Читать книгу ABSTINENZ - E. W. Schreiber - Страница 17
Bestrebungen
ОглавлениеIch bin immer bestrebt, mich selbst zu entdecken. Mich aus vorgefertigten Strukturen herauszuschälen, um mich wieder ein Stück weit neu zu finden. Das ist mein Lebenszweck. Der einzige, für den es sich lohnt, nachzudenken. Das Blöde an der Sache ist nur, dass ich dann über alles im Leben nachdenken muss, weil es Abermillionen Möglichkeiten in Abermillionen eingebetteten Strukturen gibt. Das ist ein Dilemma.
Ein intensives Leben bedeutet eben auch, die hohen wie die tiefen Lagen zu kennen. Sie zu durchleben in allen Einzelheiten.
Die Ronda-Träume haben mich aufgerüttelt. Irgendwie. Irgendetwas ist geschehen mit mir, seit her. Ich spüre, dass ich etwas ausbrüte, mich bereit mache für eine Art Geburt, die da ansteht. Mir ist aber noch unbekannt was es sein wird, ob es neu oder alt ist, was da in mein Leben drängt. Aber es darf kommen, das Unbekannte. Der Draufgänger in mir ist bereit, jede erdenkliche Situation zu meistern, mich ihr zu stellen.
Momentan bewege ich mich im Zeitlupentempo vorwärts, das macht mich unrund. In meinem Leben darf alles einem gewissen Tempo folgen. Die Dinge müssen nicht rasen, aber eine gewisse Schnelligkeit setzte ich voraus, um mich wohl zu fühlen. Wenn mir etwas zu schnell wird, nehme ich Tempo heraus, ich will die Dinge um mich in der eigenen Hand und Geschwindigkeit drehen können. Nur die Beherrschung der Dinge gibt mir die Sicherheit, dass nicht die Umstände und Dinge mich beherrschen. Ich bin bestrebt, die Dinge beim Namen nennen zu können. Das gibt mir Macht über die Dinge und nicht umgekehrt. Deshalb zerlege ich alles und jedes, was mich irgendwie beschäftigt. Schlimm wird es, wenn ich das Heranrollende bereits spüren kann, ich weiß da kommt jetzt was auf mich zu, es aber immer noch zu weit entfernt ist, um es genauer ausmachen, es beim Namen nennen zu können.
So ist das auch jetzt.
Ich habe Druck auf meinen Augen. Mir ist, als würde meine Sehkraft schwinden, erliege einem Herzschmerz, den ich nicht einzuordnen vermag. Das macht mich irre. Ich fühle, dass es nichts mit Ronda zu tun hat. Es hat mit etwas zu tun, das mir fremd ist. Ich kenne die Energie nicht, die sich mir aufdrängt. Ich mag keine sich mir aufdrängenden Dinge. Sie nehmen mir mein Recht, authentisch zu leben.
Seit Stunden schon bin ich aus meinem Körper getreten, vegetiere auf meiner Couch ohne Kontrolle über die Dinge. Ich dissoziiere auf unheimliche Art und Weise. Und ich glaube, dass es diese Form der Dissoziation ist, von der Therapeuten meinen, dass sie ungesund und gefährlich ist.
Ja. Gefährlich. Einen korrekteren Ausdruck für meine momentane Lage kann es wohl nicht geben.
Meine Versuche herauszufinden, wohin ich abgedriftet bin, scheinen nicht zu fruchten, und doch erkenne ich einen Ort ohne Namen, ohne erkennbare, gerechtfertigte Existenz.
Weiß der Teufel, wohin mich mein Geist soeben getragen hat. Ich weiß aber, dass alles seine Berechtigung hat, alles zum rechten Zeitpunkt ankommt, wie Züge, die einem Fahrplan folgen.
Ich kenne grundsätzlich meine Fahrpläne und welcher Zug wann und wo einfahren soll. Ich schreibe meine Fahrpläne selbst. Ich allein entscheide, welche Passagiere er mitzunehmen gedenkt und ob er überhaupt mit samt den Passagieren wieder zu mir zurück an den Hauptbahnhof zurückkehren darf.
