Читать книгу Heinrich Töpfer und die Jubelkugel - Detlef Köhne - Страница 21
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Оглавление»Na, Mann, alles klar?«, fragte eine Stimme.
Heinrich schlug blinzelnd die Augen auf. Ein makellos blauer Himmel wölbte sich über ihm und die Sonne schien ihm wärmend ins Gesicht. Das grinsende Gesicht eines Jungen in seinem Alter schob sich in sein Blickfeld. Weitere Stimmen näherten sich und immer mehr Gesichter beugten sich über ihn. Kindergesichter.
»Mir ist schwindelig«, murmelte Heinrich und griff Halt suchend hinter sich. Seine Hand stieß gegen den Rucksack, der samt seiner Jacke neben ihm lag.
»Bist wohl nicht so sprungtrainiert, wie«, fragte der Junge und half Heinrich in eine sitzende Position.
Der Kreis der Neugierigen zog sich nach und nach enger. Die meisten von ihnen waren in dunkle Umhänge gekleidet. Nur einige der jüngeren Kinder und manche Erwachsene waren in Zivil unterwegs.
»Komm, kletter' erst mal von der Matte, sonst springt der nächste dir noch ins Kreuz«, ermunterte ihn der Junge und wollte ihm aufhelfen. Erst jetzt bemerkte Heinrich die dicke gepolsterte Matte, auf der er saß, und die seinen Fall offenbar abgefedert hatte.
Noch ehe er die dargebotene Hand ergreifen konnte, drängte sich ein weiterer Junge unter rüdem Ellbogeneinsatz durch die Reihen der Schaulustigen. Er mochte fünfzehn oder sechzehn Jahre alt sein, war klein und stämmig mit dunklem Haar, das er streng gescheitelt und an die Stirn geklatscht trug. Ein glänzender silberner Sheriffstern prangte an seinem Umhang.
»Tretet zur Seite, ich bin Marshall«, schnauzte er die Umstehenden mit herrischer Stimme an und strich sich den Scheitel glatt. »Auseinandergehen, es gibt hier nichts zu sehen.« Mit ausladenden Gesten versuchte er, die Gruppe Schaulustiger zu verstreuen. Doch die Neugierigen gingen lediglich ein paar Schritte zurück oder rückten ein Stück beiseite, aber sie dachten gar nicht daran, zu verschwinden. Der Typ gab sein Bemühen auf und sprach Heinrich an.
»Du. Was soll der Auftritt?«, fragte er knapp und klang ziemlich unfreundlich. »Wir haben es nicht so gern, wenn Neulinge versuchen, Aufmerksamkeit durch solche Darbietungen auf sich zu ziehen. Ich werde mir deinen Namen merken. Wie heißt du?«
Heinrich verschlug es über die Unverschämtheit dieses Jungen glatt die Sprache.
»Lass ihn in Ruhe, Nervi«, sagte der erste Junge ruhig aber bestimmt. »Verzieh dich, ich kümmere mich schon um ihn.«
»Befleißige dich mir gegenüber gefälligst eines anderen Tones«, regte Nervi sich auf. »Ich werde dich melden. Wo sind meine Deputys?« Er machte auf dem Absatz kehrt und marschierte davon.
Der Junge grinste Nervi mit einer Mischung aus Belustigung und Zorn hinterher, packte dann Heinrich bei der Hand und zog ihn auf die Beine. »Hallo«, sagte er. »Ich bin Rum. Bist du okay? Du scheinst neu zu sein. Auch ’n Erstsemester, was?« Herzlich schüttelte er Heinrichs Hand. »Kümmere dich nicht um Nervi. Er ist ein Arschloch. Seit er in Hochwärts Marshall ist, führt er sich auf, als sei er ...«
»Hochwärts?! Hast du Hochwärts gesagt?!« Schlagartig kam Heinrich gänzlich wieder zu Bewusstsein. Er packte Rum am Ärmel seines Umhanges und starrte ihn entsetzt an. Heftiger als beabsichtigt schubste er ihn zurück und zwängte sich durch die sie noch immer umgebende Menge.
Endlich war der Blick frei auf seine Umgebung. Ein kleines Bahnhofsgebäude stand da, gelegen an einer breiten Einkaufsstraße mit vielen umtriebigen Geschäften und Lokalen. Außer den ruhig dahineilenden Erwachsenen waren Scharen von Kindern unterwegs, tobten durcheinander, bummelten durch die Läden oder vertrieben sich die Zeit in der Nähe des Bahnhofsgebäudes. Einige überforderte Erwachsene in Schülerlotsenuniformen versuchten so etwas wie Aufsicht sicherzustellen.
