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Bedeutung für heute
ОглавлениеBonhoeffer wagte es, sich selbst und anderen unbequeme Fragen zu stellen. Er wollte ehrlich fragen und konstatieren, „was man selbst eigentlich glaubt“.43 Nur vom Boden der Redlichkeit sich selbst gegenüber44 war für ihn ein echter Neuansatz christlicher Existenz angesichts einer „mündig gewordenen Welt“45 denkbar. Er übernahm Verantwortung für Kirche und Gesellschaft unter dem Motto: „Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll. Nur aus dieser geschichtlich verantwortlichen Frage können fruchtbare – wenn auch vorübergehend sehr demütigende – Lösungen entstehen.“46 Bonhoeffer nahm ein bleibendes Anliegen des theologischen Liberalismus aus dem 19. Jahrhundert auf, indem er Theologie und Kirche auftrug, die modernen Infragestellungen des Glaubens ernst zu nehmen: „Die Kirche muss aus ihrer Stagnation heraus. Wir müssen auch wieder in die freie Luft der geistigen Auseinandersetzung mit der Welt. Wir müssen es auch riskieren, anfechtbare Dinge zu sagen, wenn dadurch nur lebenswichtige Fragen aufgerührt werden.“47
In dem Kampf gegen kirchlich-fromme Sterilität und Phrase liegt ein Grund für die ungebrochene Aktualität von Bonhoeffers Gedanken. In der Kirche sollen Echtheit und Aufrichtigkeit herrschen.48 Sein Suchen und Sehnen ging nach einer Weise, „das Wort Gottes so auszusprechen, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert. Es wird eine neue Sprache sein, vielleicht ganz unreligiös, aber befreiend und erlösend wie die Sprache Jesu, dass sich die Menschen über sie entsetzen und doch von ihrer Gewalt überwunden werden […].“49 Bonhoeffer wusste, dass er selbst die neue Sprache, die er suchte, noch nicht gefunden hatte: „Bis dahin wird die Sache der Christen eine stille und verborgene sein; aber es wird Menschen geben, die beten und das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten.“50 Auch diese Aussage hat nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Bis heute hat die Gemeinde Jesu Christi noch nicht das Wort für eine fortschreitend entkirchlichte und säkularisierte Gesellschaft gefunden, das sie in der Breite aufhorchen ließe.
Der Theologe Dietrich Bonhoeffer regt heutige Menschen schließlich auch deswegen zum Nachdenken an, weil bei ihm „Denkakt und Lebensakt“, Theologie und Biografie, untrennbar verknüpft waren.51 Seine Theologie war nie nur eine Angelegenheit des Denkens. Darum kämpfte er bis zuletzt gegen den „religiösen Akt“, der immer etwas Partielles ist. „[…] der ‚Glaube‘ ist etwas Ganzes, ein Lebensakt. Jesus ruft nicht zu einer neuen Religion auf, sondern zum Leben.“52 Bonhoeffer hat scharfsichtig erkannt, dass die (bürgerliche) Religion getrennt von der Alltagswirklichkeit bleibt. Sie erlaubt höchstens die Rede von Gott in den Grenzsituationen des Lebens. Ihre Bedeutung ist mit der Sahne auf dem Kakao vergleichbar: durchaus entbehrlich. Bonhoeffer dagegen wollte „von Gott nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte, nicht in den Schwächen, sondern in der Kraft, nicht also bei Tod und Schuld, sondern im Leben und im Guten des Menschen sprechen“.53 Nicht Rückzug, liberale Reduktion des christlichen Glaubens, sondern „die Inanspruchnahme der mündig gewordenen Welt durch Jesus Christus“,54 dem sie ohnehin gehört, war sein Ziel. Das Wort Gottes regiert!55 Das hat Bonhoeffer als Theologe, Christ und Zeitgenosse selbst vorgelebt. Sein Engagement für Kirche und Gesellschaft bis zum Märtyrertod zeigt, dass er sich nicht ins Getto zurückgezogen, sondern als Christ in der Welt bewährt hat. Genauso wenig verfiel er in einen gottvergessenen Aktivismus, sondern wartete „aktiv“ auf das Kommen des Reiches Gottes. Bonhoeffer ist damit Theologie und Kirche immer noch voraus. Indem er die Gültigkeit der biblischen Aussagen voraussetzte, hat er einen verheißungsvollen Weg in die Zukunft eröffnet, den jede Generation auf ihre Weise gehen muss.
Für eine weitere Einführung von Peter Zimmerling in das Leben und Werk Dietrich Bonhoeffers finden Sie im Internet:
•Stationen auf dem Weg zur Freiheit: Dietrich Bonhoeffers Leben
peter-zimmerling-dietrich-bonhoeffers-leben
•Stationen auf dem Weg zur Freiheit: Dietrich Bonhoeffers Werk
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