An so einem Bahnhof befinde ich mich. Und das ist schon mal eine Hilfe. Also nenne ich ihn Friedhofsbahnhof. Ich brauche ja einen Namen, um mich orientieren zu können. Es gibt keinen Zug, keine Geleise, alles ist voller Dreck. Die Erde ist feucht und es stinkt nach Aas. Im Zwielicht lässt es sich nicht gut erkennen, was vor mir in der Ferne allein am Boden liegt. Und das will ich jetzt sehen. Mutig also schreite ich der Unheimlichkeit entgegen. Und irgendetwas in mir hält mich zurück, lehnt sich gegen mich auf, will mich brechen in meinem Mut, meine Lust zu entdecken. Eine männliche Stimme redet auf mich ein: „Lass es, du hast dort nichts verloren!“ Wo kommt sie nur her, diese Stimme in meinem Inneren. Ich muss wohl wahnsinnig werden. Ich folge ihr nicht, der Stimme in meinem Innersten. „Stop jetzt!“ ruft sie und zerrt an mir. „Wir gehen da nicht hin. Es interessiert nicht. Niemand will wissen was dort ist!“
Jetzt sind wir schon ein Wir? Wer ist bitteschön „Wir“? Will ich das wissen? Nein. Soll ich das wissen? Nein.
„Ohne mich wärst du heute nicht mehr, Isa!“ schnalzt es durch mein gesamtes Ich. „Du und ich sind eins. Und das soll auch so bleiben.“ Ich schätze mal, dass es mein Ego ist, ein Teil von mir, ein verdammt männlich orientierter, dominanter Teil.
„Ah“, sag ich jetzt, „du bist der mit dem Stock-im-Arsch! Du kommst zu spät, mein Freund. Ich bearbeite und entferne gerade arschkneifenden Unrat wie dich.“
Aber ich weiß, dass er sich nicht abschütteln lässt. Er hat es sich bequem gemacht in mir. Ignorieren. Einfach ignorieren. Das ist jetzt mein Motto, will ich herausfinden was dort liegt, im Matsch. Meine Neugierde treibt mich. Und Stock-im-Arsch redet unablässig auf mich ein. „Nicht hingehen. Du wirst es bereuen. Verdammt wenn du weiterläufst kannst du nicht mehr mit mir rechnen. Ich werde dich nicht weiter durchs Leben schleppen.“ „Hör endlich auf zu schreien“, denk ich. „Arschloch. Wer braucht dich schon!“
Und ich schreite weiter, auf irgendetwas zu, das wie ein Bündel aussieht „Da liegt was, ich glaube das lebt!“
Arschloch zieht eine finstere Miene. „Ich sag doch: Lass es liegen! Das ist nichts für uns.“
Aber Arschloch bleibt nun mal Arschloch, daran kann selbst ich nichts ändern. Und Arschlöcher haben mir schon lang nichts mehr zu sagen, das wird auch er einsehen müssen.
Vorsichtig schleiche ich also hin zu dem Bündel. Und umso näher ich dem Etwas komme, desto eher erkenne ich, dass es kein Bündel ist. Ich muss jetzt wissen was das ist, das da im Morast liegt. Mir ist kalt, ich friere. Der Himmel ist grau in grau, und ich bemerke, wie sich die Nacht unaufhörlich über die Wolken stülpt. Hier lebt nichts mehr. Kein Baum, keine Blume, ja nicht einmal ein wenig Wärme, verläuft sich hierher in diese Düsternis.
Ich bücke mich und muss nachsehen. „Verdammte Scheiße, Himmelherrgott!“ schreie ich und laufe einige Schritte zurück. Mein Mund steht sperrangelweit offen. Ich kann nicht glauben, was ich soeben gesehen habe. „Glaube es nur“, ächzt Arschloch. „Du wolltest ja nicht auf mich hören!“
„Was ist das? Ist das … das ist ein Körper!“ stottere ich. „Stimmt das? Ist das ein Mensch?“ Ich kann´s nicht glauben. So was habe ich noch nie gesehen. Weder real noch in irgendeiner anderen Form.
Ich habe Angst. Fühle mich, als hätte mir Arschloch soeben einhundert Stöcke in mein Hinterteil getrieben.
