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Einige Jahrzehnte waren seit diesen Begebenheiten vergangen, doch an dem Tag, an dem unsere Geschichte eigentlich erst beginnt, wurden sie Ambos Schwurbelbart wieder ins Gedächtnis gerufen.

Und zwar von dem schmuddeligen Typen, der geradewegs vor ihm in einem hohen Ohrensessel saß und versonnen, mit schwerer Zunge vor sich hin brabbelte. »Ich sehe, ich sehe ... Einen großen und mächtigen Zauberer. Einen Zauberer, der schon seit langem in der richtigen Position dafür ist, mit alten überkommenen Traditionen aufzuräumen, es aber nicht tut. Ja, Ambos Schwurbelbart, du siehst genauso aus wie jemand, der sich längst mit den Zuständen arrangiert hat und die Klischees unbeschadet durch eine weitere Generation hindurch tragen und an die Nachwelt überliefern wird.«

»Wie? Was faselst du?«, fragte Schwurbelbart verwirrt, transportierte den Kürbisdrops in seiner Backe von einer Seite auf die andere und warf sich den meterlangen Bart über die Schulter.

»Ich spreche von dem Bart und den Kürbissen, Ambos Schwurbelbart,« grummelte das Orakel mit geschlossenen Augen, während sein Zeigefinger auf Schwurbelbart deutete.

»Quark«, knurrte Schwurbelbart, der nicht gern angesprochen wurde auf dieses Thema. Die Zaubererakademie verdiente gut an den Kürbisrezepten ihrer Küche und an den bartlastigen Merchandising-Produkten zu Halloween. »Der Bart liegt bei großen, weisen Magiern in den Genen. Weiß doch jeder. Und die Kürbisse esse ich nur, weil die so lecker sind.

Außerdem bezahl ich dich nicht, um über meine Unzulänglichkeiten belehrt zu werden, sondern für eine Weissagung über unsere Zukunft. Was mir heute Abend nämlich erheblich größere Sorgen bereitet als Kürbisse und Bärte, ist ein ganz anderes alt hergebrachtes Klischee, und zwar das, dass in einer Zaubererwelt niemals alles Friede, Freude, Kürbiskuchen ist, sondern dass sie natürlich, weil die Leute das so erwarten, stets von irgendwoher mit dem Untergang bedroht wird, ausgehend von irgendwelchen Drachen, Dämonen, bösen Hexen oder Feen, Kobolden, Gnomen, seelenlosen Zombies, dunklen Magiern, der Addams Family, den Bundys oder dem Finanzamt. Oder auch von bloßen Gegenständen wie Ringen, verzauberten Schwertern, Bannen, die gebrochen werden müssen, oder Gegenständen – selbstverständlich meist goldenen – die verschwunden sind und dringlichst wiederbeschafft werden müssen.

Und wir bilden mit unserem kleinen Reich da keine Ausnahme, wie mir zu Ohren gekommen ist. Ich will wissen, was es diesmal ist, damit ich die geeigneten traditionellen Gegenmaßnahmen einleiten kann, nach der sich ein in Bedrängnis geratenes Zauberreich stets auf das Erscheinen eines strahlenden Retters berufen darf, der das Böse in die Schranken weist und so das traditionelle Gleichgewicht der Kräfte beim Kampf Gut gegen Böse wahrt und dafür sorgt, dass am Ende gesagt werden kann ›Und so lebten sie glücklich bis an das Ende ihrer Tage.‹ Schließlich erwarteten die Leute das so, hörst du?«

O ja, Ambos Schwurbelbart war wild entschlossen, gerade diese letzte Tradition zu wahren.

Seit damals, seit dem Tag, an dem sein Vater seinen Rasierpinsel ins Klo geworfen und ihm die erste Bartbürste geschenkt hatte, war er in der Tat unaufhaltsam zu einem der mächtigsten Zauberer des Reiches aufgestiegen. Seit einiger Zeit leitete er gar die sagenhafte Zaubererakademie Hochwärts und arbeitete gegen üppige Beraterhonorare dem Ministerium für das Ignorieren logischer Zusammenhänge bei der Ausarbeitung von Gesetzesvorlagen zu. Warum aber eine Schule mehr Bedeutung und Gewicht hatte als das Ministerium selbst, und warum er als deren Direktor sich um das Wohlergehen des Reiches zu kümmern hatte, wussten allein die Götter. Oder die Autoren dieser verrückten Geschichte.

