Читать книгу Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule - Doris Kocher - Страница 63

3.4 Von der Theorie zur Praxis oder vice versa

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I hear and I forget, I see and I remember, I do and I understand (Chinesisches Sprichwort)

In der traditionellen Unterrichtslehre geht es vor allem darum, wie Unterricht geplant, gesteuert und organisiert werden muss, damit die Lehrkraft die Kontrolle über den (angeblichen) Lernprozess in der Hand behält und den Stoff ungestört „vermitteln“ kann. Wie jedoch die unmittelbar vorangegangenen Kapitel verdeutlicht haben, ist die besagte „Informationsübertragung“ nach dem Input-Output-Prinzip (Computermetapher) so nicht möglich, da Menschen keine steuerbaren „trivialen Maschinen“ sind. Aus diesem Grund muss das Lehren zugunsten des Lernens in den Hintergrund treten, so dass die Lernenden ihre eigenen Konstruktionsprozesse aktiv vollziehen können und somit ihr Wissen nicht „träge“ bleibt, sondern im Alltag – auch im fremdsprachlichen – zur Anwendung gelangen kann, also transferfähig ist.

In den vergangenen Jahren wurde von verschiedenen Seiten der Versuch unternommen, eine konstruktivistische Didaktik zu entwickeln, die den zuvor genannten Forderungen entspricht.1 Im Bereich der Fremdsprachendidaktik ist das Vorhaben, eine eigene konstruktivistische Fremdsprachendidaktik2 zu konzipieren, aus verschiedenen Gründen nicht unproblematisch verlaufen. Nicht unerwähnt bleiben sollte dabei, dass der Radikale Konstruktivismus nie den Anspruch erhoben hat, als Lerntheorie – im Sinne eines allgemeingültigen Rezeptes – übernommen zu werden, zumal er sich dadurch selbst widersprechen und auflösen würde, sondern vielmehr als Anregung verstanden werden will, die eigenen Positionen und Grenzen der Instruktion zu überdenken. Dies wurde von Vertretern wie Ernst von Glasersfeld immer wieder ausdrücklich betont: „Die Annahme lautet vielmehr, dass sie [die allgemeinen Postulate, Anm. D.K.] praktisches Handeln inspirieren, dieses jedoch nicht im Modus linear-kausaler Einflussnahme determinieren (Ableitungsverhältnis)“ (Pörksen 2006, 325).

Nachfolgend sollen einige Kernthesen und Anregungen für die praktische Gestaltung von Lernumgebungen im Sinne einer konstruktivistischen Lernkultur erörtert werden. Diese können – ganz im konstruktivistischen Sinne – nur allgemeine Aussagen und Vorschläge sein, da die individuelle Ausgestaltung von Lernkontexten der jeweiligen Lerngruppe vorbehalten bleiben muss. Ich werde mich dabei auf eher gemäßigte Positionen des Konstruktivismus beziehen, zumal der Radikale Konstruktivismus mit institutionellem Lernen allgemein nur schwer vereinbar (aber nicht unmöglich) ist, und ich ferner die Ansicht vertrete, dass der soziale Aspekt des Wissenserwerbs bzw. des Lernens im Sinne der strukturellen Kopplung gerade im Bereich des fremdsprachlichen Lernens nicht unterbewertet werden darf. In diesem Sinne verschränke ich – wie bereits angedeutet – den Radikalen mit dem Sozialen Konstruktivismus.

Abb. 5:

Faktoren konstruktiven, konstruktivistisch aufgeklärten Lernens (Siebert 2005, 31)

Mit Blick auf die vorangegangen Ausführungen halte ich fest, dass unter dem Begriff „Lernen“ ein aktiver, eigenverantwortlicher und subjektabhängiger Prozess der Konstruktion von Wissen verstanden wird, der auf der Grundlage von bisherigen Erfahrungen und früheren Konstruktionen (Interimswissen) stattfindet und zu individuell verschiedenen (viablen) Ergebnissen führt. Der soziale Kontext ist insofern ein bedeutsamer Faktor, als im Rahmen von sozialer Interaktion und Kooperation die subjektiven Wissenskonstrukte angeglichen (Prinzip der Konsensualität) und gleichzeitig die individuellen Lernprozesse erleichtert werden. Lernen wird als ganzheitlicher Prozess betrachtet, in dem Leiblichkeit, Emotionalität, Sinnlichkeit und Handlungsfähigkeit wichtige Ankerpunkte darstellen. Das alles trifft auch bei Storyline zu (vgl. Kapitel 2.3).

