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Drei Generationen in der Geschichte der Psychotherapie

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Schon die erste Generation35 der Psychotherapie beginnt mit einem neuen Menschenbild, das für die damalige Zeit revolutionär war. Glaubte das wissenschafts- und fortschrittsgläubige Denken des 19. Jahrhunderts noch, dass der Mensch ein vernunftgesteuertes Wesen sei, so schockierte Freud seine Zeitgenossen mit der These, dass das menschliche Erleben und Verhalten in hohem Maße vom Unbewussten bestimmt werde und verdrängte Sexualität dabei ein wesentlicher Faktor sei. So interessant seine wissenschaftlichen Erkenntnisse auch heute noch sind, die Psychoanalyse als psychotherapeutische Methode gehört wohl eher ins Museum für Psychotherapie. Sie ist vergangenheitsbezogen, problemorientiert und eine Behandlung dauert zwischen 200 und 600 Stunden.

Was bleibt ist die Erkenntnis: Die Menschen suchen in ihrem späteren Leben verzweifelt nach dem, was sie in ihrer Kindheit nicht bekommen haben (an Liebe, Beachtung und Bestätigung), doch sie suchen es häufig bei Personen, die es ihnen nicht geben können oder wollen, mit Methoden, die nicht funktionieren, oder mit Einstellungen, die sie daran hindern, das Erreichte zu genießen. Auch wenn es einschränkend und leidvoll ist, so stellen sie doch immer wieder Situationen her, die mit ihren frühen Erfahrungen verwandt sind. Die Psychoanalyse macht diese Prozesse bewusst. Es gelingt ihr, sie zu entschärfen. Doch sie ist wenig in der Lage, echte Alternativen aufzubauen.

Die zweite Generation36, die Humanistische Psychologie37, ist optimistischer. Sie glaubt an Persönlichkeitsentwicklung und Selbstverwirklichung, dass der Mensch von Natur aus ein kreatives und glückliches Wesen sei, er müsse sich nur von seinen durch Erziehung und Gesellschaft auferlegten Fesseln befreien. Sie arbeitet nicht mehr vergangenheits-, sondern gegenwartsbezogen, nach wie vor problemorientiert und glaubt an das Heilsame von Wiedererleben und Bewusstmachen der traumatischen Erfahrungen und ihrer Wiederholung im jetzigen Leben. Ließ sich die erste Generation von der Frage leiten: „Was ist die Ursache des Problems?“38, so stellte sich die zweite Generation die Frage: „Was hält das Problem aufrecht?“39

Die Therapeuten mischen sich aktiv in den Therapieprozess ein, konfrontieren, informieren und unterstützen die Klienten. Eine Behandlung dauert zwischen 20 und 60 Stunden. „Wir graben nicht in einem Bereich, über den wir nichts wissen, im sog. Unbewussten … Es ist alles da, wenn du lernst, den Inhalt der Sätze nur die zweite Geige spielen zu lassen … es ist so viel unschätzbares Material vorhanden, dass wir nichts anderes zu tun brauchen, als zu Offensichtlichkeiten, zur äußersten Oberfläche zu greifen und es dem Patienten wiederzugeben, damit es ihm bewusst wird … Wir haben es also ziemlich leicht, verglichen mit den Psychoanalytikern, weil wir das ganze Sein eines Menschen unmittelbar vor uns haben …“40 Sie erreicht meist bessere Ergebnisse als die Psychoanalyse und das in wesentlich kürzerer Zeit.


Abb. 5 Drei oder vier Generationen in der Geschichte der Psychotherapie

Die dritte Generation41, die Lösungsorientierten Kurztherapien42, arbeiten von Anfang an auf Lösungen hin und konsequent mit den Ressourcen des Klienten bzw. seinen gesunden Anteilen. Im NLP43 werden frühkindliche Einstellungen, die die Menschen im Erwachsenenleben einschränken, durch erlaubende ersetzt. Es interessieren nicht mehr die Leichen im Keller des Unbewussten, sondern das, was das Kind aus den frühen Erfahrungen gelernt, bzw. für welche Lebensstrategien es sich entschieden hat. Diese frühkindlichen Programme lassen sich jetzt ermitteln und stabil verändern. Die Lösungsorientierte Kurztherapie ist zukunftsbezogen und lösungsorientiert. Eine Behandlung dauert meist weniger als 10 Stunden44.

„Im Übrigen bin ich der Meinung, dass es um so besser ist, je rascher ein Problem gelöst wird. Der Klient kann wieder in seinen Alltag zurückkehren, anstatt sich noch länger mit einer möglicherweise höchst vertrackten Situation herumzuquälen … Wenn in einer unklaren Situation aber erst einmal spezifische Ziele festgelegt sind, dann sind auch die Voraussetzungen dafür gegeben, dass Lösungen sich innerhalb kurzer Zeit ‚spontan‘ entwickeln.“45

Die Integrierte Lösungsorientierte Psychologie46 kann man zur dritten Generation rechnen als Integration dessen, was die lösungsorientierten Therapien zu bieten haben, oder sogar schon zu einer vierten Generation. Für Letzteres spricht die Reaktion der Kollegen von der lösungsorientierten Fraktion, die man am besten als Nicht-Reaktion beschreiben könnte. Ich vermute, dass sich darin Verunsicherung ausdrückt. Was führt zu dieser Irritation, was ist anders und neu in der ILP verglichen mit den lösungsorientierten Schulen? Es ist der hohe Stellenwert, den das persönlichkeitstypische Wissen47 in der ILP hat und Inhalt sowie Abfolge ihrer Interventionen bestimmt.