„Los jetzt, verschwinden wir von hier. Komm schon, das ist nicht der richtige Ort für uns zwei. Lass es liegen! Es liegt schon ewig da und braucht uns nicht!“ Aber Arschloch kann sagen was er will. Ich muss das jetzt sehen. Ich kann gar nicht anders. Und Arschloch muss erkennen, dass ich stärker bin.
Mir ist ganz Bang ums Herz. Meine Beine machen wieder ein paar Schritte, direkt auf das vor mir Liegende zu. Und jetzt sehe ich was hier liegt, völlig allein und vollkommen zerstört.
Es ist ein Kind. Ein Mädchen. Maximal fünf Jahre alt, und ihm fehlen alle Gliedmaßen. Ihr Oberkörper liegt nackt im Schlamm. Mir bleibt die Luft zum Atmen weg, ich fasse es nicht. Ich weiß jetzt nicht was ich tun soll. Und Arschloch redet ständig auf mich ein, dass wir verschwinden sollen. „Verschwinde du gefälligst“, zische ich. „ich muss mich jetzt um die Kleine kümmern.“ „Es ist doch schon lange tot“, plärrt Arschloch zurück.
Na und, dann ist es eben so, denke ich. Aber ich kann da jetzt nicht weg.
„Plärr hier nicht so herum, hilf mir gefälligst. Oder halt deine verdammte Klappe.“
Arschloch hilft nicht. „Du wirst mir noch mal dankbar sein“, hakt er noch kurz nach und hält dann sein vermaledeites Schandmaul.
Noch immer sitzt mir der Schock im Nacken. Aber versuche trotzdem, den Torax samt Kopf zu drehen. Ein wenig wenigstens, um zu sehen, wie ich ihn mit mir nehmen kann. Mein Entsetzen kennt keine Grenzen, denn nun seh ich, dass der Kleinen der halbe Kopf fehlt. „Mein Gott“, ruf ich und kann und will das, was ich sehe, nicht als real anerkennen. „Was ist da bloß passiert? Wie um Himmels willen, kann ein so kleines Kind so brutal zu Tode kommen?“
Ich reiße mir mein Shirt vom Leib und versuche die Kleine damit zu säubern, und während ich das tue, höre ich mit noch größerem Entsetzen, wie die Kleine mit schwachen Worten plötzlich sagt: „Töte mich. Lass mich sterben. Bitte hilf mir, dass ich endlich sterben kann.“ Mein Herz rast in meiner Brust. „Mein Gott, du lebst ja noch!“ ruf ich völlig perplex aus. Ich denke nicht mehr nach. Nehme ihren Körper vorsichtig an mich. Drücke sie sanft an meinen Oberkörper. Halte sie in meinen Armen. „Du musst am Leben bleiben, Kleine“, flüstere ich. „Muss dich warm kriegen.“ Ich blicke ihr in ihr rechtes verbliebenes Auge. „Ich weiß, ich kenne dich von woher“, denke ich. „Woher kenne ich dich bloß? Du kommst mir so bekannt vor. Wohin mit dir? Verdammt woher kenne ich dich bloß?“
„Komm her“, ruf ich zu Arschloch. „Die Kleine lebt! Hilf mir! Jetzt komm endlich, beweg dich. Sie lebt, mein Gott sie lebt noch!“
Arschloch sagt kein Wort. Und mir ist, als würde er sich plötzlich unendlich schämen. Er kann nicht recht glauben, was er soeben sieht. „Du musst es warm halten“, flüstert er. „Ich bin zu kalt, bei mir erfriert es. Wir müssen es mit uns nehmen. Sofort!“
Natürlich nehme ich sie mit. Was sonst? Ich frage mich aber, warum er die Kleine immer als Es bezeichnet. Warum kann er sie nicht als weiblich anerkennen? Aber das werde ich ihn später fragen, denke ich und nehme die Kleine jetzt noch fester in meine Arme. Ich wärme sie mit meinem Körper. Das Mädchen liegt an meinem Busen. Sie sieht schwach zu mir nach oben. Blickt mir direkt in meine Augen und jetzt erkenne ich die Kleine. Jetzt erst, weiß ich wer sie ist. Ich habe das Gefühl, mein Herzschlag setzt aus. Ich kriege keine Luft mehr, kann mich nicht mehr beruhigen, in jenem Moment, in dem sich der Schmerz der Kleinen tief in mein Innerstes bohrt. Sie ist ich. Ein Teil von mir.