Um gleich zu Beginn ein häufig geäußertes Vorurteil aus dem Weg zu räumen: Konstruktion muss Instruktion nicht grundsätzlich ausschließen. Allerdings erhält der Begriff „Instruktion“ bzw. „Lehren“ eine völlig andere Bedeutung, und zwar im Sinne der Anregung (Perturbation). Auch wird die Lehrkraft im Klassenzimmer nicht gänzlich überflüssig und überlässt die Lernenden ihrem Schicksal, wie so oft befürchtet wird. Stattdessen übernimmt sie eine Vielzahl an neuen Aufgaben und Funktionen, die auf einer veränderten Weltanschauung basieren, welche die Prozesse in den Köpfen der Lernenden „in ihrer Eigendynamik und in ihrer Vernetztheit mit Umwelt, Körperwelt und Ichwelt“ berücksichtigt (Meixner 1997, 11). Im Klartext: „Das Bekenntnis zu einer konstruktivistisch orientierten Fremdsprachendidaktik bedeutet jedenfalls nicht, die SchülerInnnen völlig in einer falsch verstandenen Autopoiesis oder Autonomie allein und laienhaft herumkrebsen zu lassen ...“ (Stegu 2000, 212).

Normatives Paradigma Interpretatives Paradigma
Technologischer Machbarkeitsoptimismus Unterstützung von Selbstorganisation
Informationsgesellschaft (Sender-Empfänger-Modell) Lern- und Kommunikationsgesellschaft
Wissensvermittlung Steuerung Selbst gesteuertes Lernen
Verbindliche Wahrheiten Pluralität der Wirklichkeitskonstruktionen
Reduktionistisches Weltbild Holistisches Weltbild
Vermittlung von Antworten Anregung von Fragen
Konsens/Einheit Differenz/Vielfalt
Perfekte Lösungen Irrtumswahrscheinlichkeit
Erkenntnis als Abbildung Erkenntnis als Konstruktion

Tab. 3:

Normatives versus interpretatives Paradigma (Siebert 2005, 20)

Um vielseitige Lern- bzw. Konstruktionsprozesse im Sinne einer konstruktivistischen Lernkultur3 zu ermöglichen und zu fördern, sollten unter anderem die folgenden Aspekte bedacht werden.4 Diese können meines Erachtens auch als Folie und Anregung für die Gestaltung des Fremdsprachenunterrichts dienen:

 Lerninhalte: Die Unterrichtsinhalte sollten sich an komplexen, lebensnahen, ganzheitlich zu betrachtenden Problembereichen orientieren, „denn verstehen läßt sich nur etwas, wenn es im komplexen Gesamtzusammenhang erfaßt ist“ (Dubs 1995, 890). Das additive Aneinanderreihen vorgegebener, reduzierter und vorstrukturierter Lerngegenstände muss dem gemeinsamen Auswählen von schülerrelevanten Lerninhalten weichen, die an den Vorerfahrungen und Interessen der Lernenden anknüpfen (Anschlussfähigkeit) und in möglichst authentische, situative Kontexte eingebettet sind. Lernprozesse werden bekanntlich erst dann initiiert, wenn das Gleichgewicht eines Systems in Unordnung geraten ist. Aus diesem Grund bietet es sich an, Schülerinnen und Schülern immer wieder „Situationen zu präsentieren, in denen gewohnte Denkweisen fehlschlagen“ (von Glasersfeld 2005, 220), so dass sie zur Bildung und Überprüfung von Hypothesen sowie zu multiplen Problemlöseverfahren und Konstruktionsprozessen angeregt werden.5 Dabei sollten Gefühle und die persönliche Identifikation einbezogen werden, wie dies im Falle von Geschichten, persönlichen Erzählungen und Diskursen jeglicher Art berücksichtigt wird.Da Lerninhalte nicht im Voraus (und auf Jahre hin) festgelegt werden können, ist es auch nicht sinnvoll, mit Schulbüchern, in denen bereits alles bis ins Detail vorgeplant ist, zu arbeiten und diese Seite für Seite „durchzunehmen“: “The teacher must be weaned away from the idea that the textbook, neatly arranged into units as it is, each containing specific items of grammar and vocabulary, defines what the pupils learn. For learning is not instantaneous, linear and additive“ (Lennon 1993, 127). Sprache ist zwar linear lehrbar, aber auf Grund ihrer Komplexität nicht linear lernbar (Bleyhl 2000, 83). Nunan (2013, 19) sieht “second language acquisition more like growing a garden than building a wall. (...) The linguistic flowers do not all appear at the same time, nor do they all grow at the same rate“.

