Читать книгу Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule - Doris Kocher - Страница 46
3.2.3 Lev S. Vygotskijs kulturhistorische Theorie des Menschen
ОглавлениеDer im selben Jahr wie Piaget geborene russische Psychologe Lev S. Vygotskij1 (1896-1934) gilt als weiterer wichtiger Vordenker des Konstruktivismus, der insbesondere den Zusammenhang von Denken und Sprechen2 sowie von Kognition und Sozialisation3 untersucht und in diesem Kontext das Konzept der kulturhistorischen Psychologie entwickelt hat. Vygotskij formulierte seine Überlegungen zwar früher als Piaget, allerdings wurde seine Arbeit im Westen erst in den 1980er Jahren rezipiert (Falkenberg 2007) und primär durch Jérôme Bruner in den englischen Sprachraum eingeführt und dort weiterentwickelt (Reich 2004). Vor allem heutige sozial orientierte konstruktivistische Ansätze der Lernpsychologie basieren auf Vygotskijs Gedankengut (Reich 2012) und seit einiger Zeit werden seine Erkenntnisse verstärkt auch im Bereich des Wissensmanagements genutzt.4
Vygotskijs Studien der menschlichen Entwicklung lassen einen starken Einfluss von Karl Marx und auch Friedrich Engels erkennen, „who stressed the critical role of labor and tools in transforming the relation between human beings and their environment“ (John-Steiner/Souberman 1978, 132). So betont Vygotskij – im Gegensatz zu Piaget – ganz explizit, dass kooperative menschliche Tätigkeiten den Erkenntnisprozess entscheidend beeinflussen und nicht nur Wissen grundsätzlich sozial konstruiert wird, sondern auch die Wirklichkeit.5
Vygotskijs Lerntheorie basiert auf der Aussage, dass alles Lernen in der so genannten Zone der proximalen Entwicklung stattfindet, die eine bestimmte Lernstufe, das heißt einen Grenzbereich zwischen tatsächlichem bzw. aktuellem und potenziellem Wissen und Können, markiert. Lernende werden demnach im Rahmen von sozialen Interaktionen mit kompetenteren Personen dazu angeregt, ein neues und höheres Niveau des Wissens und Verhaltens zu erreichen und Gelerntes derart zu internalisieren, dass es selbstständig als Werkzeug für neue Lernprozesse dienen kann.6 Dabei betrachtet Vygotskij die Lernenden als aktive Gestalterinnen bzw. Gestalter der eigenen Lernprozesse, „wobei Lernen immer dann erfolgreicher abzulaufen scheint, wenn selbstbestimmende Lernprozesse einsetzen, die das Wissen in seiner kulturellen Verankerung und seiner Handlungsperspektive aktualisieren“ (Reich 2012, 72).
Während Piaget davon ausging, dass die Entwicklung von kognitiven Strukturen nur vom Kind selbst geleistet werden kann, vertritt Vygotskij die Position, dass gerade sprachliche Interaktionen zwischen Kind und Eltern, Geschwistern oder Lehrkräften zwingend erforderlich sind und entscheidend dazu beitragen, kognitive Strukturen zu entwickeln. Dieser Aspekt ist auch für das fremdsprachliche Lernen relevant und wird im Rahmen von Storyline-Projekten insofern berücksichtigt, als Schülerinnen und Schüler vorrangig in Gruppen arbeiten, also auf vielseitige Art und Weise sozial und sprachlich miteinander interagieren, jedoch bei Bedarf auch die Lehrkraft oder andere Personen um Unterstützung bitten können, um ihre Kompetenzen in den unterschiedlichsten Bereichen weiterzuentwickeln und zu verfeinern. Wie Lernende das kooperative Arbeiten bei Storyline gestalten und bewerten, sollen meine Untersuchungen in Teil B zeigen.
Vygotskijs Theorie ist auch stärker sozial-kulturell orientiert, als dies bei Piaget der Fall ist. Jede Erfahrung, und somit auch jedes sprachliche Handeln und Lernen, findet nach Vygotskij nicht nur in einem sozialen, sondern auch in einem kulturellen und historischen Kontext statt, der wiederum das Handeln, Lernen und die Konstruktion von Wirklichkeit von Anfang an entsprechend beeinflusst: “In their play children project themselves into the adult activities of their culture and rehearse their future roles and values“ (John-Steiner/Souberman 1978, 129). Dieser Gesichtspunkt wird im Rahmen von Storyline-Projekten ganz ausdrücklich berücksichtigt: Die Lernenden optimieren in den besagten Interaktionen nicht nur vielerlei Fähigkeiten und Fertigkeiten im sprachlichen und sozialen Bereich, sondern entwickeln – je nach inhaltlichem Fokus des Projekts – auch verschiedene Formen und Niveaus der interkulturellen kommunikativen Kompetenz, indem sie beispielsweise authentische Medien jeglicher Art als Werkzeuge benutzen und im Rollenspiel zielkulturspezifische Verhaltensweisen sowie diverse critical incidents erfahren, erproben und reflektieren können.