Читать книгу Du wartest jede Stunde mit mir - Dietrich Bonhoeffer - Страница 8
Eigenart
ОглавлениеCharakteristisch für Bonhoeffers Briefe ist die Verbindung von persönlichen Mitteilungen und theologischen Überlegungen auf hohem intellektuellem Niveau. Das gilt vor allem für die Briefe an Bethge. Äußerlich erkennbar wird die Verbindung an der Tatsache, dass Bonhoeffer im Originalbrief zuweilen zwei unterschiedliche Schriftarten verwendet hat: Im Rahmen theologischer Überlegungen kann er unwillkürlich von der lateinischen in die – für andere beinahe unlesbare – deutsche Schrift wechseln. In den Briefen an die Eltern steht deren Ergehen angesichts der zunehmenden Bombardierungen Berlins und die Verbundenheit miteinander im Vordergrund. Die Briefe an die Verlobte thematisieren naturgemäß die gemeinsame Zukunft und die Liebe zueinander, aber auch theologische und spirituelle Fragen und solche des literarischen Geschmacks.
Dass Briefe den wesentlichen Teil eines Lebenswerks bilden, ist im Verlauf der Literaturgeschichte immer wieder vorgekommen. Aus dem Umkreis der Lektüre Bonhoeffers ist hier an Theodor Fontane zu erinnern, dessen Briefe von ihrer literarischen Bedeutung her gleichberechtigt neben seinem Romanwerk zu stehen kommen.10 In theologischer Hinsicht gilt das natürlich zuallererst für die Briefe des Apostels Paulus im Neuen Testament. Der Vergleich der Briefe Bonhoeffers mit denen des Apostels drängt sich geradezu auf. Paulus hat, ausgehend vom antiken Briefformular, mit ihnen sogar eine eigene Briefgattung überhaupt erst geschaffen. Bis dahin war es nicht üblich, derart lange Briefe zu verfassen. Dabei zeichnen sich auch die Briefe des Paulus durch die Verknüpfung von theologischen Überlegungen und persönlichen Mitteilungen aus. Es handelt sich bei ihnen also nicht um abstrakte theologische Abhandlungen. Stattdessen sind es allesamt anlassbedingte Gelegenheitsschriften. Das gilt sogar für den Römerbrief, in dem Paulus bei der ihm persönlich nicht bekannten Gemeinde in Rom seine theologische Visitenkarte abgibt, um die Gemeinde als Unterstützerin für die von ihm geplante Missionsarbeit in Spanien, dem Westen des Römischen Reiches, zu gewinnen. Schon bei Paulus bedingen sich Theologie und Biografie wechselseitig. Dazu kommt noch eine weitere Gemeinsamkeit mit den Bonhoeffer-Briefen: Manche Briefe des Apostels sind im Gefängnis geschrieben. Das Gefängnis wurde für Paulus zum fruchtbaren Ort theologischer Erkenntnis.
Natürlich waren Bonhoeffer die Briefe des Paulus durch Studium und kontinuierliche Bibellektüre gut bekannt. Auch Bonhoeffer wurde im Gefängnis theologisch kreativ. Schon in „Nach zehn Jahren“ schrieb er – nur wenige Wochen vor seiner Inhaftierung: „Es bleibt ein Erlebnis von unvergleichlichem Wert, dass wir die großen Ereignisse der Weltgeschichte einmal von unten, aus der Perspektive der Ausgeschalteten, Beargwöhnten, Schlechtbehandelten, Machtlosen, Unterdrückten und Verhöhnten, kurz der Leidenden sehen gelernt haben […], dass das persönliche Leiden ein tauglicherer Schlüssel, ein fruchtbareres Prinzip zur betrachtenden und tätigen Erschließung der Welt ist als persönliches Glück.“11 Während der Haft hat sich diese Perspektive von unten für Bonhoeffer noch einmal forciert. Gerade sie wird jetzt zum fruchtbaren Erkenntnisprinzip. Im Briefwechsel mit Eberhard Bethge erfolgt ein regelrechter Ausbruch an Kreativität.12
Dazu kommt noch etwas anderes. Die Briefform entspricht genau – anders als die großen theologischen Werke der Vorfahren Bonhoeffers – dem Fragmentarischen seines Lebens insgesamt. Er musste im Gefängnis nämlich erkennen, dass er – anders als sein Vater und seine übrigen Vorfahren – einmal kein „geistiges ‚Lebenswerk‘“13 hinterlassen würde: „Wo gibt es noch die schöne Zwecklosigkeit und doch die große Planung, die zu einem solchen Leben gehört? […] Unsere geistige Existenz aber bleibt dabei ein Torso.“ Über dieser Einsicht wird er „fast etwas wehmütig“ gestimmt. Dann aber erkennt er den Wert, den auch ein fragmentarisches Leben bzw. ein Fragment bleibendes Lebenswerk gewinnen kann: „Es kommt wohl nur darauf an, ob man dem Fragment unsres Lebens noch ansieht, wie das Ganze eigentlich angelegt und gedacht war und aus welchem Material es besteht. […] Wenn unser Leben auch nur ein entferntester Abglanz eines solchen Fragmentes ist, in dem wenigstens eine kurze Zeit lang die sich immer stärker häufenden, verschiedenen Themata zusammenstimmen und in dem der große Kontrapunkt vom Anfang bis zum Ende durchgehalten wird, sodass schließlich nach dem Abbruch – höchstens noch der Choral: ‚Vor Deinen Thron tret’ ich allhier‘ – intoniert werden kann, dann wollen wir uns auch über unser fragmentarisches Leben nicht beklagen, sondern daran sogar froh werden.“ Der Brief korrespondiert in seinem Gelegenheitscharakter und seiner Vorläufigkeit mit Bonhoeffers Leben insgesamt. Trotzdem ist das für ihn nicht länger ein Grund zur Trauer. Im Gegenteil: In dem Zitat nennt Bonhoeffer die Bedingung dafür, wann man sich über das Fragmentarische des eigenen Lebens sogar freuen kann: Wenn die unterschiedlichen Lebensthemen durch den Glauben an Gott, den großen Kontrapunkt, zusammenstimmen. Der Glaube an Jesus Christus, der selbst als Gescheiterter, als am Kreuz Hingerichteter, das ihm von Gott bestimmte Lebenswerk vollendet hat, vermag auch das fragmentarische menschliche Leben zum Ziel zu führen.