 Lernziele: Generell sollten Lernarrangements so gestaltet sein, dass sich Schülerinnen und Schüler in ihrem Lernen immer in der „Zone der proximalen Entwicklung“ (Vygotskij) befinden (vgl. Kapitel 3.2.3). Da die Lernenden jedoch eine heterogene Gruppe bilden, und somit die Lern- und Konstruktionsprozesse individuell verschieden sind, können nicht für alle verbindliche Lernziele im Voraus akribisch festgelegt und aufgeschlüsselt werden, wie dies durch die Progression der üblichen Schulbücher und durch andere außenstehende Instanzen (z.B. Lehrplankommissionen) im Sinne einer „Lehr-Plan-Wirtschaft“ (Bleyhl 2004, 229) vollzogen wird. Stattdessen müssen echte „Lern“-Ziele und nicht mehr „Lehr“-Ziele im Mittelpunkt des Unterrichts stehen:Konstruktivistische Lernzielsetzungen lassen sich von dem Grundprinzip leiten, daß die Auseinandersetzung mit der Umwelt (ihre subjektive Konstruktion) das alleinige Ziel hat, das Überleben des Lerners als autopoietisches System zu sichern. (...) Spezifische Lernziele können deshalb (...) festgelegt werden als Erwerb von Fähigkeiten und Wissenskomponenten, die in der realen Lebenswirklichkeit gebraucht werden können (Wolff 1994, 418).Die Lernenden zu Eigenverantwortlichkeit und Selbstorganisation zu befähigen, so dass sie eigenständig und flexibel auf anstehende Probleme eingehen und diese zu Lösungen führen können, sollte also stets das übergeordnete Unterrichtsziel darstellen (kognitive Flexibilität). Dies deckt sich auch mit den Zielsetzungen des Bildungskonzepts „Lebenslanges Lernen“, steht jedoch im Widerspruch zu der Vereinheitlichung von Unterricht durch Bildungsstandards und bundesweite Vergleichsarbeiten (vgl. Kapitel 1.6).

 Lernumgebung: Wenn Lernen als ein aktiver Prozess zu verstehen ist, bei dem vorhandenes Wissen und Können aus neuen, subjektabhängigen Erfahrungen immer wieder verändert und neu strukturiert wird, dann muss eine entsprechend komplexe, „starke“ Lernumgebung mit vielseitigen Lernangeboten geschaffen werden, in der die Lernenden „ihre individuellen Erfahrungen gewinnen, die sie durch eine aktive Auseinandersetzung in der Lerngruppe für sich verständlich machen und in ihr Vorwissen einbauen“ (Dubs 1995, 890). Das Klassenzimmer wird zur „Lern- und Forschungswerkstatt“ (Wolff 2000, 104), in der mit authentischen Materialien und realitätsnahen Kommunikationssituationen an komplexen, ganzheitlichen und lebenswirklichen Problemstellungen gearbeitet wird, so dass die Lernenden vielseitige Anknüpfungspunkte an ihre bisherigen Erfahrungen und Wissenskonstruktionen vorfinden und ihr deklaratives und prozedurales Wissen in relativ authentischen Situationen anwenden und neu konstruieren können. Durch handlungsorientierte Arbeitsweisen (learning by doing) soll die oben erwähnte Kluft zwischen Wissen und Handeln vermieden und die Transferfähigkeit erhöht werden. Dabei sollten nicht nur die kognitiven Aspekte des Lernens berücksichtigt werden, sondern – da sich diese bekanntlich gegenseitig bedingen – auch emotionale6 und soziale. Konkret bedeutet das auch, dass die räumliche Lernumgebung ästhetisch gestaltet sein sollte, in der sich die Lernenden wohl fühlen und zum autonomen Lernen und kreativen Experimentieren inspiriert werden.7

