Читать книгу Heinrich Töpfer und die Jubelkugel - Detlef Köhne - Страница 22
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Оглавление»Freut mich, Alter.«
»Mich ebenfalls, Rum. Aber nimm's mir bitte nicht übel: Ich wäre wirklich gerne woanders. Ich muss so schnell wie möglich weg von hier. Hast du eine Ahnung, wo wir genau sind und wohin die Züge fahren?«
»Fahren?« Rum grinste schief. »Die Züge fahren nicht. Was du vorhin gesehen hast, war ein Museumszug. Früher hat es für die Schüler mal Sammeltransporte mit der Eisenbahn gegeben, aber als das Bahnpersonal bei Tarifverhandlungen einen eigenen Tarifvertrag durchsetzen wollte, hat man bei der Direktion die ganze Sache mal durchgerechnet. Dabei hat man bemerkt, dass es ganz schön hirnverbrannt ist, die ganzen Bälger erst mal über Hunderte von Kilometern aus sämtlichen Himmelsrichtungen zu einem Bahnhof zu schaffen, um sie dann von dort aus wieder Hunderte Kilometer weit durch die Lande zur Schule zu kutschieren, anstatt sie direkt dorthin zu bringen. Also hat man den Lokführer, die dicke Hexe, die im Zug den Süßkram verkauft hat und den Schaffner gefeuert, den Bahnbetrieb eingestellt und aus dem Zug ein Museum gemacht.«
»Bahnreform mal anders, auch gut. Aber es muss doch Straßen geben, die von hier wegführen, Autobahnen, irgendwas!«
»Keine Spur. Wozu auch? Mit den Flugmatten reist es sich doch viel bequemer.«
»Aber wie komme ich dann hier weg?«, fragte Heinrich entgeistert.
»Tja, ich schätze, gar nicht. Wenn du erst mal hier bist, gibt's bis Semesterende kein Zurück.«
»Kein Zurück?! Das kann nicht wahr sein! Es muss doch eine Möglichkeit geben, aus dieser Nummer rauszukommen!« Heinrich war fassungslos. Dann kam ihm ein Gedanke. »Mein Handy! Natürlich! Ich rufe einfach zu Hause an und sage meinen Eltern Bescheid, dass sie mich abholen kommen. Sag', wo sind wir eigentlich genau?«
Rum zuckte die Schultern. »Wo Sonschiet liegt, weiß keiner so genau. Du erreichst es nur mit Hilfe von Magie und kommst auch nur mit Magie wieder raus, weißt du? So ähnlich wie beim Möbiusband.«
»Mann, das ist ja echt zum Verrückt werden. Egal, ich versuch 's trotzdem.« Heinrich nahm seine Jacke vom Rucksack und hoffte, dass das Telefon durch die ganze Herumrennerei und seine diversen Stürze durch wunderliche Tore nicht herausgefallen war. Nein, Gottseidank, da war es. Doch dann folgte die Enttäuschung: »Na, super. Ich habe in dieser Einöde kein Netz.« Er versuchte es über ein anderes Band, doch ohne Erfolg.
Rum sah ihm neugierig zu. Man hätte meinen können, er habe nie zuvor ein Handy gesehen. »Krasses Teil«, sagte er beeindruckt. Was passiert, wenn du in das kleine Kästchen hinein sprichst? Antwortet es?«
»Jetzt nicht mehr«, sagte Heinrich verzagt. »Ich glaube, ich bin endgültig abgeschnitten von zu Hause.«
»Ein abgefahrener Zauberkasten. Du hast echt schon 'ne Menge drauf. Und das, noch bevor du Hochwärts überhaupt gesehen hast. Wie hast du dieses Zauberteil genannt?«
»Hä? – Ach so. In meiner Welt nennen wir es Handy. Oh, Mann, meine Welt. Klingt beknackt, was? Aber mir kommt das wirklich wie eine andere Welt vor. Du erzählst mir was von magischen Akademien und magischen Toren, durch die die Leute von einem Ort in den nächsten plumpsen. Mann, was kommt als Nächstes? Da wird man ja krank im Kopf. Ich würde es nicht glauben, hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen und selbst erlebt. Und ich glaube es trotzdem nicht. Ich glaube nur, dass ich allmählich verrückt werde.«
Langsam bezweifelte Heinrich tatsächlich, noch alle Tassen im Schrank zu haben. Er unterhielt sich mit einem Jungen, der ihn, wie so viele, für jemand anders, für einen Zauberer hielt, und sprach mit ihm über magische Tore in andere Dimensionen! Wie war das gewesen, was Hagweed ihm zu erklären versucht hatte? Unterschiedliche Welten, die Schnittpunkte untereinander hatten, über die man von einer Welt in die andere kam. Gab es wirklich ein magisches Paralleluniversum und er war durch eine Verkettung mehrerer Verwechslungen mittendrin gelandet? Die Eskapaden des Notebooks gestern, Hagweed, die Winkel-Mall ... er musste sich zwingen zu glauben, dass das alles kein Traum, sondern höchst real gewesen war.