Doch wie sollte er überhaupt eine Errettung des Landes vor dem Bösen arrangieren, wusste er doch weder, aus welcher Richtung die Gefahr drohte, noch welcher Retter strahlend genug wäre, ihr adäquat begegnen zu können? Darüber hinaus hatte der Fachkräftemangel den Arbeitsmarkt für professionelle Helden fest im Griff.

Ohnehin hoffte Schwurbelbart inständig, ohne zusätzliches Personal auskommen zu können, schließlich war die Haushaltslage angespannt wie eh und je. Seine schwer verdienten Ministeriumshonorare zu opfern, kam gar nicht in Frage. Und Kürbismarmelade und Halloween-Bärte zu verkaufen reichte nun mal nicht aus, um ein riesiges Schloss nach den gültigen Denkmalschutzstandards zu erhalten und nebenbei auch noch ein teures Lehrerkollegium zu finanzieren, das pro Mitglied nur ein einziges Fach für eine Handvoll Schüler ein paar Stunden pro Woche unterrichtete, und obendrein auch noch freie Kost und Logis im Schloss genoss.

Für einen funktionierenden Auslandsnachrichtendienst blieb da erst recht kein Geld übrig. Also bediente der Direktor sich nach alter Zauberertradition eines geheimnisvollen Orakels. Und er, Ambos Schwurbelbart, konnte sich brüsten, nicht nur über eines der geheimnisvollsten, sondern auch eines der besten Orakel überhaupt zu verfügen – wenn auch mit einem kleinen Haken ...

»Hexen, Geister, Elfen, Bärte und Kürbisse, alles ist im Fluss. Und der ganze Rest eventuell auch. Das Leben, so wie ihr es kennt, wird möglicherweise zu Ende gehen, vielleicht aber auch nicht. Womöglich verändert es sich auch nur in einer Weise, die sich unter Umständen als dramatisch nachteilig für manche der Betroffenen erweist«, leierte die Stimme des Orakels, das nicht nur eines der besten und geheimnisvollsten, sondern leider auch eines der vieldeutigsten war, nebulös durch die Räume der Orakelagentur. Schwerzüngig und verwaschen verkündete es die Umstände des kommenden Unheils: »Die Dämonen, die dem inneren Kreis entsteigen, werden ... ähm, ganz schön dämonisch und zudem ziemlich ungezogen sein, und die Gifte, die sie in eure Welt speien, werden ... äh ... giftig sein. Zusammenfassend würde ich mal sagen: Eure Welt geht astrein den Bach runter. Ihr alle seid ...«

»Ja ja ja, wir sind in Gefahr, dem Tod geweiht, bla bla bla. Das habe ich allmählich kapiert, Mann. Ich brauche mehr Details.« Ambos Schwurbelbart umkreiste ungeduldig den Ohrensessel, auf dem sein Orakel saß, allem weltlichen entrückt und, von jeder Kritik unbeeindruckt, ausdruckslos in die Luft stierend. Sein Kopf kullerte erneut zweimal von der rechten auf die linke Schulter und wieder zurück, bevor es sich zu weiteren Aussagen durchrang. »Es sind die Ringgeister, die sich gegen euch erheben werden. Die ›Naspuhl‹, die ...«

»Die Naspuhl? Die Naspuhl sagst du? Die neun Ringgeister? ›Neun Ringe, gegeben den Menschenherrschern‹ und so weiter? Aber die gehören doch gar nicht in diese Story! Die sind doch aus ›Der Ringe ihr Herr‹ oder ›Dem Herrn sein Ring‹ oder wie das heißt.«

»Na und?«, muckte das Orakel auf. »Wen schert das schon? Schließlich ist dies eine Parodie! Und immerhin stamme ich aus der gleichen Story wie die Ringgeister. Ich bin Labergrog, Laberthrons Sohn, genannt Streichler, der Waldläufer. Und bis ich eines Tages endlich König des Landes Gondel werden kann, verweile ich in der Rolle des geheimnisvollen Orakels als Gast in dieser Geschichte. Und wart nur ab, wer noch alles zu Besuch kommt!«

