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Absage an Wissenschaftlichkeit oder neues Wissenschafts-Paradigma?

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Wissenschaftlichkeit ist ein Kind der Aufklärung und hat einen emanzipatorischen Anspruch. Wahrheiten, die durch die Autoritäten von Kirche und Staat gestützt wurden, mussten sich der Kritik stellen. Vernunft und wissenschaftliche Methoden wurden die neuen Maßstäbe. Das hat sich in vielen Lebensbereichen bewährt, hat positive Veränderungen ermöglicht, in den Wissenschaften selbst, in der Technik, der Wirtschaft, der Verwaltung oder in der Politik. Und es wirkt heute noch nach, so dass Wissenschaftlichkeit so etwas wie ein Gütesiegel ist. Auf der anderen Seite wird deutlich, dass die Herrschaft der Vernunft teuer bezahlt wurde. Große Teile unserer Lebenswirklichkeit wurden ignoriert. Es wurden Fortschritte in bestimmten Bereichen erzielt, andere wurden vernachlässigt oder tabuisiert. Das hat zur Folge, dass viele Probleme in unserer Gesellschaft nicht gelöst werden, manche werden einfach übersehen, andere relativ erfolglos ‚bekämpft‘.57

Ein Beispiel ist unser Gesundheitswesen. Es ist teuer, doch bei weitem nicht so effektiv, wie es sein könnte. Gesundheit ist nicht einfach die Abwesenheit von Krankheit. Man wird nicht gesund, indem man die Krankheit beseitigt. Gesundheit hat gegenüber der Krankheit eine eigene Qualität. Sie ist das Ergebnis von multifaktoriellen, interaktiven und synergetischen Wirkungen. Zur Gesundheit gehören neben körperlichen Faktoren seelisch-geistige, soziale, kulturelle und umweltbedingte. Ein Gesundheitswesen, das sich weitestgehend auf das Körperliche beschränkt, kann nicht erfolgreich sein. Es versucht seine geringe Effektivität durch aufwendige ‚Materialschlachten‘ auszugleichen.

Seit mehr als einem halben Jahrhundert bestätigt die psychosomatische Forschung immer wieder, dass die Psyche entscheidenden Einfluss darauf hat, ob Menschen gesund bleiben, krank werden oder wieder gesunden. Untersuchungen darüber, wie durch lösungsorientierte Therapien sich die Chancen verbessern, gesund zu bleiben oder wieder gesund zu werden, kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass sie sich mehr als verdoppeln und dass sich die Überlebenszeiten bei zugleich höherer Lebensqualität vervielfachen.58 Das bedeutet, dass wirklich große Fortschritte in der Medizin mit Sicherheit weniger von neuen Medikamenten als von der psychosomatischen Psychotherapie zu erwarten sind.

Warum hatte das psychosomatische Wissen wenig Konsequenzen für die Praxis des Gesundheitswesens? Der wohl wichtigste Grund ist der, dass bis vor kurzem keine rasch und verlässlich wirksamen Psychotherapien verfügbar waren. Eine psychoanalytische Behandlung dauert zu lange, ist zu unspezifisch in ihren Wirkungen und könnte nur einem kleinen Kreis von Patienten zugute kommen. Und Verhaltenstherapie ist von ihrem methodischen Ansatz her weniger geeignet für psychosomatische Themen. Heute ist es erstmals möglich, die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Psychosomatik psychotherapeutisch auf breiter Basis umzusetzen.

Den neuen Erkenntnissen in der Psychotherapie muss auch ein neues Wissenschafts-Verständnis entsprechen. Wissenschaft darf keine Ideologie sein, die dem Leben ihre Regeln aufzwängt. Das wissenschaftliche Denken und seine Methoden müssen dem Gegenstand der Untersuchung angemessen sein und nicht umgekehrt. Wissenschaft sollte auch nicht hinter den Entwicklungen in der Praxis zurückbleiben. So wie sich in der Psychotherapie von Generation zu Generation grundlegende Paradigmenwechsel vollzogen haben, findet das auf ganz ähnliche Weise in der Wissenschaft statt.

Capra spürt seit 197059 diesem Verständnis von Wissenschaft nach. Für einen der aussagekräftigsten Ansätze hält er die Bootstrap-Philosophie von Geoffrey Chew, die davon ausgeht, dass es für das naturwissenschaftliche Wissen keine festen Fundamente mehr gibt: „Für Chew ist das materielle Universum ein dynamisches Gewebe zusammenhängender Geschehnisse. Keine der Eigenschaften dieses Gewebes sind fundamental; alle ergeben sich aus den Eigenschaften der anderen Teile, und die umfassende Stimmigkeit ihrer Zusammenhänge bestimmt die Struktur des ganzen Gewebes.“60 Das beschreibt ziemlich genau mein Verständnis von der Integrierten Lösungsorientierten Psychologie.

Doch wie kann man so etwas theoretisch darstellen und in der Ausbildung praktisch vermitteln? Ich vergleiche es manchmal mit einem jener altmodischen, sich langsam drehenden Kinder-Karusselle. Wer mitfahren will, kann an jeder Stelle aufspringen. Bei Ausbildungsteilnehmern beobachte ich, dass sie sich nach dem ersten Drittel der Ausbildung ziemlich verwirrt fühlen. Sie meinen dann überhaupt nichts mehr zu verstehen. Bis ihnen dann allmählich klar wird, was man verstehen kann und was nicht, und wo Denken weiterhilft und wo es eher stört.

Das Neue, und für manchen Bedrohliche, ist: Wir können mit unserem Wissen, mit unserer Vernunft und unserem Verstehen die Wirklichkeit nur unvollständig kontrollieren. Wir konnten das nie, das war immer eine Selbsttäuschung, doch jetzt wissen wir, dass es so ist. Das bedeutet aber nicht, dass wir mit den nicht verstehbaren Bereichen nicht umgehen könnten. Viele konnten das schon immer. Sie haben sich dabei auf Erfahrung und Intuition gestützt. Nur damit konnte die Wissenschaft nichts anfangen. In der Therapie stützen wir uns zusätzlich auf methodische Vorgehensweisen.

Als Bandler und Grinder anfingen, das NLP zu entwickeln, machten sie sich Gedanken darüber, was an ihrem Vorgehen neu und anders ist. Zunächst schoben sie das psychologische Wissen auf die Seite: „Wenn man Erfahrungen mit Theorie vermischt und alles zusammen in einen Topf tut, dann ergibt das eine Psychotheologie.“61 Dann konzentrierten sie sich darauf herauszufinden, wie etwas funktioniert. Dieses Wie meinen sie, wenn sie sagen: „Wir bieten euch nicht etwas an, was wahr ist, sondern nur Dinge, die nützlich sind.“62 An die Stelle des Wissens trat das methodische Vorgehen. Dass auch darin eine Gefahr liegt, dass an die Stelle des Besserwissens nun das Manipulieren treten kann, hat Virginia Satir geahnt, als sie warnend über den Umgang mit diesen neuen Methoden sagte: „… sie müssen in einen Rahmen gestellt werden, der durch Einfühlung und Liebe für die Persönlichkeit des anderen geprägt ist.“63

ILP - Integrierte Lösungsorientierte Psychologie

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