Keinen Zweifel gab es jedenfalls daran, dass er keine Ahnung hatte, wo er war und dass er, zumindest im Augenblick, keinen Kontakt mit der Außenwelt, mit seiner Welt, herstellen konnte. Er wurde außerdem das Gefühl nicht los, dass der Verlust des Handynetzes nicht damit zu erklären war, dass hier die Mobilfunkmasten dünn gesät waren. Eines war klar: Er bräuchte Hilfe, wenn er einen Heimweg finden wollte.
Heinrich seufzte tief und versuchte ein Lächeln. »Rum, auch auf die Gefahr hin, dass du mich für bescheuert hältst, aber ich bin wirklich nicht der, für den du und all die anderen mich halten. Ich gehöre nicht hierher und ich muss einen Weg zurück nach Hause finden. Ich weiß nur nicht, wie ich das anstellen soll, solange ich nicht weiß, wo ich bin und was ich hier soll.«
Rum grinste. »Du hörst dich wirklich leicht bescheuert an. Kommt bestimmt daher, dass du bei den Nupsis aufgewachsen bist.«
Heinrich grinste zurück. »Genau dahin will ich wieder zurück. Gibt es wirklich keine Möglichkeit, von hier wegzukommen?«
»Zumindest keine, dir mir bekannt ist. Im Augenblick fällt mir ehrlich gesagt noch nicht einmal ein Grund ein, warum du das überhaupt versuchen solltest. Die Schule soll echt okay sein. Und Zaubern ist cool, weißt du. Die ganzen Nupsiwissenschaften sind doch nur Hokuspokus. Das hier ist die wahre Magie.« Er hatte einen Stab aus dem Hosenbund gezogen, etwa so dick wie eine Zigarre, aber ein gutes Stück länger, und ließ ihn gekonnt durch die Finger wirbeln – ein Zauberstab! »Und außerdem echt unterhaltsam: Ein Kumpel hat mir neulich gezeigt, wie man aus einem Stück Tapete und etwas Holzkohle ein Poster zaubert, auf dem Shakira nackt im Whirlpool planscht. Scharfe Sache, sage ich dir, aber alleine krieg ich es einfach nicht hin. Bei mir kommt immer nur ein Kaugummibild raus, auf dem Ozzy Osbourne mit runtergelassener Hose auf dem Klo sitzt. Wirklich kein schöner Anblick. Wird Zeit, dass ich lerne, wie es richtig geht.«
Ein Uniformierter kam um die Hausecke geschlendert, offenbar ein Ordnungshüter, er hatte eine recht gewichtige Miene aufgesetzt. Rum schob hastig seinen Zauberstab zurück in die Hose und bemühte sich um einen unschuldigen Meine-Weste-Ist-Sauber-Gesichtsausdruck.
Doch der Uniformierte war bereits auf sie aufmerksam geworden, blieb stehen und musterte sie argwöhnisch. »'n Tag«, brummte er. »Hochwärts Erstsemester?« Er wartete nicht auf Antwort. »Seht zu, dass ihr zurück zu eurer Gruppe kommt.«
Rum nickte wortlos. Heinrich schulterte geschwind den Rucksack und gemeinsam machten sie, dass sie Land gewannen.