»Jaja, ist ja schon gut, die neun Ringgeister, die Naspuhl also«, murmelte Schwurbelbart und zerbiss nervös seinen Kürbisdrops, während er den Sessel Streichlers, des Orakels, umkreiste. »Okay, nach allem was ich über die Ringgeister weiß, ist es ihnen nicht möglich, selbst hierherzukommen. Abgesehen davon, dass sie viel zu faul sind, etwas eigenhändig zu tun, fehlt ihnen die Fähigkeit, ihre Zuflucht zu verlassen und sich in unserer Welt zu bewegen, egal, ob sie auf ihren schwarzen Zossen unterwegs sind oder auf ihren geflügelten rasierten Riesendackeln. Also, Streichler: Wessen Hand werden sie sich bedienen? Wer sind ihre irdischen Paladine

»Du wirst es nicht mehr verhindern können. Rette so viele du kannst.«

»Blödsinn! Natürlich werden wir es verhindern können. Wir können es immer verhindern. Das ist so Tradition«, rief Schwurbelbart erbost.

Streichlers Hände krallten sich in die staubigen Lehnen des gewaltigen Chintz-Sessels. Sein Kopf begann wieder haltlos hin und her zu pendeln. »Hüten Sie sich in Geldangelegenheiten vor Gebrauchtwagenhändlern«, murmelte er unbestimmt. »Die beste Zeit für die Liebe ist nächsten Donnerstagnachmittag zwischen der Tagesschau und dem Beginn des nachfolgenden Fußball-Länderspiels.«

»Scheiß Horoskop«, knurrte Schwurbelbart. »Das habe ich nicht bestellt.«

»Der Krieger Mars steht im Haus Jupiters. Doch keine Bange, liebe Astrologiefreunde, der Aszendent Rottweiler steht hinten im Garten und hält die Wacht. Er wird Mars den Pöter aufreißen.«

»Mumpitz!«, rief Schwurbelbart. »Erzähl mir gefälligst etwas über die Naspuhl! Wofür bezahl ich dich?«

»Und zum Schluss das Wetter: Nach Durchzug einer Gewitterfront in den Abendstunden ist das Hereinbrechen der Nacht nicht auszuschließen. Die weiteren Aussichten: leicht unbeständig.« Streichlers Augen verblassten allmählich. »Vielen Dank, dass Sie Dirk Streichlers Orakeldienst gewählt haben. Für die Nutzung des Dienstes nach 20 Uhr werden Spätzuschläge berechnet.« Streichlers Kopf sank zur Seite und kurz darauf verrieten gleichmäßige Atemzüge, dass er eingeschlafen war.

Schwurbelbart ließ resigniert die Schultern fallen und seufzte. Er wusste, wenn Streichler erst einmal dieses Stadium fortgeschrittener Entspannung erreicht hatte, brachte ihn so schnell nichts ins Bewusstsein zurück.

Was nun? Nervös zwirbelte der Direktor einzelne Strähnen seines lästigen Wallbartes zwischen den Fingern seiner Rechten. Mit einem letzten Blick auf das Orakel wandte er sich schließlich ab und eilte zur Tür. Es war Eile geboten. Das Beste wäre, für morgen früh sogleich den Schulrat einzuberufen und Gegenmaßnahmen zu beraten.

Er hatte bereits die Hand auf die Türklinke gelegt, als Streichlers Stimme, diesmal ungewohnt kalt und präzise, ihn plötzlich erstarren ließ.

»Es ist der Gelbe«, brachen sich die Worte aus Streichlers Mund Bahn. Eisig, scharf, so als seien es gar nicht seine. Er hatte sich aufgerichtet, die weit aufgerissenen Augen nach vorne gerichtet, starr, aber blicklos. Der Direktor ging langsam auf Streichler zu. Er wagte nicht, ihn anzusprechen, ihn anzurühren, oder sonst irgendwie zum Weiterreden zu bewegen, obwohl ihn die Anspannung schier die Luft anhalten ließ.

»Ich sehe den Gelben«, wiederholte Streichler schneidend. »Er ist hierher unterwegs. Eile ist geboten! Du weißt, was du zu tun hast, Ambos Schwurbelbart. Das Land ist in Gefahr.«

»Aber ich ...«

»Hol den Jungen! Den Jungen ..., du weißt schon welchen. Den Jungen mit dem Blitz auf der Stirn. Und jetzt ...«, er fiel zurück in den Sessel, seine Stimme verschwamm, »jetzt, hlps, hätte ich gerne was zu trinken.«

Heinrich Töpfer und die Jubelkugel

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