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5. An Karl und Paula Bonhoeffer
Оглавление4. Juni 1943, Himmelfahrtstag
Liebe Eltern!
Ich hatte Euch schon einen langen Brief geschrieben, da bringt eben die Post die Briefe von Maria und meiner Schwiegermutter und damit ein ganz unbeschreibliches Glück in meine Zelle; nun muss ich den Brief noch mal anfangen und Euch vor allem bitten, beiden gleich zu schreiben und zu danken! Wie mir zumute ist, dass ich es nicht selbst tun kann, werdet Ihr Euch vorstellen. Maria schreibt so froh über den Tag bei Euch, und wie schwer muss es trotz aller Liebe, die Ihr ihr gezeigt habt, für sie gewesen sein; es ist ein Wunder, wie sie das alles durchsteht, und für mich ein Glück und Vorbild sondergleichen. Das Gefühl, ihr gar nicht beistehen zu können, wäre oft kaum zu verwinden, wenn ich nicht wüsste, dass ich im Gedanken an sie wirklich ruhig sein darf. Ich wünsche es wirklich vielmehr noch um ihret- als um meinetwillen, dass diese harte Zeit nicht allzu lange dauert. Dass aber gerade diese Monate einmal für unsere Ehe unendlich wichtig sein werden, ist mir gewiss und dafür bin ich dankbar. Wie sehr mich der Brief meiner Schwiegermutter bewegt hat, vermag ich kaum zu sagen. Dass ich ihr zu all dem Schmerz des vergangenen Jahres noch einen solchen Kummer hinzufügen musste, hat mich seit dem ersten Tag meiner Festnahme gequält, und nun hat sie gerade diese über uns gekommene Not zum Anlass genommen, die Frist des Wartens abzukürzen und mich dadurch glücklich zu machen. Vor diesem großen Vertrauen, dieser Güte und Größe des Herzens stehe ich wirklich sehr beschämt und dankbar da, und ich werde ihr das niemals vergessen. Im Grunde ist das der Geist, den ich in all den Häusern dieser Familie immer gespürt habe und der mich so berührt hat, längst ehe ich etwas von meinem künftigen Glück ahnte. Und nun weiß ich auch aus Euren und K. Friedrichs Briefen, dass Ihr Maria gernhabt; es konnte ja auch nicht anders sein. Ja, sie wird Euch eine sehr gute Schwiegertochter sein und sich sicher in unserer Familie bald ebenso zu Hause fühlen, wie ich mich seit Jahren ihrer großen Familie zugehörig gefühlt habe. Dass K. Friedrich meine Schwiegermutter in die Stadt begleitet hat und sie sich so etwas kennenlernten, freut mich sehr, auch dass er Maria in meiner Stellvertretung ins Gewissen geredet hat, sich ihre Rationen nicht abzusparen, die sie bei ihrem schweren Dienst wirklich selbst braucht, ist sehr nett von ihm.
Ich danke Euch sehr für Eure Briefe, mir sind sie immer nur zu kurz, aber ich verstehe es ja natürlich! Es ist, als täte sich einen Moment die Gefängnistür auf und man lebt ein Stück Leben draußen mit. Das Verlangen nach Freude ist in diesem ernsten Hause, in dem man nie ein Lachen hört – selbst dem Wachpersonal scheint es über ihren Eindrücken vergangen zu sein –, sehr groß und man schöpft alle inneren und äußeren Quellen der Freude voll aus.
Heute ist Himmelfahrtstag, also ein großer Freudentag für alle, die es glauben können, dass Christus die Welt und unser Leben regiert. Die Gedanken gehen zu Euch allen, zu Kirche und Gottesdiensten, von denen ich nun schon so lange getrennt bin, aber auch zu den vielen unbekannten Menschen, die in diesem Haus ihr Schicksal stumm mit sich herumtragen. Solche und andere Gedanken bewahren mich immer wieder gründlich davor, die eigenen geringen Entbehrungen irgendwie wichtig zu nehmen. Das wäre sehr ungerecht und undankbar.
Ich habe gerade wieder etwas über das „Zeitgefühl“ weitergeschrieben, das macht mir großen Spaß, und was man so aus unmittelbarem Erleben schreibt, geht flüssiger von der Hand und man schreibt sich frei. Die „Anthropologie“ von Kant, für die ich Dir, Papa, sehr danke, habe ich durchgelesen; ich kannte sie nicht. Ich fand vieles sehr Interessante darin, aber es bleibt doch eine sehr rationalistische Rokokopsychologie, die an vielen wesentlichen Erscheinungen einfach vorbeigeht. Kannst Du mir etwas Gutes über Formen und Funktionen des Gedächtnisses schicken? Das interessiert mich in diesem Zusammenhang jetzt sehr. Sehr hübsch sind Kants Deutungen des „Rauchens“ als Selbstunterhaltung.
Dass Ihr jetzt Gotthelf lest, freut mich sehr; sicher würden Euch auch seine „Wanderungen“, die, glaube ich, Susi hat, ebenso gefallen. Wissenschaftlich habe ich hier Uhlhorns große „Geschichte der christlichen Liebestätigkeit“ sehr gern gelesen und mich bei Holls Kirchengeschichte an seine Seminare erinnert.
Fast täglich lese ich etwas Stifter; das geborgene und verborgene Leben seiner Gestalten – er ist ja so altmodisch, nur sympathische Menschen zu schildern – hat in dieser Atmosphäre hier etwas sehr Wohltuendes und lenkt die Gedanken auf die wesentlichen Lebensinhalte. Überhaupt wird man hier in der Zelle äußerlich und innerlich auf die einfachsten Dinge des Lebens zurückgeführt; so konnte ich z. B. mit Rilke gar nichts anfangen. Aber vielleicht leidet auch der Verstand etwas unter der Enge, in der man lebt?
Eben kommt nun, es ist inzwischen Freitag, Euer wundervolles Frühjahrspaket mit den ersten Gartenerzeugnissen! Für dieses wie für das vorige danke ich Euch und allen daran Beteiligten wieder sehr! Wie lange wird Euch diese Mühe und dieses Sorgen für mich nun noch auferlegt sein – wer kann es wissen?
Ich hätte gern Hoskyns „Das Rätsel des Neuen Testaments“ bei Gelegenheit (steht über meinem Bett), und etwas Watte, es ist nachts manchmal ziemlich laut.
In diesen Tagen hoffe ich wieder auf einen Brief von Euch. Schreibt doch immer alles, was Ihr von Maria wisst. Schön, dass K. Friedrich und Schleichers neulich dabei waren; Schleichers kennen ja auch die ältere Schwester Bismarck, und Ihr erinnert Euch vielleicht noch an den gefallenen Bruder Max, meinen Konfirmanden, aus Stettin? Grüßt auch die Großmutter immer sehr!
Es vergeht doch kaum eine Stunde, in der nicht die Gedanken von den Büchern zu Euch allen wandern und ein Wiedersehn in Freiheit muss unvorstellbar schön sein. Bis dahin wollen wir weiter Geduld und Zuversicht behalten. Dass Ihr nun gar nicht reist und etwas ausspannen könnt, tut mir so leid. Geht es Euch denn einigermaßen? Mir geht es gut, ich bin weiter gesund, werde satt, schlafe leidlich und die Zeit geht immer noch schnell vorüber. Grüßt bitte alle Geschwister, Kinder und Freunde. In großer Dankbarkeit und Liebe grüßt Euch
Euer Dietrich