»Was hat der Typ gegen uns? Und was meint er mit ›zurück zur Gruppe‹?«, fragte Heinrich, als sie ein paar Meter zwischen sich und den Uniformierten gelegt hatten.
»Die Erstsemester sollen nicht allein in der Stadt rumlaufen. Die haben wohl Angst, dass wir in schlechte Gesellschaft geraten.«
»Aber hier laufen doch überall Kinder in unserem Alter ...«
»Das sind keine Kinder«, unterbrach Rum. »Sieh sie dir nur mal richtig an.«
Heinrich schaute genauer hin. Richtig, was da zwischen gewöhnlichen Erwachsenen und älteren Schülern auf der geschäftigen Einkaufsstraße herumwuselte, waren keine Kinder, sondern eigentümliche Gnome in Latzhosen und jeder Menge borstiger Haare auf den bloßen Füßen.
»Das sind Hobbels, die hiesigen Ureinwohner«, erklärte Rum. »Abgesehen von ihrer Kleinwüchsigkeit sind die Haare auf ihren Füßen ihr charakteristischstes Merkmal. Die Haare wachsen praktisch vom ersten Atemzug an ihr ganzes Leben hindurch. Spätestens ab Vollendung der Pubertät sind sie in der Lage, daraus direkt auf ihren Füßen mit geschlossenen Augen und einer Hand auf dem Rücken einen kleinen Gobelin zu knüpfen. Wenn sie damit fertig sind, rasieren sie sich die Füße und fangen wieder von vorne an. Ursprünglich gab es in dieser Gegend sehr viele von ihnen, aber seit Ansiedlung der Zaubererakademien sind sie auf dem Rückzug, weil sich die Menschen immer mehr ausbreiten und die Hobbels systematisch unterbuttern. Wären die Hobbels bei der Produktion von Nachkommen nicht genauso fleißig wie beim Gobelinknüpfen, wären sie wahrscheinlich schon vom Erdboden verschwunden.«
»Warum unterdrücken die Menschen sie?«
»Die Hobbels sind ein Urvolk, und Urvölker werden von weißen Siedlern immer unterdrückt. Das ist so Tradition, glaube ich. – Magst du was essen?« Sie waren an einem Imbiss-Kiosk angelangt.
»Oh, ja«, nickte Heinrich. »Ich habe immer noch den Witchburgergeschmack von gestern im Hals und schon ein ganz pelziges Gefühl auf der Zunge. Bin durch meinen überstürzten Aufbruch heute Morgen gar nicht zum Zähneputzen gekommen.«
»Zähneputzen?«
»Ja. Bürste, Zahnpasta, schrubben. Zähneputzen eben.«
»Ist ja ulkig. Dafür nehmt ihr Bürsten?«
»Ihr etwa nicht?«
»Nö. Wir haben Spell-a-med, den universellen Dentalzauber. Er gehört zu den Zaubersprüchen, die einem praktisch mit in die Wiege gelegt werden.«
»Wow, wie praktisch. Den würde ich auch gerne können.«
Auf Rums Empfehlung orderte Heinrich an dem Kiosk eine ›Hot Hag‹ (damit bekam der Ausdruck ›heiße Hexe‹ eine ganz neue Bedeutung) und eine Coke. Rum bestellte für sich das Gleiche und steuerte außerdem noch einen Berg Süßkram bei. Zum Bezahlen genügte es, dass Rum sein Einladungsschreiben vorzeigte und den ganzen Kram auf seine Misa-Card anschreiben ließ.
»Wofür steht ›Misa‹?«, fragte Heinrich, während sie zu einer Parkbank hinübergingen, die neben dem Imbisskiosk an einem kleinen Springbrunnen aufgestellt war.
