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Wissendes Nichtwissen als therapeutische Haltung

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Das Bekenntnis zum wissenden Nichtwissen ist zu einer Art Glaubensbekenntnis der Lösungsorientierten Therapie geworden:

Für Erickson verhält es sich so, „… dass die Patienten, die uns aufsuchen, uns deshalb aufsuchen, weil sie nicht genau wissen, WARUM sie eigentlich kommen. Sie haben Probleme, und wenn diese Probleme ihnen wirklich bekannt WÄREN, dann wären sie nicht erst gekommen. Da sie nicht wissen, was es mit ihren Problemen WIRKLICH auf sich hat, können sie uns das auch nicht sagen. Sie können uns nur eine ziemlich wirre Schilderung dessen geben, was sie denken. Und wir hören sie mit UNSEREM Hintergrund an und wissen nicht, was sie uns sagen, aber wir wissen immerhin besser, dass wir nicht wissen. Und dann müssen wir ETWAS tun, das eine Veränderung im Patienten in Gang bringt …“51

Was er da sagt, trifft keineswegs nur auf Klienten zu, die therapeutische Hilfe suchen, sondern beschreibt die Situation, in der wir uns ständig befinden. Wir können das Ganze unseres Lebens nicht gedanklich erfassen. Wir können an vielen Stellen Einfluss darauf nehmen und vertrauensvoll abwarten, was daraus wird, doch wir können es nicht überblicken. Die offene Haltung des wissenden Nichtwissens ist eine Voraussetzung dafür, lösungsorientiert arbeiten zu können.

Sind Therapeuten überhaupt willens und fähig, diese Haltung des Nichtwissens in ihrer Arbeit zu praktizieren? Können sie so diszipliniert mit ihrem Denken umgehen, dass sie weder ihr Verstehen der Situation des Klienten, noch ihre Vorstellungen, wie er sein Problem lösen sollte, in ihn hineininterpretieren? Das würde ihnen wesentlich leichter fallen, wenn ihnen klar würde, dass Verstehen und Bescheidwissen ohnehin nur Selbsttäuschungen sind, dass sie weder seine Situation wirklich verstehen, noch eine Lösung für ihn finden können.

In ihren Ausbildungen lernen sie etwas ganz anderes. Wer eine Prüfung bestehen will, um Psychotherapie ausüben zu dürfen, muss sich bestens auskennen in Psychodiagnostik und wissen, wie diese oder jene Störung zu behandeln ist. Hier wird immer noch vorausgesetzt, dass die Psyche ähnlich funktioniere wie der Körper, und man sie analog schulmedizinischen Vorstellungen heilen könne.

Die Wirksamkeit Lösungsorientierter Verfahren resultiert daraus, dass sie so genau wie irgend möglich den Gesetzmäßigkeiten und Prozessen der Wirklichkeit folgt. Dabei berücksichtigt die Integrierte Lösungsorientierte Psychologie ebenso die äußere, also die uns umgebende Lebenswirklichkeit wie die innere, die psychische. Das erinnert an ein Fragment Heraklits, der vor etwa 2500 Jahren formuliert hat: „Weisheit ist es, … gemäß der Natur zu handeln, indem man auf sie hört.“

Wie kann man diese Übereinstimmung erreichen? Wie kann man so auf die Natur der menschlichen Wirklichkeit hören, dass sie uns etwas über ihre verborgenen Wirkungsmechanismen verrät? Dazu gibt es verschiedene Möglichkeiten. Eine der ältesten und in den letzten Jahrzehnten wieder wertgeschätzten Methoden praktischer Erkenntnis-Gewinnung lässt sich von den Fragen leiten: Was funktioniert in der Praxis? Wie lässt sich das, was funktioniert, wiederholen?

