Читать книгу Der Verkehrspolizist - Dieter Schäfer - Страница 42
Das Kalkutta-Phänomen
ОглавлениеBei all den entstehenden Konflikten zwischen Radfahrern, Autofahrern und Fußgängern zeigt sich jedoch auch ein Paradoxon. Dort, wo am meisten geschimpft und geklagt wird, ereignen sich die wenigsten Unfälle. In Heidelberg ist die Plöck eine durch Studenten hoch frequentierte Fahrradstraße. Jeder kann auf Anhieb von einem Beinah-Unfall berichten und wie rücksichtslos die Radfahrer dort unterwegs sind. Die Statistik zeigt jedoch ein anderes Bild. Es passieren nahezu keine Unfälle oder diese werden, warum auch immer, polizeilich nicht gemeldet.
Das gleiche Phänomen ergab sich in Mannheim, als versuchsweise in der westlichen Oberstadt innerhalb der Quadrate die Einbahnstraßen in Gegenrichtung für Radfahrer freigegeben wurden. Es dauerte nur wenige Wochen, bis auch die anderen drei Quadranten innerhalb des Ringes von den Radlern erobert wurden. Jeder schimpft nun über jeden. Aber es passieren so gut wie keine Unfälle mehr.
In Vorträgen spreche ich dann oft vom Kalkutta-Phänomen. Es scheint keine Regeln zu geben und dennoch funktioniert der Verkehr. Der Grund ist wohl, dass jeder weiß, wenn er unaufmerksam ist, dass er Schaden nehmen kann. Also wird aufgepasst, dafür aber umso heftiger geschimpft.
Das funktioniert innerorts allerdings nur in 30er-Zonen oder verkehrsberuhigten Bereichen. Dort wo 50 Stundenkilometer erlaubt sind, ist bei einem Unfall die Aufprallwucht zu groß. Ich bin fest überzeugt, wenn wir die Menschen überzeugen könnten, unsere Städte in den Nebenstraßenbereichen komplett auf 30 km/h und die Wohngebiete auf Schrittgeschwindigkeit herunterzuregeln, würden sich schwere Unfälle schlagartig halbieren. Und wenn wir ehrlich sind, können wir tagsüber eh nur selten schneller fahren.
Die Realität zeigt jedoch, dass der politische wie auch der gesellschaftliche Konsens noch nicht in Sicht ist.