sein kleiner Genosse Erich«, flüsterte Rum. »Die sollen hier so was wie die totale Überwachung aufgezogen haben. Nennt sich Abteilung für Schulsicherheit.«

Mr. Filz hielt den Kopf gesenkt und wirkte unaufmerksam, aber der kleine Erich musterte die Schüler mit Argusaugen und ließ sich keine Einzelheit entgehen. Er kam Heinrich merkwürdig bekannt vor.

Schwurbelbart kam zum Ende. »So, das wär 's vorläufig. Alles Weitere erzählen euch morgen die Hauslehrer. Ich halte nun erst mal den Rand und erkläre das Buffet für eröffnet.« Er schwang den Zauberstab und ließ die Abdeckungen vom Abendbuffet, das auf Serviertischen zwischen Getränke- und Kaffeeautomat am anderen Ende des Saales aufgebaut war, verschwinden.

Allgemeines Stühlerücken setzte ein, begleitet vom erleichterten Aufatmen der Schüler über die beendete Begrüßungsrede. Horden von Schülern drängten lärmend heran, griffen Teller und Bestecke von den bereitgestellten Stapeln und machten sich gierig über das Buffet her.

Neben klassischen Buffetbestandteilen wie Schnitzeln, Hühnerbeinen, Braten, Kartoffeln und diversen Gemüsen, fielen Heinrich die zahllosen Kürbisvariationen auf. Kürbis gebraten, gekocht, gebacken, gesotten, gedünstet, Kürbismus, Kürbisspalten, Kürbisauflauf ...

»Bisschen viel Kürbiszeug, oder? Waren die im Angebot?«, murmelte Heinrich und lud sich Schnitzel, Bratkartoffeln und Gemüse auf den Teller. Die Kürbisse ließ er links liegen.

Auch Rum packte reichlich auf seinen Teller, verschmähte aber auch die Kürbisse nicht. »Ich schätze, sie versuchen damit einer Erwartungshaltung gerecht zu werden«, sagte er. »Nach dem allgemeingültigen Klischee hat in einer Zaubererwelt gefälligst alles mit Kürbissen versetzt zu sein. Das ist so Tradition.«

Gemeinsam kehrten sie an ihren Tisch zurück und kurz darauf wurde an der ganzen Tafel mit großem Appetit gegessen. Alteingesessene tauschten lebhaft ihre Ferienerlebnisse aus, während die Erstsemester interessiert ihre neue Umgebung und ihre künftigen Mitschüler beschnupperten.

»Ein Glas Kürbislimo?«, fragte Rum und reichte Heinrich eine große Kristallkaraffe.

Heinrich knurrte, ließ sich dann aber doch von Rum das Glas vollschenken, während er sich seinem Schnitzel zuwandte, das sich als Cordon Bleu erwies. »He, da ist ja Kürbis in dem gefüllten Schnitzel.«

Die meisten der Kinder um Heinrich und Rum herum waren ebenfalls Neuankömmlinge, von denen sie einige bereits auf dem Bahnsteig gesehen hatten. Lärmine Danger zeigte ihnen weiter den Rücken, hatte ihren Teller auf dem Schoß und schwatzte mit den Haferstrohs. Neben ihr, ebenfalls mit dem Rücken zum Tisch, saßen zwei weitere Mädchen, die sich begeistert an der Unterhaltung beteiligten: ein auffallend hübsches schwarzhaariges Mädchen namens Palavi Ventil und ein gut gelauntes dunkelhäutiges Mädchen namens Lavendel Braun. An Lärmines anderer Seite hockte Nörgel Mountbatten, der tapsig wirkende Junge mit dem Murmeltier. Neben ihm saß ein Mädchen mit langen blonden Haaren, das sichtlich Rums Aufmerksamkeit erregte.

»Wer ist denn die schnuckelige Blonde neben Nörgel?«, fragte Rum leise, aber Lärmine hatte die Frage mitbekommen.

»Die schnuckelige Blonde heißt Legoland, ist ein Junge und schläft mit euch im gleichen Schlafsaal«, sagte sie spöttisch. »Aber wer weiß, vielleicht mag er dich ja auch.« Damit drehte sie ihnen wieder den Rücken zu.

Rum machte ein Gesicht, als habe er gerade in eine Zitrone gebissen. »Die wird uns mit ihrem Rasiermessercharme noch viel Freude bereiten. – Sieh mal, da hinten ist der Knirps im Zwergenkostüm, den wir vorhin schon in der U-Bahn-Station gesehen haben.« Heinrich folgte seinem Fingerzeig und erblickte ihn in der Nähe der Ausgangstüren. Der Junge im Zwergenkostüm stand absolut regungslos, hielt seine Gartenharke in der Hand und machte ein Gesicht, als pfeife er bei der Gartenarbeit ein Liedchen vor sich hin.

»Was ist das bloß für ein komischer Vogel?«, fragte Rum in die Runde. »Der hat vorhin schon so ausgesehen, als übe er für den Gartenzwerge-Pantomimen-Contest.«

»Er ist ein wirklich ein Zwerg«, erklärte der langhaarige blonde Junge namens Legoland. »Das ist Pimpfi, Popels Sohn. Einer der Letzten vom Volk der Zwerge, der noch nicht von den Herrschern der dunklen Lande, von denen sie seit Generationen verfolgt werden, in eine Keramikfigur verwandelt wurde.«

»Sie werden ...? Du meinst, irgendwelche Dämonen ziehen durch die Lande und verwandeln Zwerge in Keramikfiguren?«

Legoland nickte lebhaft.

»Wow, das heißt, all diese Keramikzwerge mit Schubkarren, Laternen und Harken, die man so in den Vorgärten herumstehen sieht, ... die sind echt

Legoland nickte erneut.

