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Wie bei einer Ellipse kreisen die Briefe inhaltlich um zwei Brennpunkte: um Menschliches und Theologisches. Familie, Verlobung und Freundschaft wurden für Bonhoeffer in der Nazizeit insgesamt, erst recht aber während der Haft, zu Oasen der Menschlichkeit. Schon im ersten Brief an die Eltern vom 14.4.1943 fällt die ungeheuer wache menschliche Zuwendung und Wärme Bonhoeffers auf. Dieser Ton prägt auch alle folgenden Briefe an die Eltern, die Verlobte und den Freund. Der inhaftierte Bonhoeffer ist voller Interesse und Mitgefühl am Ergehen nicht nur der Eltern, der Verlobten und des Freundes, sondern auch der Geschwister und anderer Angehörigen und Freunde. Zwischen den Zeilen spürt man seinen Kampf mit den Infragestellungen des Menschlichen durch das nationalsozialistische Terrorregime. Immer wieder geht Bonhoeffer darauf ein, was ihm hilft, trotz des unmenschlichen Terrors nicht am Leben zu verzagen: Es sind die „guten Mächte“ – neben geistlichen Dingen wie Paul-Gerhardt-Liedern, den Psalmen, den Losungen und der Bibel insgesamt auch gute weltliche Lektüre (vor allem Adalbert Stifter), mit Liebe gepackte Esspakete der Familie und der Verlobten, aber auch geistige Arbeit allgemein (vgl. den Brief vom 18.11.1943 an Eberhard Bethge und den Brief vom 19.12.1944 an Maria von Wedemeyer14). Zeitweise kann Bonhoeffer seine Gefängniszelle mit Erinnerungen an die Eltern, die Verlobte und den Freund so ausgestalten, dass sie für ihn den Charakter eines Zuhauses annimmt. Ohne einem „Kult des Menschlichen“15 verfallen zu wollen, stellt Bonhoeffer fest: „Schließlich sind eben die menschlichen Beziehungen doch einfach das Wichtigste im Leben […].“ Die theologische Begründung dafür findet er, gut lutherisch, in Gottes Gebot. Die beiden höchsten Gebote sind nach den Worten Jesu das Gebot der Gottes- und das der Nächstenliebe, woraus für ihn folgt: „Gott selbst lässt sich von uns im Menschlichen dienen.“

Hinter diesen Überlegungen zur Bedeutung des Menschlichen steht Bonhoeffers Entdeckung der „Polyfonie des Lebens“16. Diese Polyfonie spiegelt sich in seinem Verhalten im Gefängnisalltag. Er lernt, zu eigenen irdischen Wünschen zu stehen,17 genießt die Wärme, die von der Liebe seiner Verlobten und seiner Familie ausgeht,18 und freut sich an der Schönheit der irdischen Dinge.19 Er kann sich von dem Druck befreien, ein besonders religiöser Mensch sein zu müssen, und stattdessen ganz nüchtern als Mitmensch die Nöte der Mitgefangenen wahrnehmen und mittragen.20

Die Liebe zu Maria von Wedemeyer ist der „Katalysator“, durch den diese Erkenntnisse bei Bonhoeffer Gestalt gewinnen. In seiner Verlobten – und auch in seinem Freund Eberhard Bethge – hat er Menschen gefunden, die ihr Christsein ganzheitlicher leben als er. In einem Brief an Maria von Wedemeyer heißt es: „Erkennen, Wollen, Tun, Empfinden und Erleiden bricht bei Dir nicht auseinander, sondern ist ein großes Ganzes […], das ist es, was ich brauche, was ich in Dir gefunden habe, was ich liebe – das Ganze, Ungeteilte, wonach ich Sehnsucht und Verlangen habe.“21 Durch die Beziehung zu Maria wird Bonhoeffer sich seiner Existenz als theologischer „Kopffüßler“ bewusst. In einem Brief beschreibt er seine Sehnsucht, wieder am ganzen Leib die Sonne zu spüren: „Ich möchte mir von ihr meine animalische Existenz erwecken lassen, nicht jenes Animalische, das das Menschsein erniedrigt, sondern das es aus der Muffigkeit und Unechtheit einer nur geistigen Existenz befreit und den Menschen reiner und glücklicher macht.“22

Es geht Bonhoeffer nun nicht mehr darum, ein Heiliger zu werden, sondern wirklicher Mensch zu sein. Er will Christ sein mitten in der Diesseitigkeit der Welt. Am 21.7.1944 – unmittelbar nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler – schreibt er an seinen Freund und theologischen Gesprächspartner Eberhard Bethge: „Ich erfahre es bis zur Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine sogenannte priesterliche Gestalt!), einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden […] –, dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern die Leiden Gottes in der Welt ernst […], und so wird man ein Mensch, ein Christ.“23 Entsprechend soll die Ehe mit Maria von Wedemeyer „ein Ja zu Gottes Erde sein“.24 Dabei ist die von Bonhoeffer gemeinte Diesseitigkeit nicht zu verwechseln mit der „platten und banalen Diesseitigkeit der Aufgeklärten, der Betriebsamen, der Bequemen oder der Lasziven“, sondern zu verstehen als eine „tiefe Diesseitigkeit, die voller Zucht ist“.25