 Sozialformen: Wenn Lernprozesse und Wissenskonstruktionen maßgeblich auch durch soziale Interaktionen und Kommunikation bedingt werden, so dass individuelle Wirklichkeitsentwürfe, Interpretationen und Sinngebungen bewusst gemacht, überdacht und gegebenenfalls neu strukturiert werden, dann müssen das kooperative und soziale Lernen stärker gefördert und vielfältige Gelegenheiten zu Austauschsituationen gegeben werden. Dies kann in Form von Gruppen- oder Partnerarbeit (learning communities; Expertenteams) geschehen, aber auch durch außerschulische Kontakte sowie durch den Einsatz Neuer Medien, welche gänzlich neue Wissens- und Interaktionshorizonte öffnen. Dementsprechend verändert sich in einer konstruktivistischen Lernumgebung auch die Sitzordnung, der individuelle Lernort, die Rhythmisierung der Arbeitsphasen, die Rollen- und Aufgabenverteilung sowie der Einsatz von Medien. Dabei kann und soll auch die Lehrkraft als Lernpartnerin fungieren und die Lernenden bei ihren subjektabhängigen Konstruktionsprozessen anregen, beraten und unterstützen – allerdings nicht als Problemlöserin, sondern als Problemstellerin (Müller 1996b, 75).

 Arbeitsmaterialien: Um eigenverantwortlich und eigenständig arbeiten zu können, brauchen die Lernenden entsprechende Hilfsmittel, die sie bei der individuellen und aktiven Konstruktion von Wissen unterstützen: Nachschlagewerke, Handbücher, vielseitiges authentisches Informations- und Arbeitsmaterial sowie weitere high tech und low tech Medien und Materialien jeglicher Art, die zur freien Wahl stehen und zum kreativen Arbeiten und Lernen herausfordern. Durch den sinnvollen und kritischen Umgang mit Medien und das eigene Ausprobieren und Gestalten von Medienprodukten erlangen die Lernenden eine vielseitige Medienkompetenz sowie die Erkenntnis, dass nicht nur die Umwelt, sondern auch Medienprodukte stets subjektabhängig wahrgenommen, genutzt und bewertet werden (vgl. Kapitel 1.6.2.1). In vielerlei Hinsicht unterstützend sind auch Gegenstände und Objekte, die von den Lernenden benutzt bzw. produziert werden, um ihre Ideen zu veranschaulichen: “This can help to support and sustain the discourse and (...) by making ‘cognition’ concrete, it may help students reflect on their own and others’ thinking. The production of artifacts may help students increase their efficacy for learning as well as increase their interest in the academic content and tasks“ (Schunk u.a. 2010, 329).

 Lern- und Arbeitstechniken: Die Lernenden sollten befähigt und gefördert werden, eigene Wissenskonstruktionsprozesse, Lernwege und individuelle Lernstrategien bewusst wahrzunehmen, zu reflektieren und zu beurteilen, um sie gegebenenfalls – im Sinne der Viabilität – modifizieren zu können: „Die Reflexion über den eigenen Lernprozess ermöglicht es den Lernenden, aus einem Angebot von Lern- und Arbeitstechniken diejenigen auszuwählen, die den eigenen Lernprozess besonders gut unterstützen“ (Wolff 1997a, 108). Um jedoch ein vielseitiges und flexibles strategisches Wissen zu erlangen, das den eigenen Lernprozessen förderlich ist, muss das Lernen als Prozess der Wissensverarbeitung gelernt werden (Lernen lernen). Diese Prozessorientierung im Sinne einer umfassenden Handlungskompetenz soll sich im (Fremd-)Sprachenunterricht jedoch nicht allein auf allgemeine Lernprozesse und Lernstrategien konzentrieren, sondern auch Prozesse der Sprachverarbeitung bewusstmachen und fördern (language awareness).8Betrachtet man die derzeit vorliegenden Ergebnisse aus der Gedächtnisforschung, so liegt es nahe, ganzheitliche, multimodale und multisensorische Arbeitsweisen anzubieten, um möglichst viele Hirnareale bzw. neuronale Vernetzungen anzuregen, flexibles Denken und vor allem nachhaltiges Handeln zu fördern.9

