Читать книгу Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule - Doris Kocher - Страница 48
3.2.5 Gregory Batesons Unterschiede, die einen Unterschied ausmachen
ОглавлениеDer anglo-amerikanische Zoologe und Anthropologe Gregory Bateson (1904-1980) wurde durch die mit seiner ersten Frau Margaret Mead durchgeführten ethnologischen Studien bekannt, bevor er sich der Psychiatrie zuwandte. Zeitlebens widmete er sich (ähnlich wie Piaget) auffallend vielfältigen Forschungsgebieten in ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen: er beobachtete frühere Kopfjäger, betrieb Filmanalyse, studierte die Kommunikation von Delphinen, untersuchte die Kunst in Bali und setzte sich mit ökologischen bzw. ökosystemischen1 und religiösen2 Fragestellungen auseinander (Lutterer 2000). Diese anscheinend disparaten Forschungsfelder hatten allerdings einen verbindenden roten Faden, nämlich Batesons Interesse für „Kommunikation und den sich darin offenbarenden Paradoxien und Pathologien“ (Ebd., 306). Bereits in den 1950er Jahren entwarf er eine von der gerade aufkeimenden Kybernetik inspirierte Theorie der menschlichen Kommunikation, die später von Paul Watzlawick, seinem Forschungskollegen am Mental Research Institute in Palo Alto, weitgehend übernommen und veröffentlicht wurde (von Ameln 2004).
Bateson gilt in Fachkreisen als einer der bedeutendsten Vordenker systemischer Theorie und als einer der ersten, welche die gewonnenen kybernetischen Erkenntnisse im sozialen Bereich umsetzten (Lutterer 2000, 1). Bekannt sind insbesondere seine Double-bind-Theorie, welche „die Entstehung von Schizophrenie auf paradoxe Kommunikation zurück führt“ (von Ameln 2004, 51), sowie das mit dem Schweizer Psychiater Jürgen Ruesch im Jahr 1951 veröffentlichte und allerdings erst vierzig Jahre später ins Deutsche übersetzte Buch Kommunikation (1995) mit wichtigen Beiträgen zum Konstruktivismus und zur Kybernetik 2. Ordnung in komplexen Systemen. Inspiriert fühlte sich Bateson in seiner weitgespannten Forschungsarbeit insbesondere auch durch den Dichter und Maler William Blake, der „durch seine Augen sah, nicht mit ihnen“ (Bateson 1985, 13). Seine Arbeit hatte einen weitreichenden Einfluss auf Systemtheorie, systemische Therapie, Ökologie und nicht zuletzt den Konstruktivismus. Den stärksten Einfluss seines Gedankenguts auf die systemische Praxis haben laut Aussage von Falko von Ameln (2004) sein Informationskonzept und seine kybernetische Konzeption des Lernens, die aus diesem Grund, ebenso wie seine erkenntnistheoretische Position, hier kurz vorgestellt werden. Batesons Thesen zur Kommunikation werden später bei der Darstellung der Kommunikationstheorie der Palo-Alto-Gruppe berücksichtigt (vgl. Kapitel 3.2.6).3
Ein wesentlicher Vorgang im Erkenntnisprozess ist die Gewinnung von Informationen, wobei am Beginn dieses Prozesses laut Bateson (1985) immer Unterscheidungen stehen: „Was wir tatsächlich mit Information meinen – die elementare Informationseinheit –, ist ein Unterschied, der einen Unterschied ausmacht“ (Ebd., 582). Batesons bekannte Formulierung weist klare Bezüge zu Kellys Psychologie der persönlichen Konstrukte (1986) und zu Spencer Browns Laws of Form (1997) auf; sie wurde später von Niklas Luhmann wieder aufgegriffen. Bateson charakterisiert den menschlichen Geist – ähnlich wie Maturana – als ein kybernetisches „System (...) aus geschlossenen Schleifen oder Netzen von Bahnen (...), auf denen Unterschiede und Umwandlungen von Unterschieden übertragen werden“ (Bateson 1985, 619). Durch ein Neuron wird nicht ein Impuls übertragen, „sondern die Nachricht von einem Unterschied“ (Ebd.). Erkenntnis ist bei Bateson also schließlich davon abhängig, welche Unterscheidungen Beobachter und Beobachterinnen vornehmen.
Gregory Bateson vertritt die konstruktivistische Position, dass der Mensch keinen unmittelbaren Zugang zur Realität hat, sondern mit Hilfe von besagten Unterscheidungen eine Wirklichkeit schafft, die – vergleichbar mit einer Landkarte – das Produkt seiner Erkenntnistätigkeit ist.4 Er bezieht sich dabei auf die von C.G. Jung geprägten Begriffe „Plemora“ (materielle Realität) und „Creatura“ (geistige Wirklichkeit des Menschen):
Plemora ist die Welt, (...) in der es keine ‘Unterscheidungen’ gibt. Oder wie ich sagen würde: keine ‘Unterschiede’. In der Creatura werden Wirkungen genau durch Unterschiede hervorgebracht. (...)
Wir können die Plemora untersuchen und beschreiben, aber die getroffenen Unterscheidungen werden der Plemora immer durch uns beigelegt (Bateson 1985, 585).
Eine ähnliche Position vertritt später auch Wolf Singer (2002), wenn er von einem „Beobachter im Gehirn“ spricht, der die menschliche Erkenntnisfähigkeit beeinflusst und letztendlich auch begrenzt.5
Im Jahr 1942, also noch vor dem Entstehen der Kybernetik, entwickelte Bateson eine erste Fassung seiner Lerntheorie, die sich von den üblichen, experimentell gewonnenen Erkenntnissen über Lernvorgänge absetzt und zudem seine späteren Theorieentwicklungen maßgeblich beeinflusste. In seinem hierarchischen Stufenmodell des Lernens6 wird dem Kontext einer Lernsituation eine ganz besondere Bedeutung zugeschrieben, da Bateson davon ausgeht, dass sich die Ausbildung von Charakterzügen und Gewohnheiten über Lernerfahrungen bzw. Lernkontexte vollzieht (Lutterer 2002). Das Modell ist also insofern systemisch, als es danach fragt, „was Lernerfahrungen im jeweiligen Subjekt bewirken“ (Lutterer 2000, 40). Ferner zielt es darauf ab, flexible und selbstreflexive Fähigkeiten (Lernen lernen) sowie Mechanismen der Selbstorganisation des Systems zu fördern (von Ameln 2004), was gerade vor dem Hintergrund des lebenslangen Lernens auch im Bildungsbereich von Bedeutung ist und beispielsweise durch die Storyline-Arbeit gefördert werden kann. Charakteristisch für Storyline-Projekte ist zudem die Übernahme von verschiedenen Rollen, so dass Schülerinnen und Schüler im Sinne einer ganzheitlichen Persönlichkeitsbildung ihre Gewohnheiten und Verhaltensmuster reflektieren sowie neue Varianten spielerisch in einem Schonraum ausprobieren können, indem sie „neue Unterscheidungen“ vornehmen und dabei „Unterschiede“ wahrnehmen und reflektieren. Dies kann auch als Beitrag zur Förderung der interkulturellen kommunikativen Kompetenz verstanden werden. Wie Lernende, insbesondere auch ältere Klassen, mit der Storyline-spezifischen Rollenübernahme umgehen und wie sie die Selbstorganisation in ihren Gruppen regeln, sollen meine Untersuchungen in Teil B zeigen.