»Auch die, denen vorne so ein riesiger stacheliger Kaktus aus der Hose wächst?«

»Oh, ähm, nein, die mit dem Kaktus sind tatsächlich nur ein Merchandisingeinfall der Bau- und Gartenmärkte.«

»Was es nicht alles gibt.« Rum schien schwer beeindruckt und musterte Pimpfi mit einer gewissen Hochachtung. Aber irgendetwas störte ihn noch. »Hm, ist er für die Schule nicht ein bisschen alt?«, fragte er nach einer Weile. »Ich meine, bei dem riesigen Bart ...«

»Pssst«, machte Legoland. »Du gefährdest seine Tarnung. Der Bart ist nicht echt. Er soll ihm nur helfen, unerkannt zu bleiben, damit ihn die Dämonen nicht finden.«

»Wenn er als normaler Junge durchgehen will, kommt mir diese Art der Tarnung eher kontraproduktiv vor«, entschied Rum. »Der fällt doch auf, wie ein Hund in der Kirche.«

»Nein, er denkt sich die Sache so: Wenn er sich als Gartenzwerg tarnt und immer irgendwo bewegungslos rumsteht, denken die Dämonen, sie hätten ihn schon verflucht und lassen ihn in Ruhe.«

»Aah, verstehe«, nickte Rum. »Ich hoffe, er findet dennoch genug Gelegenheit, ab und zu was zu essen, sonst hat es sich bald erledigt, mit einem der Letzten seiner Art.«

»Vielleicht tarnt er sich auch, weil er denkt, ich könnte ihn an die Dämonen verpfeifen.«

»Warum solltest du?«

»Ich bin ein Elf«, sagte Legoland. »Und Zwerge und Elfen können sich nicht ausstehen. Das ist so Tradition.«

»Der Satz hätte von dir sein können«, murmelte Heinrich Rum zu.

»Aber ich stehe über diesen Dingen, wisst ihr«, fuhr Legoland fort, zielte sorgfältig und warf Pimpfi eine dampfende Kräuter-Kürbiskartoffel an den Kopf. »Ich mag diese kleinen Kerle mit ihren roten Mützen und weißen Bärten. Ich finde, jeder sollte einen im Garten haben. Übrigens ist er auch ein Heldenheim in unserem Jahrgang.«

»So? Na, wenn er in unserem Schlafsaal wohnt, hoffe ich, dass du recht hattest, was die stacheligen Kakteen angeht.«

»Du bist ein Elf?«, fragte Rum interessiert. »Ich dachte, das wären diese kleinen geflügelten Wesen, die man in Leuchtstoffröhren sperrt.«

»Nein, was du meinst, sind Feen. Wir Elfen rennen am liebsten mit Pfeil und Bogen und diesen schneidigen Strumpfhosen durch die Wälder. Die elfische Magie ist nicht sonderlich stark. Spuren lesen, Bogenschießen und gut aussehen ist so ziemlich das Einzige, was wir richtig gut können.«

»Und was willst du damit später mal werden?«

»Ich weiß noch nicht recht. Vielleicht gehe ich zum Film und drehe Fantasyfilme oder in den Leistungssport, Bogenschütze werden.« Er zeigte auf einen langen Bogen, der hinter ihm an die Wand gelehnt stand. »Oder ich mache was in Richtung Elfenjäger.«

»Was macht denn ein Elfenjäger? Elfen jagen?«

»Quatsch. Ich wäre dann ein elfischer Jäger.«

»Und was tun die so?«

»Viele von uns werden in den Grenzgebieten eingesetzt und machen Jagd auf Orks, seit es kaum noch Zwerge gibt, und auf andere illegale Einwanderer.«

»Cool.«

Legoland erwies sich als recht unterhaltsam. Er begann, den Tisch mit Waldelfenwitzen zu unterhalten (»Woran erkennt man einen umweltfreundlichen Waldelfen? – Er zieht seine verschossenen Pfeile aus den Orks und benutzt sie mehrmals.«), während Heinrichs Gedanken allmählich abzuschweifen begannen. Er wurde schläfrig und verpasste immer häufiger die Pointen von Legolands Elfenwitzen (»Was haben Waldelfen mit Blondinen gemeinsam? – Spliss.«). Er dachte an zu Hause und daran, dass sie dort jetzt bestimmt ebenfalls gerade zu Abend aßen, garantiert etwas ohne Kürbisse. Was mochte dort los sein, nachdem er gestern urplötzlich mitsamt Rucksack und Jacke verschwunden war? Ob sie wohl dachten, dass er einfach nur überstürzt zu seinen Freunden aufgebrochen war und sich weiter keine Sorgen machten? Nun ja, sie würden spätestens alarmiert sein, wenn er morgen nicht wieder auftauchte. – Oder wenn sie die Benachrichtigung von Professor McGummiball bekamen. Sein Vater erlitt wahrscheinlich eine Herzattacke, wenn er in seinem Postfach erneut E-Mails von c.mcgummiball@hochwaerts-school.wiz entdeckte.

Egal wie es war, er musste um jeden Preis weiterhin versuchen, aus dieser Irrenanstalt herauszukommen. Konnte er darauf bauen, dass das Gespräch mit Schwurbelbart, das McGummiball vorhin erwähnt hatte, ihm weiterhelfen würde? Er bezweifelte es, aber es war eine seiner wenigen Hoffnungen. Auf jeden Fall wollte er noch heute Abend versuchen, Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen, sobald er an sein Gepäck konnte. Je eher er wegkam, desto besser.

Heinrich Töpfer und die Jubelkugel

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