»›Magisches Institut für Spar- und Anlageberatung‹«, erklärte Rum und ließ sich auf der Bank nieder. »Eine gemeinnützige Bank des öffentlichen Sektors. Bist du auf dem Weg hierher eigentlich über Los gekommen? – Glück gehabt. Die Kohle müsste bis nächsten Sommer locker reichen. Ich hatte wieder mal Pech und muss mit dem auskommen, was mir meine Eltern auf das Misa-Card-Konto überwiesen haben. Irgendwie habe ich nie Kies.«
»Und ›Nupsi‹? Hat das auch eine tiefer gehende Bedeutung oder ist das eine von den bescheuerten Bezeichnungen, die man gewählt hat, weil sie so lustig klingen?«
»Nupsi ist eine Abkürzung und steht für ›Nichtmetamorphe unmagische Personen ohne suprathaumaturgische Individualfähigkeiten‹. Früher nannte man sie ›LedvodgaZamkAh‹, das bedeutet ›Leute, die von der ganzen Zaubereimischpoke keine Ahnung haben‹, aber die Bezeichnung war den meisten zu sperrig.«
»Hm, irgendwo verständlich.«
Rum machte sich bereits hungrig über seinen Imbiss her, während Heinrich den schweren Rucksack abstellte und sich die verspannten Schultern massierte. Klamotten zum Wechseln für drei Tage, ein wenig Schreibzeug, ein Notebook. Das war alles, was er bei sich hatte, aber der Rucksack war nicht gerade klein und bestimmt hatte seine Mutter jeden freien Kubikzoll mit Wäsche zum Wechseln vollgestopft. Das wog ganz schön.
»Coole Klamotten«, bemerkte Rum plötzlich kauend. »Woher hast du die?«
Heinrich schaute verblüfft an sich hinunter. Ein dunkelgrünes Shirt mit gelbem ›Er ist tot, Jim‹-Aufdruck, Jeans, Nikes. Alles ganz normal so weit. »Nupsimode halt«, sagte er und zuckte mit den Schultern.
»Wo kriegt man solche Hosen her? Habe ich noch nie gesehen.«
Heinrich ließ sich auf die Bank fallen. »Die heißen Jeans. Trägt bei uns jeder. Bei H&M in der Winkel-Mall gibt's die bisher allerdings nicht. Vielleicht wird das in der nächsten Saison anders, dann könntest du es mal versuchen.«
»Ist gebucht. Die Nupsis scheinen nicht auf allen Gebieten hinter uns zurück zu sein. In der Grundschule habe ich eine Menge Kram über sie gelernt. Schließlich will man nicht völlig auf dem Schlauch stehen, falls man mal einen trifft. Deshalb lernen wir da auch Mathe und Naturwissenschaften und solches Zeug. Hab nicht immer alles kapiert, muss ich sagen. Nicht, weil ich zu blöd wäre, oder so. War nur nicht immer ganz bei der Sache. Zaubern interessiert mich halt mehr. Du bist doch bei den Nupsis aufgewachsen. Wie ist das so?«
»Normal, würde ich sagen«, meinte Heinrich und wickelte seinen Imbiss aus. »Oder das, was ich bisher für normal gehalten habe. Wenn wir ein Poster mit Shakira nackt im Blubberbad haben wollen, behelfen wir uns mit Computern und Bildbearbeitungssoftware. Abgesehen davon ist das Internet voll von derlei Material.«
Nach beendetem Imbiss begannen sie, sich durch ihre Vorräte an Süßkram zu futtern. Heinrich betrachtete die fremdartigen Leckereien zunächst argwöhnisch, probierte aber alles aus und fand, es träfe genau seinen Geschmack. Nur Haribos ›Banale Billigbohnen ohne jede Geschmacksrichtung‹ fand er etwas fade und die kandierten Rosenköhlchen verschmähte er ebenfalls. Ein paarmal versuchte er noch, seine Eltern per Handy zu erreichen, aber es war zwecklos. Er bekam einfach kein Netz. Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als zu versuchen, mit den Verantwortlichen in der Akademie zu sprechen und darauf zu vertrauen, dass sie ihren Irrtum erkennen und ihn wieder nach Hause schicken würden. Die Akademie öffnete ihre Pforten jedoch erst gegen Nachmittag, wie Rum erzählte. Also vertrieben sich die beiden die restliche Zeit damit, durch die Stadt zu schlendern und sich jeweils aus der ihnen bekannten Welt zu erzählen. Durch die launige Unterhaltung mit Rum hatte sich bei Heinrich längst ein ähnlicher Effekt eingestellt, wie beim Einkaufsbummel mit Hagweed, und seine Anspannung hatte sich in Luft aufgelöst. Außerdem war er wider Willen neugierig auf alles, was ihn erwarteten mochte und Rum erwies sich als wahre Fundgrube des Wissens über die magische Welt, durch die sie gingen. Abwechselnd trugen sie dabei Heinrichs schweren Rucksack.