Jenseits der Einkaufsstraße erhob sich die Silhouette einer ziemlich großen fremden Stadt. Insgesamt war einfach alles, was Heinrich umgab, fremdartig. Und das auf eine Weise, die ihn schaudern ließ. Spontan suchte sein Auge nach vertrauten Eindrücken, an die es sich klammern konnte, und sprang haltlos hin und her. Er wich zurück, bis er mit dem Rücken an ein Hindernis stieß und herumfuhr. – Er stand vor einer rot lackierten Dampflok einer ihm unbekannten Bahngesellschaft. An den Türen der dahinter hängenden Waggons hingen Zugtafeln: ›Hochwärts Express – Eintritt frei – Öffnungszeiten Mo. bis So. 09 – 18 Uhr‹.
»Oh, mein Gott,« japste Heinrich erschrocken, und wieder schwappte die Panik wie eine Welle über ihn hinweg. Zum dritten Mal seit gestern Nachmittag war er kopfüber in eine fremde Umgebung gestürzt. Hatte das denn niemals ein Ende? Befand er sich in einer ausweglosen Schleife von Stürzen in immer neue fremde Umgebungen? Kopflos rannte er ein paar Meter den Bahnsteig herauf und wieder hinunter, nicht wissend, wohin er sollte. Der Pulk ihn neugierig anstarrender Leute wich vorsichtshalber ein wenig zurück.
Der Junge, Rum, hastete besorgt hinter ihm her und versuchte, Schritt zu halten.
Kurz entschlossen schnappte Heinrich ihn am Kragen. »Sag mir sofort: Wo bin ich und was mache ich hier? Und gib mir bloß die richtigen Antworten!«
Der Junge blinzelte etwas irritiert. »Du befindest dich am Bahnhof von Sonschiet, der Stadt der Vereinigten Magischen Akademien, und ich vermute mal, du bist hier, weil heute an den Akademien Einschulung für die Neuen ist.«
»Nichts da! Falsche Antwort!«, rief Heinrich außer sich. »Der Irrsinn muss doch mal ein Ende haben. Wo geht's hier raus?!« Er stieß sich erneut von dem Jungen ab und drehte sich wie ein Kreisel, auf der Suche nach dem nächstbesten Ausgang.
Ein halb unterdrückter leiser Aufschrei neben ihm ließ ihn herumfahren. Direkt an seiner Seite war ein Mädchen, vielleicht ein oder zwei Jahre älter als er selbst, unmittelbar aus den Wolken gefallen und auf dem Bahnsteig aufgeschlagen. Heinrich sperrte wie vom Donner gerührt den Mund auf. Das Mädchen jedoch stand auf als sei nichts geschehen und klopfte sich den Staub von der Hose.
»Hi«, sagte sie lächelnd zu Heinrich. »Neu hier?«
Erst jetzt fiel ihm auf, dass überall diese dicken Judomatten herumlagen, um die Stürze all jener Kinder und Eltern abzufangen, die alle paar Meter aus dem Nichts auf den Bahnsteig knallten, ihr Gepäck einsammelten, und ohne viel Aufhebens fortgingen, als sei diese Art des Ankommens auf einem Bahnsteig das Normalste der Welt.
»Ich bin von Irren umgeben«, stieß Heinrich hervor.
»Dann solltest du dir dringend neue Freunde suchen«, riet ihm das Mädchen freundlich lächelnd, sagte »Wir sehn uns«, nahm sein Gepäck auf, und ging.
»Das gibt's doch gar nicht«, wimmerte Heinrich verzweifelt und schaute dem Mädchen hinterher. »Das muss ein Traum sein.«
Abermals rannte er den Bahnsteig hinunter, stolperte über seinen eigenen herumstehenden Rucksack und geriet ins Straucheln. Beim Versuch, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, rannte er Rum über den Haufen, der ihn nur hatte auffangen wollen, stürzte und schlug sich heftig den Kopf an einer blechernen Mülltonne an.
Mühsam setzten sich die Jungen wieder auf.
»Verzeihung«, murmelte Heinrich und rieb sich benommen die Stirn.
Rum stieß einen beeindruckten Pfiff aus, als sein Blick auf Heinrichs Stirn fiel. »Wow«, sagte er. »Du bist Harry Potter!«
»Wie? Was? Nein, bin ich nicht. Mein Name ist Hein...« Weiter kam er nicht.
Nervi war wieder da, und er hatte zwei weitere Typen, ziemlich bullige Kerle, als Verstärkung mitgebracht. Sie zerrten Heinrich und Rum rüde auf die Beine und hielten sie in eisernem Griff.
»Du fällst mir jetzt bereits zum zweiten Mal unangenehm auf«, herrschte Nervi Heinrich an. »Unruhestifter, was? Ich werde dich in Hochwärts melden. Dein Name. – Was ist denn nun schon wieder?«
Nervi wandte sich dem Quell eines plötzlich auftretenden Lärms zu. Ein dackelgroßes graues Tier kam den Bahnsteig hinuntergerannt. Ein kleinwüchsiger Junge mit topfförmigem Haarschnitt verfolgte das flüchtende Tier im Zickzack. »Trapdoor, halt!«, rief er und schoss geradewegs auf Heinrich, Rum, Nervi und die beiden Grobiane zu. Heinrich und Rum brachten sich gerade noch in Sicherheit, bevor der Junge sich mit einem gewagten Hechtsprung auf das Tier warf und dabei Nervi und die beiden anderen Jungen über den Haufen rempelte.