 Rollenverständnis: Im Rahmen des selbstgesteuerten und eigenverantwortlichen Lernens verändern sich zwangsläufig die Rollen aller Beteiligten, und das Repertoire der Lehrenden und Lernenden erweitert sich erheblich: Lehrerinnen und Lehrer akzeptieren und fördern die grundsätzliche Autonomie und die individuellen Initiativen der Lernenden, das heißt, sie organisieren Interaktionen, vermitteln bei sozialen Lernprozessen, unterstützen bei der Informations- und Materialsuche, beraten bei der Entwicklung von individuellen Lernstrategien und fördern metakognitive Prozesse der Wissenskonstruktion. Sie geben keine fertigen und für alle verbindlichen Lösungen vor, sondern sorgen dafür, dass „Fehler“, Hypothesen und „Wahrheiten“ diskutiert und kritisch reflektiert werden. Lehrkräfte fungieren nicht mehr als sage on the stage, sondern vielmehr als guide on the side. Sie werden zu classroom managers, coaches und facilitators of learning, also zu beobachtenden und anregenden (perturbierenden) Lernberaterinnen und -beratern. Schülerinnen und Schüler dagegen nehmen nicht mehr passiv und kritiklos „präsentiertes“ Wissen an, um dieses möglichst punktgenau zu reproduzieren: Aus stummen Konsumentinnen und Konsumenten fremden Wissens werden experimentierfreudige Forscherinnen und Forscher, die ihr eigenes Wissen aktiv, kritisch und autonom konstruieren und reflektiert anwenden. In einer konstruktivistischen Lernumgebung sind die Lernenden die Akteure, nicht wie üblich die Lehrenden.Was den Erwerb von Fachwissen anbelangt, so werden an die Lernenden neue Herausforderungen gestellt, die von Gerstenmaier und Mandl (1995) konsequent zu Ende gedacht werden: Schülerinnen und Schüler müssen lernen, mit Wissen verantwortungsvoll umzugehen, die Folgen von Wissen und seiner Anwendung zu reflektieren, Tatsachen und gesellschaftliche Strukturen zu hinterfragen, Ziele und Werte anderer Menschen zu respektieren, und neben den persönlichen, auch kollektive Belange zu berücksichtigen. Im Falle des Fremdsprachenunterrichts deckt sich diese Perspektive mit den Anforderungen an eine umfassende interkulturelle kommunikative Kompetenz.

 Reflexion und Evaluation: Wenn eigene Wissenskonstruktionen, und nicht etwa Wissensreproduktionen, angestrebt werden, dann ergeben sich daraus prinzipiell unvorhersagbare und heterogene Lernprodukte und Lernprozesse: eine Unterteilung der Lösungen in „richtig“ und „falsch“ wird dabei äußerst fragwürdig. Daraus folgt, dass bei der Evaluation des Lernerfolgs nicht primär die Lernprodukte, sondern auch die individuellen Lernprozesse und Lernfortschritte berücksichtigt werden sollten. Dabei spielen auch „Fehler“ eine wichtige Rolle, da sie Aufschluss über individuelle Lernschritte und -wege geben. Fehler implizieren konkrete Lernchancen:10 „Diskussionen in Lerngruppen sind nur sinnvoll, wenn Fehler geschehen und diese besprochen und korrigiert werden, denn die Auseinandersetzung mit Fehlüberlegungen wirkt verständnisfördernd und trägt zur besseren Konstruktion von Wissen bei“ (Dubs 1995, 891). Dies gilt auch für den Fremdsprachenunterricht. Deshalb sollte die Risikobereitschaft der Lernenden herausgefordert und nicht durch übermäßige sprachliche Korrekturen „erdrosselt“ (Bleyhl 2000, 8) werden.Selbstreflexions- und Selbstevaluationsprozesse stellen einen besonders wichtigen Faktor dar: Sie unterstützen die Lernenden darin, ihre Lernprozesse zu erkennen und darauf aufbauend auch beeinflussen zu können. Deshalb sind Reflexionsphasen (auch Selbst- und Fremdevaluation im Sinne von reflecting teams) bedeutsame „Lernmotoren“.Die Frage nach der Leistungsmessung und Benotung kann an dieser Stelle nicht erschöpfend berücksichtigt bzw. beantwortet werden. Vermutlich scheint dieser Punkt der Ursprung allen Übels in unserem Schulsystem zu sein:11 Leistungsorientierung versus Lernorientierung – im Prinzip ein Widerspruch. Konsequenterweise muss in die Beurteilung von Lernerfolg und Lernprozessen selbstverständlich auch die Bewertung der Betroffenen selbst mit einfließen, und genauso selbstverständlich sollten Kriterien gemeinsam entwickelt werden und zu jeder Zeit transparent sein. Noten haben hier meines Erachtens allerdings wenig Aussagekraft und sind häufig eher kontraproduktiv.12 Im Gegensatz zum üblichen “assessment of learning“ (Nunan 2013, 24) sollte vielmehr “assessment for learning“ (Ebd.) praktiziert werden, um neue Lernprozesse zu initiieren.

