Читать книгу Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule - Doris Kocher - Страница 61
3.3.3.1 Radikaler und Sozialer Konstruktivismus: Gemeinsamkeiten und Unterschiede
ОглавлениеWas die beiden Ansätze vereint, ist die Tatsache, dass beide die Vorstellung der objektiven Erkenntnis ablehnen und die Wirklichkeit als eine Konstruktion auffassen, die von uns aktiv vollzogen wird. Viele Vertreterinnen und Vertreter des Sozialen Konstruktivismus distanzieren sich jedoch von erkenntnistheoretischen Fragen. Gergen (2002) vertritt beispielsweise die Ansicht, dass es nicht darum geht, zu entscheiden, was real ist und was nicht, da dies ohnehin nicht möglich sei: „Was immer ist, ist einfach. Sobald wir jedoch das, was ist, zu artikulieren versuchen – und festlegen wollen, was tatsächlich und objektiv der Fall ist –, betreten wir eine Welt des Diskurses“ (Ebd., 276). Eine ähnliche Position vertreten Baecker, Borg-Laufs, Duda und Matthies (Baecker u.a. 1992). Dennoch sind hier Parallelen zum Radikalen Konstruktivismus erkennbar, wie die folgenden Zitate verdeutlichen: „Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt“ (Maturana 1998, 25). Oder: „Wenn immer man denkt oder sagt: es ‘gibt’ eine Sache, es ‘gibt’ eine Welt, und damit mehr meint als nur, es gibt etwas, das ist, wie es ist, dann ist ein Beobachter involviert“ (Luhmann 1990, 62). Auch Singer (2002) spricht bekanntlich von einem „Beobachter im Gehirn“.
Der deutlichste Unterschied zwischen den beiden Ansätzen besteht laut Baecker u.a. (1992, 119) darin, „daß Radikale KonstruktivistInnen sich für intrapsychische Prozesse (...) interessieren und dort den Ursprung von Wirklichkeitskonstruktionen sehen, wogegen social constructionists sich nur für interpsychische Prozesse, d.h. für Formen und Inhalte des Diskurses zwischen den Individuen interessieren“. Aus der Sicht des Radikalen Konstruktivismus sind Individuen autonom, also nicht gezielt beeinflussbar. Dies steht im Widerspruch zu der „sozial konstruktionistischen Annahme einer sozialen Determiniertheit“ (Ebd., 128). Andererseits wird auch von Vertretern und Vertreterinnen des Radikalen Konstruktivismus die Bedeutung der sozialen und sprachlichen Interaktion sowie der Einfluss des sozio-kulturellen Kontexts auf die Entwicklung kognitiver Strukturen nicht (wie oft kritisiert) grundsätzlich verneint, sondern – wenn auch zum Teil auf einer anderen Ebene – mit berücksichtigt (vgl. z.B. von Foerster, Luhmann oder Maturana).
Ein weiterer grundsätzlicher Unterschied zwischen den beiden Ansätzen liegt darin, dass der Soziale Konstruktivismus keine explizit erkenntnistheoretischen Aussagen oder gar einen „empirischen Nachweis der Konstruiertheit von ‘Tatsachen’“ anstrebt (Knorr-Cetina 1989, 88), wie dies beispielsweise Maturana oder Roth durch die empirische Verankerung des Radikalen Konstruktivismus in der Biologie tun. Besagte neurobiologische Argumentation wird allerdings häufig als äußerst problematisch befunden und hat in der Vergangenheit nicht selten zur unreflektierten Ablehnung sämtlicher konstruktivistischer Ansätze geführt.1
Kognitivistischer Konstruktivismus | Sozialer, kulturalistischer Konstruktivismus |
Individuum | Gesellschaft |
Lebenslauf | Lebenswelt |
Verstehen | Verständigung |
Beobachtung | Perspektivenverschränkung |
Erkennen | Handeln |
Sprechen | Sprache |
Kognitive Selbststeuerung | Soziale Zugehörigkeit |
Operationale Geschlossenheit | Strukturelle Koppelung |
Tab. 2:
Individueller und sozialer Konstruktivismus (Siebert 2005, 25)
Auch wenn sich Autoren wie Gergen explizit vom Radikalen Konstruktivismus distanzieren, gibt es wiederum andere, wie die Bochumer Arbeitsgruppe um Baecker, die sich bemüht haben, beide Perspektiven zu vereinigen, was mir sinnvoll und gerade aus sozial-konstruktivistischer Sicht auch logisch und konsequent erscheint. Durch die Vereinigung der beiden Ansätze und der beiden unterschiedlichen Menschenbilder haben Personen „die Möglichkeit, auf Perturbationen individuell und selbstbestimmt zu reagieren, ihre eigenen Vorstellungen zu reflektieren und zu manipulieren; sie sind nicht einer unabänderbaren Wirklichkeit ausgeliefert“ (Baecker u.a. 1992, 130). Diese erweiterte Position ist sicher unterstützenswert, denn sie scheint mir – auch für die Schule – eine konstruktive Perspektive zu bieten!