Theologisch begründet Bonhoeffer seinen Weg zu einem ganzheitlichen Menschsein von der Menschwerdung Jesu Christi her: Weil Jesus Mensch war, darf auch der Christ schlicht Mensch sein. Auf diesem Hintergrund wird auch Bonhoeffers Liebe zum Alten Testament verständlich: Indem er das Alte Testament in den Vordergrund rückt, will er verhindern, dass das Diesseits im Glauben vorzeitig aufgehoben wird. So wie Jesus soll auch der Christ das irdische Leben ganz auskosten: „und nur indem er das tut, ist der Gekreuzigte und Auferstandene bei ihm und ist er mit Christus gekreuzigt und auferstanden.“26

Menschliches und Theologisches gehören in Bonhoeffers Briefen untrennbar zusammen und sind wechselseitig aufeinander bezogen. Genau wie Bonhoeffer seine Hinwendung zum ganzheitlichen Menschsein und damit zum weltlichen Leben theologisch begründet, erwachsen seine neuen theologischen Erkenntnisse organisch aus der für ihn neuen und ungewohnten Situation im Gefängnis. Bonhoeffer geht aus von der Frage, „wer Christus heute für uns eigentlich ist.“27 Er möchte wissen, wie die christliche Botschaft den modernen Menschen heute noch in seiner Lebensmitte erreichen kann. Denn Gott ist nicht ein Gott für die existenziellen oder intellektuellen Grenzsituationen des Menschen, wo dieser mit seiner eigenen Kraft nicht mehr weiterweiß. Der christliche Gott gibt uns – so Bonhoeffer – vielmehr zu wissen, „dass wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertigwerden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt (Markus 15,34)! Der Gott, der uns in der Welt leben lässt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt, und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns. Es ist in Matthäus 8,17 ganz deutlich, dass Christus nicht hilft kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schwachheit, seines Leidens!“28

Diese Sätze haben einer ganzen theologischen Bewegung, der sogenannten Gott-ist-tot-Theologie, in den 1960er-Jahren mit Bischof Robinson und Dorothee Sölle als ihren prominentesten Vertretern als Legitimation gedient. Es ist heute weithin anerkannt, dass sich diese Bewegung zu Unrecht auf Bonhoeffer berufen hat. Er will ja nicht etwa sagen, dass Gott tot sei und wir unser Leben darum nicht mehr an Gott ausrichten müssten. Vielmehr kritisiert er in diesen Aussagen einen traditionellen Gottesbegriff, der nicht wirklich Ernst gemacht hat mit der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Gott ist kein anderer als der Vater Jesu Christi. Bonhoeffer ringt um eine Verchristlichung der herkömmlichen Rede von Gott.29 Leitgedanke ist für ihn dabei Johannes 1,14: „Das Wort ward Fleisch.“30

Die nicht-religiöse Interpretation christlicher Begriffe ist der Versuch, traditionelle christliche Begriffe radikal-christlich zu interpretieren. Bonhoeffer hat sie allerdings selbst nicht mehr durchführen können.31 Die von ihm geforderte Neuinterpretation geht von seiner neuen Erkenntnis dessen aus, was christlich verstanden „Weltlichkeit“ bedeutet. „Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns.“32 Ebenso streng inkarnatorisch bestimmt er das Sein Gottes: „Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen.“33 Hierin unterscheidet sich für Bonhoeffer die christliche Rede von Gott und der Welt grundsätzlich von allen anderen Religionen. Das hat Konsequenzen für seine Bestimmung von Christsein: Ein Mensch wird Christ, indem er teilnimmt am Leiden Gottes im weltlichen Leben.34 Nur so erfährt er, dass Gott ihm gerade als der Ohnmächtige, als der Gekreuzigte hilft. Das Gedicht „Christen und Heiden“ bringt diesen Doppelakt in der zweiten und dritten Strophe besonders deutlich zum Ausdruck:

2. Menschen gehen zu Gott in Seiner Not,

finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot,

sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod.

Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden.

3. Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not,

sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot,

stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod,

und vergibt ihnen beiden.35

Hinter der Forderung einer nicht-religiösen Interpretation biblischer Begriffe steckt ein zutiefst missionarisches Motiv: Bonhoeffer will dazu beitragen, dass Menschen berufen werden, das Wort Gottes wieder so auszusprechen, dass sich die säkulare, autonome Welt darunter verändert und erneuert.36 Es geht letztlich um die Erneuerung der christlichen Predigt, „die den Frieden Gottes mit den Menschen und das Nahen seines Reiches verkündigt“.37 Im Augenblick schwerster Bedrohung des christlichen Glaubens durch den Nazi-Staat sucht Bonhoeffer nach einer Gestalt des christlichen Glaubens, die dieser Herausforderung gerecht wird.