Fazit: Lernen bedeutet also nicht, „fertiges Wissen rezeptiv zu übernehmen, sondern die Wege, auf denen Wissen entsteht, selbst zu gehen“ (von der Groeben 2006, 166). Diese Einsicht ist beileibe nicht neu, sondern „gilt längst als wissenschaftliches Allgemeingut. Aber in den vielen Schulen, vielleicht den meisten, ist sie noch lange nicht angekommen. Man weiß zwar, dass Lernen eigentlich ‘anders’ sein, nachhaltiger sein müsste, aber im Schulalltag dominieren die alten verkrusteten Strukturen und Paukmechanismen“ (Ebd.). Dies trifft offensichtlich auch auf den Fremdsprachenunterricht zu, wenn man folgender Aussage Glauben schenken will: „Warum der pattern drill tot ist und sich trotzdem bester Gesundheit erfreut“ (Solmecke 2005). Wolff (2000) moniert, dass sein Artikel aus dem Jahr 1994 „konkret nur wenig bewirkt“ habe (Ebd., 91), und auch Schwerdtfeger (2000) kritisiert, dass unterrichtsmethodische Vorschläge aus der Sprachlehrforschung „folgenlos“ (Ebd., 113) bleiben. Storyline bietet aus meiner Sicht viele Chancen, um diesem Problem konstruktiv zu begegnen. Wie? Das zeigen Fallstudie 7-9 in Teil B.

Das im obigen Zitat erwähnte nachhaltige Lernen wird unter anderem von den folgenden Faktoren bedingt: Bedeutsamkeit des Themas, Praxisrelevanz, Anschlussfähigkeit, Flow-Gefühl13, Vielfalt der Lernwege, angenehme Lernatmosphäre und metakognitive Reflexion (Siebert 2005, 37). Auch dies ist keine neue Erkenntnis, sondern knüpft an bewährte Modelle an, wie etwa die Projektmethode (John Dewey/William H. Kilpatrick)14 oder das Konzept der Selbsttätigkeit und Handlungsorientierung aus der deutschen Reformpädagogik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit Vertreterinnen und Vertretern wie Georg Kerschensteiner (Arbeitsschule), Hans Aebli, Hugo Gaudig, Lotte Müller, Otto Scheibner, Peter Petersen oder Johannes Langermann. Handlungsorientierung und Selbsttätigkeit gelten auch als zentrale Aspekte in der Pädagogik von Célestin Freinet oder Maria Montessori sowie in der sowjetischen Kulturhistorischen Schule mit den Vertretern Lev Vygotskij, Alexej Leontjew und Pjotr J. Galperin. Nicht vergessen werden sollte in dieser Auflistung Johann Amos Comenius, der schon im 17. Jahrhundert die Berücksichtigung aller Sinne beim Lernen gefordert hatte.

Auch Jérôme S. Bruner (1966) forderte in seinem Konzept des entdeckenden Lernens die Integration von realen Situationen in das Unterrichtsgeschehen, anhand derer neues Wissen selbstständig und explorativ erworben werden kann.15 Des Weiteren setzte sich Martin Wagenschein (1982) für den Ansatz des entdeckenden Lernens ein (Epochenunterricht), dem er ein genetisches Prinzip zugrunde legte: „Danach muß jedes Lehren von Problemstellungen ausgehen, die den Lernenden zum Nachdenken bringen und Fragen auslösen, die ihn wiederum dazu motivieren, eigene ‘Entdeckungen’ zu machen“ (Reinmann-Rothmeier/Mandl 1999, 32). Ein weiteres Kriterium seines Konzepts liegt im Grundsatz, dass die Wirklichkeit immer „anwesend“ ist: „Fragestellungen, Begriffe, Symbole, Strukturen drängen sich dem Schüler aus der Sache auf“ (Gudjons 2001, 23). Erwähnt werden sollte auch noch D.P. Ausubels Konzept des sinnvollen Lernens, in dem die Rolle des Vorwissens der Lernenden betont wird.

