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3.2.2 Jean Piagets genetische Erkenntnistheorie

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Der Biologe, Psychologe und Philosoph Jean Piaget (1896-1980) gilt nicht nur als einer der bedeutendsten Erforscher der kindlichen Entwicklung, sondern er wird auch als zentraler konstruktivistischer Denker bezeichnet. So hat sich unter anderem Ernst von Glasersfeld (1994) intensiv mit Piagets Arbeit auseinandergesetzt und ihn als „Pionier der konstruktivistisch orientierten Kognitionsforschung“ des 20. Jahrhunderts bezeichnet (Ebd., 18). Piaget suchte in dem von ihm in Genf gegründeten Internationalen Zentrum für genetische Epistemologie den intensiven Dialog mit Wissenschaftlern aus anderen Disziplinen (z.B. Einstein) und war sein Leben lang ein reger Forscher, der vor allem auch seine eigenen drei Kinder intensiv studierte. Er verstand sich allerdings nicht als Entwicklungspsychologe, sondern als Erkenntnistheoretiker (Scharlau 2007). Eines seiner Hauptanliegen war, die Erkenntnistheorie „von einer philosophischen zu einer experimentellen und biologischen Wissenschaft zu machen“ (Müller 1996a, 34), sie also zu verwissenschaftlichen.

Piagets lebenslanges zentrales Erkenntnis- und Forschungsmotiv war die Frage, „wie Erkenntnis im Kind entsteht und sich im Lauf der menschlichen Entwicklung verändert“ (Fatke 1981, 15). In diesem Sinne führte er beispielsweise schon als Kind zahlreiche Verhaltensbeobachtungen an Tieren durch und stellte später im Falle von Muscheln fest, dass diese sich, um ihre Überlebenschancen zu erhöhen, „intelligent“ an ihre jeweilige Umgebung anpassten, ohne jedoch eine visuelle Repräsentation ihrer Umwelt zu haben. Das Zusammenspiel von Organismus und Umwelt in der Entwicklung der Arten hat seine Sichtweise in der Intelligenzforschung entscheidend geprägt. So kam er unter anderem zu dem Schluss, dass Adaption an die Umgebung eine Vorform des Lernens sei (Müller 1996a, 34).

Piagets Theorie der Entwicklung des Wissens ist nicht primär eine Theorie der Wahrnehmung wie etliche spätere konstruktivistische Ansätze, sondern vielmehr eine Theorie des Handelns. Den Begriff der Handlung übernahm Piaget vom Pragmatismus: „Erkenntnis wird also nicht mehr rein mental modelliert, sondern pragmatisiert“ (Ebd., 35). Lernen erfolgt in seinen Augen durch aktives Handeln, und zwar maßgeblich durch das dynamische Wechselspiel von Assimilation (Deutung und Integration neuer Elemente/Handlungsschemata1 an bereits aufgebaute Strukturen) und Akkommodation (Restrukturierung von Wissen bzw. Revision eines vorhandenen Handlungsschemas im Sinne der situativen Anpassung an die Umwelt). Laut Ernst von Glasersfeld (1994) nimmt „der kognitive Organismus (...) nur das wahr (assimiliert), was er in die jeweils bereits bestehenden Strukturen einpassen kann“ (Ebd., 29). Erkennen ist demnach immer das Ergebnis von Assimilation. Gelingt auf Grund von neuen äußeren Bedingungen die Assimilation jedoch nicht, dann entsteht eine so genannte Störung im Handlungsschema und somit ein Anlass für eine aktive Verhaltensmodifikation, also ein Handlungsbedarf im Sinne des Lernens und des kognitiven Fortschritts. Als häufigste Ursache für Akkommodationen nennt Piaget Erfahrungen durch soziale und sprachliche Interaktionen (von Ameln 2004, 35). Kognitive Veränderung und Erkenntnis beruhen somit auf dem von Piaget als Äquilibration bezeichneten Mechanismus zur Aufrechterhaltung des kognitiven Gleichgewichts. Die Strukturen, die uns dabei helfen, unsere (subjektive) Wirklichkeit zu strukturieren, sind nach Piaget jedoch weder angeboren noch aus der Realität übernommen, „sondern eine eigene Konstruktionsleistung des Individuums, die nur auf dem biologischen Mechanismus der Selbstregulation basiert“ (Ebd., 36). Durch die Beschäftigung mit dem Thema „Gleichgewicht“ wandte sich Piaget später auch der Kybernetik zu. Er verweist beispielsweise auf Heinz von Foersters “order from noise“-Prinzip. Zudem sind gewisse Parallelen zu Maturanas Arbeiten erkennbar, wobei Piaget den kognitiven Apparat nicht – wie Maturana – als operational geschlossenes System betrachten würde (Ebd., 37).