Dieser unendliche Schmerz erfüllt mein gesamtes Sein mit einem Bewusstsein, das mir nie, niemals zur Verfügung gestanden hatte. Und jetzt fleht sie mich an, während sie versucht mich anzulächeln. Sie fleht mich an sie zu töten, der Schmerzen wegen, die sie nicht mehr aushält.
Aber ich kann sie nicht töten. Kann nicht diejenige sein, die ihr weh tut. Kann unmöglich einem so winzigem, geschändetem Wesen, den Gnadenschuss geben. Sie aber weiter leiden zu lassen, bricht mir das Herz. Wie sollte ich das schaffen ohne selbst dabei zu Grunde zu gehen?
Mein Gott, es ist so schrecklich, sie lebt noch und ich beginne verzweifelt zu überlegen, wie und ob es mir denn gelingen könnte meine Kleine wieder gesund zu machen. Ich fühle Hoffnung in mir, aber ich weiß, dass es unmöglich ist, ihr das Laufen beizubringen, weil ich ihr ihre Beine nicht zurückgeben kann. Und mir wird klar, dass es mir nicht gelingen wird, ihr die Arme und Hände wieder zu geben. Ich weiß nicht was alles kaputt gegangen ist, in ihrem kleinen Kopf und wie ich ihren Körper heil machen könnte, damit er erwachsen werden kann, so wie ich erwachsen geworden bin.
„Die Kleine liegt im Sterben, Isa“, sag ich mir im Stillen. „Und sie kann nicht mehr.“
Und wie ich es sage, fühle ich etwas so Schmerzhaftes, das ich mit Worten nicht mehr beschreiben kann.
Ich nehme die Kleine noch näher an mich. Ich halte sie zärtlich und ganz vorsichtig an mich gedrückt, und beginne sie in meinen Armen wie eine Mutter ihr sterbendes Kind zu wiegen.
Und jetzt sehe ich wie sich ihr kleiner Mund bewegt und sagt: „Ich wollte nur ein Mal, ein einziges einziges Mal fühlen was es heißt, von dir angenommen und geliebt zu werden. Darauf habe ich über dreißig lange Jahre gewartet.“ Ihre letzten Worte zerreißen mich so sehr, dass ich es kaum ertragen kann. Verheult nehme ich die Kleine an mein Gesicht. Ich küsse ihre Stirn, ihren Mund, ihre Backe und benetze ihre blau angelaufene Haut mit meinen Tränen.
„Dass du all dein Leid nur wegen diesem einen Moment ertragen hast“, flüstere ich ihr zu, „überwältigt mich zutiefst. Um dieses Momentes Willen“, schluchze ich, „hast du um dein Überleben gekämpft. Alles nur damit du dich, einmal nur, ganz und gar von mir geliebt fühlst. Wie sehr musst du mich lieben, wie sehr musst du auf mich gewartet haben. Meine kleine starke Isa. Erst heute hab ich dich gefunden, mein Engel. Halb Tod, beinahe erfroren, dein Körper bis zur Unendlichkeit entstellt, so lagst du da, über Jahrzehnte lebendig begraben unter Leichenbergen.
Ich erkannte dich zuerst nicht als Mensch so entsetzlich entstellt bist du. Ich erschrak, dich so zu sehen. Und ich wusste nicht, dass ein Mensch, ein so kleines Kind das du warst, und immer noch bist, so unendlich viel Leid überleben kann. Doch jetzt weiß ich, dass du nur solange überleben konntest, weil du die Hoffnung nie aufgabst, dass ich dich eines Tages wieder finde. Es ist für mich so entsetzlich dich so zu sehen, und ich fühle mich so schuldig. Du hast immer auf mich gehofft und ich wusste nichts von dir. Hab immer nach etwas gesucht und nicht gewusst, dass es du bist, nach der ich suchte, mein Leben lang.