Offene Lernformen, das heißt – um nur einige Stichwörter zu nennen – schülerorientierter, handlungsorientierter, erfahrungsbezogener, ganzheitlicher, prozess- und produktorientierter, projektorientierter, inhaltsorientierter und selbstbestimmter Unterricht, sind heute zwar wieder zum Modebegriff geworden, sie sind jedoch keine Neuerfindung der zeitgenössischen Pädagogik bzw. Didaktik, sondern haben in manchen Schularten bereits eine lange Tradition. Allerdings – und das ist das Erstaunliche dabei – führen sie in der alltäglichen Unterrichtspraxis des Regelschulwesens noch immer nur ein Schattendasein, wie durch prominente Schulstudien in regelmäßigen Abständen belegt und moniert wird (vgl. Kapitel 1.5).

Auch im Bereich des Fremdsprachenunterrichts sind die oben genannten methodischen Prinzipien wie Handlungsorientierung (kooperatives Lernen, kreative Arbeitsformen, Projektunterricht, Lernen durch Lehren), Lernerzentrierung (Individualisierung des Lernens, Lernerautonomie), prozessbezogene Bewusstmachung (Lernbewusstheit, Sprachbewusstheit, interkulturelle Bewusstheit) und ganzheitliche Spracherfahrung (Inhaltsorientierung, authentische und komplexe Lernumgebung) usw. natürlich nichts Neues: „Es handelt sich (...) um gängige didaktisch-methodische Grundsätze der neunziger Jahre, obwohl ihre praktische Realisierbarkeit teilweise noch nicht ganz geklärt ist“ (Reinfried 1999, 164f.). Neu ist allerdings, dass die genannten Prinzipien erst durch den konstruktivistischen Theorierahmen ein stützendes Fundament erhalten, so dass einzelne Methoden und Verfahren nicht mehr isoliert „im Raum“ stehen oder gar als Modeerscheinung abgetan werden, sondern in einem kohärenten Lehr-Lern-Konzept vereinigt werden.16 Dies scheint mir ein wesentlicher Aspekt zu sein, wenn es um die Frage nach der praktischen Realisierung von Ansätzen geht:

Sicherlich haben Wendt und Wolff recht, wenn sie meinen, daß der heutige Fremdsprachenunterricht an den deutschen Schulen insgesamt zu instruktivistisch ist. Das hängt damit zusammen, daß viele Lehrerinnen und Lehrer es noch kaum gewöhnt sind, Gruppen- oder Partnerarbeit, Projekte oder ‘Lernen durch Lehren’ im Fremdsprachenunterricht einzusetzen, daß sie die entsprechenden Unterrichtstechniken nicht verinnerlicht haben (Ebd., 177).

Diese Aussage spricht meines Erachtens Bände, und man fragt sich, warum offensichtlich viele Lehrerinnen und Lehrer die angeblich gängigen Methoden und Grundsätze nicht verinnerlicht haben. Ich wage zu behaupten, dass sie diese vermutlich nicht nach konstruktivistischen Vorstellungen „gelernt“ haben, so dass sie zu transferunfähigem „trägem“ Wissen mutiert sind. Nachhaltiges Lernen gilt natürlich nicht nur als Ziel für das schulische Lernen, sondern auch für die Ausbildung und Fortbildung von Lehrkräften. Dieser Aspekt ist auch insofern bedeutsam, als es heute – ganz im konstruktivistischen Sinne – weder „die“ Methode noch „die“ Fremdsprachendidaktik gibt, auf die man sich „getrost“ verlassen könnte, sondern gerade im Bereich der Englischdidaktik tendenziell „eine Diversifizierung der Ansätze“ (Viebrock 2008, 117) erkennbar ist, so dass Lehramtsstudierende (und nicht nur diese) umso mehr gefordert sind, immer wieder eigene „viable“ Lösungen und Wissenskonstruktionen zu vollziehen und diese professionell zu begründen.

Vor dem Hintergrund der bekannten Problematik um transferunfähiges „träges“ Wissen wurden in den vergangenen Jahren in der Instruktionspsychologie zahlreiche neue (gemäßigte) konstruktivistische Konzepte für verschiedene Lernbereiche in Schule, Hochschule und Erwachsenenbildung entwickelt, die dem „Neuen“ Konstruktivismus17 nahestehen, und einige davon lassen sich auch gut auf das Fremdsprachenlernen übertragen. Dabei handelt es sich insbesondere um diejenigen Ansätze, die dem Paradigma der Situated Cognition zugeordnet werden. Zu den bekanntesten Konzepten des von Clancey (1993) und Greeno (1989; 1992; 1998) seit Ende der 1980er Jahre entwickelten Modells der Situated Cognition gehören die Folgenden: Guided Participation18, Cognitive Apprenticeship19, Communities of Practice20, Cognitive Flexibility21, Random Access Instruction22, Anchored Instruction23, Instructional Design bzw. Cognitive Tools for Learning24, Whole Language25 und einige mehr, die jedoch an dieser Stelle nicht berücksichtigt werden können.26 Die Kernidee dieser Ansätze ist, dass Wissen unter Anwendungsgesichtspunkten erworben und deshalb an komplexen und authentischen Problemstellungen gelernt wird. Um die Lernenden jedoch nicht zu überfordern, erhalten sie Unterstützung. Angestrebt wird mit diesen Konzepten also eine „Balance zwischen Konstruktion und Instruktion“ (Gruber u.a. 2000, 144).