Auf dem Weg dahin regt Bonhoeffer als flankierende Maßnahme die Erneuerung der altkirchlichen Arkandisziplin an, nach der bestimmte Wahrheiten des christlichen Glaubens nicht der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich zu machen, sondern den Christen vorbehalten sind. Das Stichwort kommt in den Gefängnisbriefen der Sache nach dreimal vor,38 wobei die zweite Stelle besonders aufschlussreich ist. Darum soll sie hier im Zusammenhang zitiert werden: „Barth hat als erster Theologe – und das bleibt sein ganz großes Verdienst – die Kritik der Religion begonnen, aber er hat an ihre Stelle eine positivistische Offenbarungslehre gesetzt, wo es dann heißt: ‚friss Vogel, oder stirb’; ob es nun Jungfrauengeburt, Trinität oder was immer ist, jedes ist ein gleichbedeutsames und notwendiges Stück des Ganzen, das eben als Ganzes geschluckt werden muss oder gar nicht. Das ist nicht biblisch. Es gibt Stufen der Erkenntnis und Stufen der Bedeutsamkeit; d. h., es muss eine Arkandisziplin wiederhergestellt werden, durch die die Geheimnisse des christlichen Glaubens vor Profanierung behütet werden. Der Offenbarungspositivismus macht es sich zu leicht, indem er letztlich ein Gesetz des Glaubens aufrichtet und indem er das, was eine Gabe für uns ist – durch die Fleischwerdung Christi! –, zerreißt. An der Stelle der Religion steht nun die Kirche – das ist an sich biblisch –, aber die Welt ist gewissermaßen auf sich selbst gestellt und sich selbst überlassen, und das ist der Fehler.“39 Barths offenbarungspositivistische Lösung erscheint Bonhoeffer verfehlt, weil sie den wesentlich missionarischen, d. h. dem Menschen zugewandten Charakter der christlichen Botschaft nicht angemessen berücksichtigt. Bonhoeffer begründet seinen Vorschlag, die Arkandisziplin zu erneuern, mit biblischen Aussagen, nach denen es „Stufen der Erkenntnis und Stufen der Bedeutsamkeit“ gibt (vgl. etwa Hebr 5,14). Es gibt Geheimnisse des christlichen Glaubens, die nicht ohne Weiteres jedem zugänglich sind.

Bethge interpretiert die Überlegungen Bonhoeffers wie folgt: „Diese ‚Geheimnisse‘ sind schöpferische Vorgänge des Heiligen Geistes. Sie werden jedoch zu ‚religiösen‘ Objekten, zum ‚Offenbarungspositivismus‘, wenn sie unmotiviert angeboten, aufgezwungen und billig verschleudert werden. Bonhoeffer kann auch von einer Unterscheidungsverantwortung der Kirche nach Zeit und Gegenüber sprechen, indem sie ‚Stufen der Bedeutsamkeit‘ beachtet. Man wird sogar von der anderen Seite her argumentieren dürfen: Die Arkandisziplin schützt ebenso die Welt vor einer Vergewaltigung durch die Religion. So erhält die Arkandisziplin eine wichtige Funktion, das nichtreligiöse Interpretieren vor dem Rückfall in das Religiöse zu bewahren.“40 Mit der Forderung eines Arkanums wird die nichtreligiöse Interpretation biblischer Begriffe vor dem Missverständnis platter Verweltlichung des Glaubens bewahrt. Bonhoeffers eigene Frömmigkeitspraxis während der Haft bis unmittelbar vor seiner Ermordung ist hierfür ein deutliches Indiz. Andererseits schützt die Arkandisziplin die Welt vor religiöser Vereinnahmung. In seiner großen Bonhoeffer-Biografie formuliert Bethge prägnant: „Arkandisziplin ohne Weltlichkeit ist Getto, und Weltlichkeit ohne Arkandisziplin ist nur noch Boulevard.“41

Bonhoeffer wollte die Radikalität der biblischen Aussagen über Jesus Christus in der Situation einer säkularisierten Gesellschaft neu zu Gehör bringen. Es ging ihm dabei um viel „mehr“ als Rudolf Bultmann, der mit seiner Entmythologisierung des Neuen Testaments dessen theologische Aussagen dem modernen Zeitgenossen verträglich machen wollte. Für Bonhoeffer war die Neuinterpretation primär ein inhaltlich-theologisches Problem. Er dachte ontologisch-sozial: Die Frage war für ihn, wie der lebendige Gott in Kirche und Gesellschaft erkannt und geehrt werden kann. Für Bultmann, der individual-existenzialistisch dachte, handelte es sich bei der Neuinterpretation um eine primär hermeneutische Aufgabe: Wie kann der moderne Mensch mit den überholten biblischen Vorstellungsmustern versöhnt werden? Weil Bonhoeffer vom gegenwärtig wirkenden Gott ausgeht, ist seine Fragestellung gerade angesichts heute zu beobachtender Wiederkehr der Religiosität hochaktuell.42

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