»Hast du eigentlich gar kein Gepäck?«, fragte Heinrich Rum.
»Doch. Aber ich hab's im Bahnhof in ein Schließfach eingeschlossen. Wir müssen es nachher noch abholen, bevor wir zur Akademie rauffahren.«
»Und wir fahren nachher wirklich zu einer Zauberschule, die voll ist mit Kindern, die dort zaubern lernen?«
»Du sagst es, Alter. Sonschiet ist die Stadt der Vereinigten Zaubererakademien. Das führende Institut ist Hochwärts. Angeschlossen sind eine Orientierungsstufe, das Institut für angewandte Verwandlung und verwandelte Anwendung und noch ein paar Läden. Klingt komisch, ist aber so. Schwurbelbart schmeißt den ganzen Laden dort. Er ist der Direx. Hat angeblich schon mal ein Kaninchen aus einem Zylinder gezaubert.«
»Krass. Eine Stadt der Zaubererakademien.«
Als ihnen erneut ein Unformierter entgegenkam, änderten sie rasch die Richtung und bogen in eine Seitenstraße ab.
»Warum sind hier überall so viele Uniformierte unterwegs?«, fragte Heinrich. »Haben die hier erhöhte Terrorwarnstufe?«
»So was Ähnliches«, lachte Rum. »Der erste Sonntag im September ist traditionell Ferienende und Einschulungstag für die Neuen. Aus allen Landesteilen kommen die Schüler und Studenten an die Akademien zurück und decken sich in den Läden für das kommende Semester ein. Nach Semesterbeginn gibt es nämlich selbst für die höheren Jahrgänge nur noch wenige Gelegenheiten, in die Stadt zu gehen, für die Erstsemester gar nicht. Für die Geschäftsleute von Sonschiet bedeutet dieser Sonntag Sonderöffnungszeiten und jede Menge Umsatz, für die Ordnungskräfte bedeutet es Ausnahmezustand.
In Hochwärts selbst sind die einzigen Erwachsenen die Lehrer und das Verwaltungspersonal. Zusätzlich gibt es ein ausgeklügeltes System von Marshalls und Deputys, die von den Schülern gestellt werden, und das den Lehrkörper und vor allem den Schul-Sicherheitsdienst unterstützt. Bei den Schülern sind die Marshalls ziemlich unbeliebt, weil sie als Denunzianten und Arschkriecher gelten. Es gibt nur zwei Gründe, warum sich Schüler aus freien Stücken für diesen Job hergeben. Der eine ist: Du versprichst dir persönliche Vorteile davon. Und der andere: Du bist dafür geboren. Und von der Sorte hast du bereits ein Prachtexemplar kennengelernt: meinen Bruder Nervi. Du tust gut daran, dich vor ihm etwas in acht zu nehmen. Bildet sich 'ne Menge ein auf seinen Sheriffstern, und die beiden anderen Typen waren offenbar vom gleichen Schlage.«
»Na großartig. Mein erster Ausflug in die Welt der Elben und ich gerate direkt Saruman und den Orks in die Fänge.«
»Häh?«
»Nupsi-Literatur.«
»Ach so. Über ›Die Kleine Hexe‹ sind wir da nicht hinausgekommen. – Und? Hast du auch Geschwister?«
Heinrichs Gedanken sprangen nach Hause. Was dort nach seinem Verschwinden nur los sein mochte? »Eine Schwester«, antwortete er. »Sie heißt Lena.«
»Wie alt? Ist sie hübsch?«
»Auf jeden Fall zu jung, Mann«, lachte Heinrich. »Sie ist sieben.«
»Stimmt«, meinte Rum. »Das ist zu jung. Und wie steht's bei dir? Hast du ein Mädchen?«
»Näh«, sagte Heinrich und schüttelte den Kopf. Verwundert stellte er fest, dass er Rum gerade einmal ein paar Stunden kannte und bereits vertraulichere Gespräche mit ihm führte, als jemals mit den meisten seiner Freunde am Gymnasium. »Und du?«