»Los, wir verschwinden besser«, murmelte Rum, den allgemeinen Tumult nutzend, und zerrte Heinrich mit sich fort. Sie rannten um die nächste Hausecke und legten noch einen Häuserblock im Laufschritt zurück. Erst dann verlangsamten sie ihren Schritt. Der schwere Rucksack trug seinen Teil dazu bei, dass Heinrich am Ende des kleinen Spurts gründlicher außer Puste war als Rum, und schnaufend an eine Hauswand gelehnt stehen blieb.
»Danke«, keuchte er. »Wer ist dieser Verrückte eigentlich und was will er dauernd von mir?«
Rum lachte. »Wenn du wüsstest! Der Verrückte ist zu allem Überfluss auch noch mein Bruder.«
»Echt? Na, da kann man ja nur gratulieren.«
»Es gibt Schlimmeres. Ist immer noch besser, als Pickel am Hintern.« Rum lehnte sich an mit verschränkten Armen an eine Straßenlaterne und schaute Heinrich interessiert an. Er war in Heinrichs Alter und auch ungefähr gleich groß, wirkte aber etwas trainierter. Er hatte freundliche braune Augen und kurz geschnittene dunkelblonde Haare, die zerrauft in alle Himmelsrichtungen standen. Wie er so mit verschränkten Armen dastand und Heinrich grinsend musterte, strahlte er eine gewisse Lässigkeit aus. Lediglich sein Outfit wollte dazu nicht recht passen und war ein wenig bieder geraten. Die dunkle Stoffhose, das kurzärmelige karierte Hemd und die schwarzen Lederschuhe waren für einen Teenager nicht gerade der modisch letzte Schrei. Ein paar Jeans und ein cooles Shirt hätten besser zu ihm gepasst. Über der Schulter trug er eine beige Jacke.
»Na, dann erzähl mal«, forderte er Heinrich auf. »Was stimmt mit dir nicht?«
Heinrich grinste gezwungen. »Ich? Mit mir ist alles klar. Ich scheine nur seit zwei Tagen in einem immerwährenden Albtraum festzustecken, aus dem ich nicht wieder aufwachen kann. Ich bin in einer Stadt, die ich nicht kenne, und weiß weder wie ich hierhergekommen bin noch wie ich wieder wegkomme.«
»Komisch, dass ausgerechnet du glaubst, hier falsch zu sein. Ich habe vorhin deine Narbe gesehen. Die Geschichte deiner blitzförmigen Narbe ist legendär. Schwurbelbart persönlich hat sich vor vielen Jahren deiner angenommen und dich vor Dem-dessen-Name-mir-gerade-nicht-einfällt in Sicherheit gebracht. Du bist Harry P...«
»Nein, bin ich eben nicht«, unterbrach Heinrich. »Mein Name ist Heinrich Töpfer, auch wenn das übersetzt dasselbe ist. Und das da«, er wischte die Haare zur Seite und tippte sich an die Stirn, »ist keine Narbe, sondern nur ein bisschen Farbe.«
»Wow, der Blitz«, staunte Rum ehrfürchtig.
»Ich sage dir doch, es ist nur Farbe. In ein paar Tagen ist davon nichts mehr ...«
»Wie Farbe sieht das für mich ehrlich gesagt nicht aus.«
»Was?«, fragte Heinrich verwirrt und betrachtete sein Spiegelbild in einem Ladenfenster. Tatsächlich: Genau dort, wo der aufgeschminkte Blitz gewesen war, hatte sich nach seiner rüden Begegnung mit der Mülltonne auf dem Bahnsteig eine dicke Beule mit einem prächtigen Bluterguss gebildet, in dessen Mitte deutlich ein Blitz zu sehen war. Aber das war nicht mehr der grob aufgeschminkte Blitz von der Theateraufführung. Dieser hier war viel feiner und verästelter.
»Na großartig«, sagte Heinrich resigniert lächelnd und wischte sich ein paar Haarsträhnen über die Beule. »Der ganze verdammte Planet hat sich gegen mich verschworen.«
»Hey, bleib locker, Mann. Jeder ist scharf drauf, nach Hochwärts zu kommen. Wird bestimmt cool, wirst schon sehen.« Der Junge reichte Heinrich die Hand. »Also, noch mal richtig: Ich bin Rum, Rum Kiesnie, und auch neu hier.«
Heinrich konnte nicht anders, als den unbekümmerten Rum von Herzen sympathisch zu finden. Er schlug ein. »Heinrich«, sagte er. »Heinrich Töpfer.«