Читать книгу Einheit und Transformation - Detlev Brunner - Страница 11
1.4 Ausreisebewegung
ОглавлениеDie Proteste gegen die Wahlfälschung waren eine wichtige Quelle für die Demokratiebewegung in der DDR, die sich vor allem nach dem Sommer 1989 formierte. Doch bevor die Demonstrationen in vielen Städten zu Massendemonstrationen anschwollen, geriet die DDR durch eine andere Entwicklung unter enormen Druck: durch die Ausreisebewegung.
Bereits in den 1980er Jahren war die Zahl jener erheblich angestiegen, die der DDR den Rücken kehren wollten und einen Antrag auf ständige Ausreise gestellt hatten, die sogenannten »Ausreiser«. 1989 erhielt diese Ausreisebewegung eine Dynamik von bislang nicht gekanntem Ausmaß. Zum Sommer 1989 lagen insgesamt 160.000 Ausreiseanträge vor. Und die Zahl derer, die nicht auf eine Genehmigung warten wollten, stieg gewaltig.
DDR-Bürgerinnen und -Bürger besetzten bundesdeutsche Botschaften in Warschau, Prag, Budapest und die Ständige Vertretung in Ost-Berlin, um aus der DDR ausreisen zu können. Die spektakulärste Besetzung war die in Prag, wo ab Februar/März 1989 erste Zufluchtssuchende aus der DDR eintrafen. Bis zu dem denkwürdigen Abend am 30. September 1989, als Außenminister Hans-Dietrich Genscher die Möglichkeit der Ausreise in die Bundesrepublik verkündete, hatten sich zeitweise mehrere Tausend Menschen gleichzeitig auf dem Botschaftsgelände unter katastrophalen Bedingungen aufgehalten. In der Nacht zum 1. Oktober 1989 wurden in einer ersten Ausreisewelle etwa 6.000 Flüchtlinge aus Prag und 800 aus Warschau mit Sonderzügen in die Bundesrepublik gefahren, die Fahrt führte über DDR-Territorium. Offiziell sollte der Schein aufrechterhalten werden, dass sie aus der DDR ausgewiesen worden seien.
Schon im Frühjahr des Jahres hatte der »Eiserne Vorhang« Löcher bekommen. Am 2. Mai 1989 kündigte Ungarn die Demontage der Grenze zu Österreich an. Am 27. Juni des Jahres zerschnitten der ungarische Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Kollege Alois Mock symbolisch den Stacheldrahtzaun nahe dem Ort Sopron. Zu einer spektakulären Massenflucht kam es am 19. August 1989 anlässlich des sogenannten »paneuropäischen Frühstücks«, das unter der Schirmherrschaft des deutschen Europa-Abgeordneten Otto von Habsburg, des ehemaligen letzten Kronprinzen der 1918 untergegangenen Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, und des ungarischen Staatspräsidenten Imre Pozsgay in Grenznähe bei Sopron stattfand. Mehrere Hundert DDR-Bürgerinnen und -Bürger nutzten die Gunst der Stunde und flohen nach Österreich, die ungarischen Grenztruppen verhielten sich passiv.