Vergessen hab ich dich, mein Leben. Vergessen, dass es dich gibt und es tut mir so unendlich leid, dich über all die Jahre allein gelassen zu haben. Verzeih mir, ich bitte dich aus ganzem Herzen darum.“
Jetzt beugt sich Arschloch, und ich weiß, dass ich ihm ab jetzt einen anderen Namen geben sollte, über uns und hält uns schützend, während ich weiter mit der Kleinen spreche. „Als ich dich so sah, wusste ich erst nichts anzufangen mit dir, du sahst aus wie ein etwas, genau das wonach ich immer suchte. Nach etwas. Bist du überhaupt menschlich? fragte ich mich, und als ich erkannte, dass du wir bist, konnte ich Verwesungsgeruch wahrnehmen. Mir ekelte zuerst, und der andere neu entdeckte Teil in mir“, ich sehe zu Arschloch hoch, „sah in dir nur einen Fleischklumpen, mit dem ich nichts anfangen konnte. Ja meine Kleine, Ich sah dich an, ganz genau, ich sah dich im Dreck liegen ohne Beine und Arme, selbst dein Kopf war zur Hälfte zerschmettert. Ich kann es noch immer nicht begreifen, dass du ein Mal nur, ein einziges Mal nur fühlen wolltest, was es heißt, von mir geliebt zu werden. Angenommen, anerkannt. Alles nur damit du dich einmal nur ganz und gar von mir geliebt fühlst. Und ich kann dir nicht sagen was es für mich bedeutet, dich gefunden zu haben, alles was ich suchte finde ich jetzt in dir. Es ist einfach unglaublich. Und Arschloch, mein Retter, meine harte Seite, mein Überlebenstrieb, wurde geboren in dem Moment, in dem du dich zum Sterben niedergelegt hast. Er hat deinen Platz in mir eingenommen.
Und jetzt liegst du seit Stunden in meinen Armen, ich fühle dich und du fühlst mich, und dass wir eins sind, du und ich. Ich spüre, was du durchgemacht hast und bin stolz auf dich, mein Gott, du bist fünf Jahre alt und trägst unermessliches Leid, das ich bisher nicht mal erahnen konnte. Ich wusste einfach nicht, dass es dich noch gibt. Dass du existierst.
Hätte ich es gewusst, so hätte ich die Leichenberge über dir viel schneller weggeräumt. Und jetzt bist du so schwach, ersticktest lange Zeit beinahe darunter. Aber jetzt, jetzt hab ich dich wieder meine Kleine. Und ich lasse dich nicht sterben. Nie wieder lasse ich dich allein. Das kannst du vergessen. Jetzt wo ich dich in meinem Bewusstsein habe.“
Mann, werde ich jetzt wütend. Ich bin außer mir vor Zorn und Entsetzen.
Denn jetzt sehe ich meiner eigenen Vergewaltigung zu. Damals als ich fünf war, eine meiner schlimmsten Vergewaltigungen. Eine von vielen. Im Heim, in das ich kam, nachdem mich meine Huren-Mutter beinahe umgebracht hat.
Es gibt jetzt nichts mehr, was mich von meinem kindlichen Anteil noch fernhalten könnte. Nichts was ich ihr nicht sofort geben möchte. Und ich wärme sie und lasse sie mein Glück fühlen, meine übergroße Liebe, für sie, die mich soeben überschwemmt, und ich sehe ihr dabei zu wie sie es aufsaugt, wie ein Schwamm. All meine Liebe. Ihr Körper wird plötzlich lichter. Und ich weiß, dass es ihr Abschied von mir ist. Sie lächelt mir zu, fühle wie sie nun zu gehen bereit ist, und ich liebe sie noch mehr in jenem Moment, ich lass sie gehen, lasse sie los. Und jetzt sehe ich etwas, mit dem ich nie gerechnet hätte. Meine Kleine sieht mich glücklich an und wird zu Licht. Immer mehr. Alles an und in ihr wird rund, wird zu einem lichten Ball. „Geh nur, meine Kleine“, sag ich. „Geh nur“, und zeige ihr, dass es in Ordnung ist, wenn sie uns jetzt verlässt. Doch sie geht nicht weg, sondern erfüllt mich mit einem Mal mit dem Wissen, dass es für sie eine große Zukunft geben wird. Es wird sie geben. Und das in mir. Ich weiß plötzlich, dass sie nirgendwo sonst hingehen wird als in mich hinein. Und das, weil ich sie habe gehen lassen, in Liebe und weil ich sie lieben kann, mit Inbrunst, und weil ich ihr zu Hause bin, schon immer, und weil ich erst jetzt dazu in der Lage bin sie groß zu ziehen. Ich nehme sie auf. Ihr zerstörter Körper ist reines Licht. Sie ist vollgesogen mit Liebe und ich bin bereit. Sie ist bereit. Und während ich mein Herz für sie öffne, sehe ich, wie sie sich in Form eines wunderschönen Lichtballes in mich legt. Sanft und voller Leichtigkeit.