Piagets biologisch begründete und entwicklungspsychologisch erweiterte Erkenntnistheorie trägt nicht nur deutliche konstruktivistische Züge, auch wenn Piaget einen eher gemäßigten Konstruktivismus vertritt, sondern hatte auch ein neues Menschenbild und somit eine neue Sicht des Kindes zur Folge: Das Kind wird bei Piaget als aktives Wesen betrachtet, das sich in der Auseinandersetzung mit der Welt entwickelt, diese strukturiert „und dabei sie und sich selbst verändert“ (Fatke 1981, 24). Es gilt als kompetentes Wesen, „das zunehmend über Fähigkeiten zur Weltaneignung verfügt“ (Ebd.) und im Vergleich zu den Erwachsenen „nicht als mangelhaft, sondern als qualitativ andersartig angesehen werden muß“ (Ebd.). Das Kind ist ein Interaktionspartner, der nicht allein nach den Vorstellungen der Erwachsenen geformt wird, „sondern seinerseits auch auf den Erwachsenen einwirkt und somit die Prozesse der Sozialisation und Erziehung aktiv mitgestaltet“ (Ebd.).

Trotz aller Verdienste ist Piaget immer wieder wegen seiner einseitigen Fixierung auf Misserfolg („Störung“) als Anlass für Lernprozesse und Erkenntnisfortschritte kritisiert worden. Ein weiterer Vorwurf gilt dem Aspekt, dass die Funktion des sozialen Lernens von ihm unterschätzt und beispielsweise auch erwachsenen Interaktionspartnerinnen bzw. -partnern nicht explizit eine fördernde Rolle zugeschrieben wird, wie das etwa bei seinem zeitweiligen Zeitgenossen Lev Vygotskij der Fall ist. Stattdessen ist das Kind in seiner Auseinandersetzung mit der Umwelt weitgehend auf sich selbst angewiesen. Scharlau (2007) resümiert, dass „Piagets Wissenschaftler ein einsamer Robinson Crusoe auf einer Insel [ist], der sich diese durch distanziertes Kartographieren und Organisieren erschließt“ (Ebd., 148). An anderer Stelle wird die Aussage allerdings wieder relativiert, da Piaget offensichtlich immer wieder betont hat, „dass soziale Einflüsse wichtig sind“ (Ebd., 147).2

Piagets Arbeit – insbesondere seine Stufentheorie – gilt heute als stellenweise überholt, wobei er angeblich auch oft missverstanden wurde, so dass in den vergangenen Jahren einige seiner Konzepte neu interpretiert oder auch modifiziert worden sind.3 Dennoch hat Piagets Arbeit nicht nur in der Psychologie und Philosophie, sondern auch für die Pädagogik bedeutsame Erkenntnisse geliefert. Ausgehend von seiner Vorstellung, dass alles Wissen aus Handeln erwächst und kognitive Entwicklung „in der Interaktion von Individuum und Umwelt konstruiert“ wird (Hoppe-Graff/Edelstein 1993, 11), begründet sie – wie das in Storyline-Projekten realisiert wird – den Einsatz aktiver und handlungsorientierter Lernformen sowie (je nach Auslegung von Piagets Arbeit) auch die Förderung der sprachlichen und sozialen Interaktion in einer reichen Lernumgebung, um die kognitive Aktivität der Lernenden und somit auch das kreative Problemlösen anzuregen. Des Weiteren unterstützt sie freies, lehrerunabhängiges und autonomes Lernen – Piaget (1999) spricht von self-government – wie dies auch in der Arbeit mit Storyline angestrebt wird (vgl. Kapitel 2.3). Ob bzw. inwiefern diese Aspekte auch im fremdsprachlichen Klassenzimmer realisiert werden können, sollen meine Fallstudien in Teil B untersuchen.

Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule

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