»Nicht mal eine«, sagte Rum mit Weltuntergangsmiene. »Meine Mum meint, es sei noch zu früh und ich sei noch zu jung, um wirklich zu kapieren, was so abgeht.«
»Das habe ich von meinem Dad ebenfalls gehört. Und was denkst du?«
»Ich denke, dass das Quark ist und dass ich nichts gegen ein wenig mehr Glamour in meinem Leben einzuwenden hätte.« Der gleiche Satz, der auch Heinrich vor ein paar Tagen durch den Kopf gegangen war. »Bin gespannt, wie das mit den Mädels wirklich so läuft. Meine Eltern haben mir da nie sonderlich weitergeholfen. Selbstständige Erziehung schön und gut, aber ab und zu könnten sie mich in den Dingen des täglichen Lebens ein bisschen mehr unterstützen. Wenn ich alles immer selbst rausfinden muss, verliere ich nur Zeit. Ist doch wahr. Ruckzuck bist du dreizehn und fragst dich, ob das schon alles war. – Oder du kommst auf krumme Gedanken und fängst an, Feldherrenallüren zu entwickeln, wie mein lieber Bruder.«
»Was dürfen die überhaupt? Die Marshalls und Deputys, meine ich. Ich dachte vorhin, die buchten uns direkt ein.«
»Sie sind mit allen möglichen Vollmachten ausgestattet. Was das im Einzelnen heißt, kann ich dir auch nicht sagen. Ich weiß nur so viel, dass man sich besser nicht mit ihnen einlässt und die offene Konfrontation mit ihnen meidet. Der Kampf zwischen Schülerbewegung und Schulsicherheit findet mehr im Untergrund statt. Aber wir wissen jetzt, dass sich ihre Befugnisse anscheinend auch auf das Verhalten der Schüler außerhalb der Schule erstrecken und nicht an den Toren von Hochwärts haltmachen.«
»Wo liegt eigentlich Hochwärts?«, fragte Heinrich.
»Die Akademien sind über das ganze Stadtgebiet verstreut. Hochwärts liegt, soviel ich weiß, an den Hügeln am Stadtrand.«
»Und wie kommen wir dahin? Mit Pferdekutschen?« Heinrich hatte die ganze Zeit in der Stadt noch nicht ein einziges Auto gesehen.
»Pferdekutschen? Auf welcher Seite des Mondes bist du denn aufgewachsen? Wir fahren natürlich mit der U-Bahn. Stand doch in deiner Einladung. Allmählich müssen wir uns sputen, damit wir nicht zu spät kommen. Die 42 fährt sonntags nur jede Stunde und die letzte 666 ist um diese Zeit schon durch.«
So machten sie sich auf den Rückweg zum Bahnhof, um Rums Gepäck abzuholen. Auch viele andere Schüler waren offenbar bestrebt, nicht zu früh, aber auch keinesfalls zu spät abzufahren: der Bahnsteig der U-Bahn-Station am Bahnhof quoll förmlich über. Die Schüler verteilten sich nach und nach auf die eintreffenden Züge anderer Linien, um zu ihren jeweiligen Akademien zu kommen, aber die meisten warteten, wie Heinrich und Rum, auf die 42. Die U-Bahn-Station sah aus wie daheim, fand Heinrich. Auch die Züge wirkten keineswegs so bizarr, wie er das nach den bisher in dieser Welt gemachten Erfahrungen vermutet hätte, sondern völlig normal.
Als ihr Zug einrollte, begann ein heilloses Gedränge und Geschiebe, bis alle Schüler, die meisten mit einer Menge Gepäck beladen, in der Bahn Platz gefunden hatten.
Heinrich und Rum eroberten eine Sitzbank für sich. Ihnen gegenüber saßen drei weitere Jungs in ihrem Alter. Die Türen schlossen sich automatisch, eine Lautsprecherstimme sagte: »Nächster Halt: Rathausplatz«, und der Zug rollte an.