Abb. 6:

Historische Vorbilder konstruktivistischer Instruktionsansätze bzw. situierter Lernumgebungen (Reinmann-Rothmeier/Mandl 1999, 33)

In der Psychologie des Wissensmanagements (Reinmann/Mandl, Hrsg. 2004) werden derzeit auch Modelle wie Experten-Laien-Kommunikation (Bromme u.a. 2004), Methodik des Repertory Grid (Clases 2004) oder Story Telling (Neubauer u.a. 2004; Thier 2010) propagiert, dabei dient die Methode des Story Telling offensichtlich dazu, Erfahrungswissen und implizites Wissen innerhalb von Organisationen in narrativer Form festzuhalten und weiterzugeben. Eine ähnliche Version ist die Methode Story Template (Reinmann/Eppler 2008), anhand derer Wissen und Erfahrungen ebenfalls in Geschichten verpackt werden, oder die Szenario-Technik (Hinke 2007). Was die erwähnten Ansätze verbindet, ist die Tatsache, dass sie auf (gemäßigten) konstruktivistischen Grundsätzen aufbauen und mit den oben genannten Ansätzen der Situated Cognition – und in gewisser Weise auch mit dem Storyline Approach – verwandt sind.

Darüber hinaus versuchen Johanna Meixner und Klaus Müller bereits seit einigen Jahren, auf der Basis des so genannten Pragmatischen Konstruktivismus, konkrete Unterrichtsmodelle für Deutsch als Fremdsprache (DaF) zu entwerfen, „die zeigen, dass im normalen Schulalltag Instruktion und Konstruktion keine ausschließenden Alternativen sind, sondern sich fallweise und sinnvoll ergänzen können“ (Meixner 2005, 191).27 Dazu gehören auch das Verfahren der Produktiven Semantisierung im Bereich der Wortschatzvermittlung oder das dramapädagogische Konzept der Relationellen Dramaturgie.28 Im Übrigen plädiert auch Engelbert Thaler (2008; 2010) für ein Balanced Teaching im Fremdsprachenunterricht, „das offene ebenso wie eher geschlossene Techniken, Verfahren und Methoden verwendet“ (Thaler 2008, 307) – eine Einstellung, wie sie auch in gemäßigt konstruktivistischen Positionen der Erwerbspsychologie vertreten wird;29 Reinmann und Mandl (2006, 638ff.) sprechen in diesem Zusammenhang von einem wissensbasierten Konstruktivismus bzw. von integrierten Lernumgebungen.

Unabhängig davon wurden seit etwa Mitte der 1980er Jahre einige neue Lernmodelle speziell für das Fremdsprachenlernen entwickelt bzw. adaptiert, die jedoch nicht explizit auf der Grundlage von konstruktivistischen Ansätzen konzipiert wurden, diesen jedoch in vielerlei Hinsicht entsprechen. Dazu zählen – neben dem Storyline Approach – Aufgabenbasiertes bzw. Aufgabengestütztes Lernen30, Simulation globale31, Szenariendidaktik32, Dramapädagogik33, Lernerautonomie34 oder Lernen durch Lehren35, auch wenn diese nach meiner Einschätzung im Bereich des Fremdsprachenlernens nach wie vor wenig zum Einsatz kommen. Dafür gibt es sicher vielerlei Gründe, einer davon mag sein, dass es für Lehrkräfte (und nicht nur für diese) schwierig ist, ein komplexes theoretisches Modell in die Praxis umzusetzen. Dass dies so nicht funktionieren kann, ist, gerade aus der konstruktivistischen Position heraus betrachtet, vollkommen nachvollziehbar. Learning by doing heißt das Zauberwort ...

Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule

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