Dagegen denken und handeln die Lösungsorientierten Kurztherapien pragmatisch, gut ist was funktioniert. Theorie ist für sie überflüssig und hinderlich48. Dieser Befreiungsschlag gegen das analytische und spekulative Denken, diese Entscheidung für ein wissendes Nichtwissen war zweifellos notwendig und hat den Weg geöffnet für experimentelles Vorgehen: Was hilft den Klienten wirklich? Diese Frage stellt sich nicht, wenn man wie in der ersten und auch noch in der zweiten Generation an seine Methoden glaubt und von ihrer Wahrheit und Überlegenheit überzeugt ist.

Die ILP jedoch scheint rückfällig zu werden, ist theoriegeleitet oder besser theoriesynchron. Denn es ist weder so, dass hier die Theorie die Praxis bestimmt, noch dass die Theorie die Praxis nur interpretiert. Beide, Praxis und Theorie, erhellen und unterstützen sich gegenseitig. Die Theorie folgt der Praxis und leitet sie zugleich an. Psychotherapie muss sich nach dem Verständnis der ILP so genau wie irgend möglich an den Prozessen des Lebens orientieren und ihnen entsprechen – denen der äußeren, der ontischen Lebenswirklichkeit ebenso wie denen der inneren, der psychischen. Die Theorie bildet diese Prozesse ab.

Diese Theorie ist anders als herkömmliche Theorien. Ich vergleiche sie gerne mit einer Landkarte. Sie informiert und ist in jedem Detail überprüfbar. Sie ist weder eine subjektive Interpretation der Wirklichkeit noch eine Ideologie, die der Wirklichkeit übergestülpt wird. Genau dagegen hatte sich die dritte Generation gewandt, Psychotherapie als Interpretation und Ideologie. Doch sie hat das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und lehnt Theorie grundsätzlich ab. Das hat zur Folge, dass sie damit Übersicht und Orientierung verliert und in einem Methoden-Pluralismus erstickt. Sie hat sich eine Fülle wirksamer Werkzeuge geschaffen, doch es fehlt ihr an Gebrauchsanweisungen.

In der ILP bestimmt und optimiert dieses Landkarten-Wissen die methodischen Vorgehensweisen. Sie folgen passgenau den Prozessen der unterschiedlichen Persönlichkeiten und den Gesetzmäßigkeiten der verschiedenen Themenbereiche. Wenn jemand dieses Wissen ignoriert und die ILP rein aus pragmatischer oder gar ideologischer Sicht betrachtet, wird er vielleicht über ihre Erfolge erstaunt sein, doch ihre Vorgehensweise wird ihm als willkürlich und dogmatisch festgelegt erscheinen.

Die ILP ist mehr als ein Kompendium lösungsorientierter Methoden. Zum einen werden diese Methoden persönlichkeitsspezifisch konkretisiert und eingesetzt, zum anderen wurden sie methodisch weiterentwickelt, oder es wurden wichtige Lebensbereiche überhaupt erst therapeutisch erschlossen und methodisch zugänglich gemacht. Letzteres gilt besonders für den paradoxen oder systemisch-energetischen Bereich des zwischenmenschlichen Geschehens49. In den letzten Jahren wurde die ILP durch ein Autonomie-Training ergänzt. Während die ILP auf wirksame Veränderungen abzielt, fördert das Autonomie-Training die Basis dieser Veränderungen nach der Maxime: Kehre zurück zu dem, was du bist!

Dieser Prozess der permanenten Verbesserung hat bisher bei der Psychographie etwa dreißig Jahre gedauert, bei der Integrierten Lösungsorientierten Psychologie etwa zwanzig Jahre und beim Autonomie-Training etwa zehn Jahre. Dabei kommen immer neue Erkenntnisse dazu, die ein Verfahren komplexer, genauer und praktikabler machen. Eine ebenso wichtige Aufgabe ist, diese Erkenntnisse durch Ausbildungen zu sichern. Die meisten Entwickler therapeutischer Verfahren haben sich darauf beschränkt, ihr Können und Wissen zu demonstrieren. Doch das ist keine Ausbildung, die geeignet ist, ihr Können adäquat weiterzugeben, reicht keineswegs aus für die Qualitätssicherung ihrer Verfahren.50 Damit etwas erfolgreich wird, muss es gut organisiert werden. Das gilt für die methodische Anwendung ebenso wie für die Ausbildung von Therapeuten.

Im Ergebnis gibt es wohl kein Therapie- oder Coaching-Verfahren, das so durchorganisiert ist wie die ILP. Manche Therapeuten schreckt das ab, sie wollen einen größeren Freiheitsgrad in ihrer Arbeit, wollen aus dem Bauch heraus arbeiten, intuitiv und kreativ. Vielleicht verwechseln sie Psychotherapie mit der Arbeit eines Künstlers. Doch man sollte sich nicht täuschen. Auch wenn Erickson spontan und intuitiv gearbeitet hat, so folgte er doch präzise jenen Gesetzmäßigkeiten, die Veränderungen ermöglichen. Was für jeden Beruf selbstverständlich ist gilt auch hier: Intuition und Kreativität können Dilettantismus im handwerklichen Können und Fachwissen nicht ersetzen, im Gegenteil, Wissen und Können machen sicher und frei für Intuition und Kreativität.

ILP - Integrierte Lösungsorientierte Psychologie

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