Diese Methode nutzen sowohl die Lösungsorientierte Kurztherapie wie das NLP. Verfolgt man die Veröffentlichungen von De Shazer und seinen Mitarbeitern, so lässt sich über die Jahrzehnte hinweg beobachten, wie immer wieder neue Erkenntnisse zur lösungsorientierten Therapie gewonnen, bzw. wie frühere bestätigt werden. Dabei hat die Begeisterung De Shazers für das Prinzip, so einfach wie möglich zu bleiben, die Lösungsorientierte Kurztherapie davor bewahrt, ein Sammelsurium von Methoden zu werden.

Ein anderer Zugang sind Beobachtung und Intuition. Darin war Erickson ein großer Meister. Er hat die Stärken und die Schwächen seiner Klienten als Material für ihre Therapie benützt. Sein Anspruch war, für jeden Klienten eine eigene Psychotherapie zu erfinden, maßgeschneidert auf dessen individuelle Persönlichkeit. Er hat die Klienten nicht von außen behandelt, sondern ist mit ihnen in ihre Welt hineingegangen und hat sie mit der Medizin geheilt, die sie in seine Praxis mitbrachten.

Ein dritter Zugang ist das Wissen der Psychographie, der prozessorientierten Persönlichkeitstypologie. Es ist eine neue Art von Theorie, die die äußere und innere Wirklichkeit des Menschen beschreibt, ähnlich wie das eine Landkarte mit der Landschaft tut. Das ist etwas irritierend, nicht nur für die Kollegen von der lösungsorientierten Zunft. Denn die Philosophie der neueren Psychotherapien ist die des Konstruktivismus: Jeder Mensch lebt in seiner von ihm geschaffenen Wirklichkeit. Und wenn Menschen leiden, dann sollten sie diese Wirklichkeit verändern. Das ist nicht verkehrt, und auch wir machen uns dieses Wissen zunutze52.

Diese Philosophie des Konstruktivismus ist hilfreich, den naiven Realismus zu überwinden, den Einzelnen nicht als Opfer widriger Umstände, sondern als Schöpfer seiner Wirklichkeit zu sehen. Doch sie ist wenig geeignet, objektive Bedingungen der Wirklichkeit zu erkennen, seien es die psycho-ontologischen Prozesse oder gesellschaftliche und institutionelle Bedingungen. Es erinnert mich an den Sport. Jede Sportart hat ihre eigenen Regeln, doch alle werden ausgeübt im Geltungsbereich der physikalischen Naturgesetze. Und die Psychographie beschreibt Gesetzmäßigkeiten, die für die Psychotherapie relevant sind.

Es ist eine Selbsttäuschung zu glauben, man könne die äußere oder innere Wirklichkeit des Menschen völlig unvoreingenommen wahrnehmen. Schon Gadamer53 hat darauf hingewiesen, dass wir die Wirklichkeit mit Hilfe eines Vorwissens erkennen, dass jedoch die Erfahrung wiederum das Vorwissen verändert: Man sieht nur, was man weiß! Oder umgekehrt, was man nicht weiß, sieht und hört man nicht! Die Integrierte Lösungsorientierte Psychologie ist pragmatisch, intuitiv und wissend. Sie nützt die Erfahrungen der lösungs-orientierten Therapien, das, was an praktischen Verfahren in den letzten Jahrzehnten entwickelt und erprobt wurde. Sie hat das Beste davon übernommen, es methodisch weiterentwickelt und integriert.

Doch sie weiß auch, dass bei all dem bewährten handwerklichen Können und bei aller Ähnlichkeit typspezifischer Probleme und ihrer Lösungswege jeder Klient und jede therapeutische Situation einmalig ist. Und dass dieser Einmaligkeit nur durch Intuition und Kreativität entsprochen werden kann.

Schließlich nützt sie ihr ‚Landkartenwissen‘ sowohl in der Planung von Therapie, in der Durchführung und in der Ergebniskontrolle. Darin liegt ein nicht zu unterschätzender Vorteil gegenüber Therapie-Schulen, die meinen, ohne ein derartiges Orientierungs-Wissen auskommen zu können.

ILP - Integrierte Lösungsorientierte Psychologie

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