Mein Gott, bin ich glücklich und froh. Ich fühle mich anders in dem Moment der Vereinigung. Glücklicher als je zuvor. Ich fühle mich ganzheitlicher, stärker aber vor allem erlebe ich ganz plötzlich einen Energieschub der mich dazu befähigt noch mehr und intensiver wahrnehmen zu können. Nie, niemals hätte ich meine Kleine in Erde begraben können, denke ich. Denn meine Kleine ist nicht Fleisch, sondern Geist, und demnach nur in mir zur Ruhe zu betten. Damit sie unter meinem Schutz, selbst erwachsen und groß werden kann. Und diesen Schutz kann ich ihr erst jetzt bieten, jetzt, wo ich selbst erwachsen bin und Mutter von vier Kindern.
„Mein Kind, mein Baby“, denke ich glücklich, das zu haben, ich noch immer nicht recht fassen kann.
„Aber du und ich wissen“, sage ich ihr, während ich sie bewundernd dabei beobachte wie sie ihre Form verändert, und über meinen Solarplex in mich eintritt, „dass alles Geistige, alles was du fühlst und weißt, einfach alles von dir, jetzt in mich übergeht, sich integriert durch das Licht. Das Licht, das alles in und an dir durchflutet löst deine Gestalt langsam, aber unaufhörlich auf und fließt wie Samt in mich hinein. Ich nehm dich endlich auf, den wir beide sind eins. Ich liebe dich unermesslich. Und ich fühle mich von dir über alle Maßen geliebt und gebraucht. Du schaust so dankbar und ich werde von nun an gut für dich sorgen, das verspreche ich dir. Dein Platz ist bei mir, an meiner Seite in meinem Leben denn es ist auch das deine. In diesem Moment meine Kleine, sind wir beide neu geboren. Du wärmst mich jetzt schon und ich fühle, wie zu Hause du dich in mir fühlst und wie sicher. Und jetzt weiß ich du wirst auch groß werden, genauso wie ich, und du wirst wunderbare Dinge erleben, aber vor allem, beginnst du jetzt zu leben, genauso wie ich neu zu leben beginne, durch dich. Es ist so schön dich wieder zu haben und es ist so schön, dass es dich gibt.“
Erst nach über zwei Tagen bin ich wieder ansprechbar, und voll bei mir. Ich fühle mich anders. Kann mich an alles erinnern und bin glücklich. Ronda kommt mir in den Sinn. Ich werde Ronda davon erzählen müssen. Ich denke das wird sie brennend interessieren. Denn ich ahne bereits, dass Ronda auch so einen verlorenen Teil hat. Einen, der womöglich so wie es bei mir war, soeben vor ihrer Türe steht. Etwas, das ihr höllisch Angst macht.
„Ich habe sie in meinen Körper gebracht“, erkläre ich Ronda, bei unserer nächsten Sitzung. „Unsere Vereinigung habe ich an meinem Oberarm als Tattoo verewigt. Nie, nie wieder wird sie mir verloren gehen. Dafür habe ich gesorgt. Es ist mein Mahnmal. Mein Liebesmal. Mein Bekenntnis zu unserer Unsterblichkeit. Niemand kann sie mir jemals wieder nehmen, Ronda, keiner wird je mehr solche Macht über mich haben, sie mir wieder nehmen zu können.“ Und Ronda scheint interessiert zu sein, zu sehen, was ich mir an den Oberarm hab tätowieren lassen. Aber sie fragt nicht danach. Und ich weiß, sie fragt deshalb nicht, weil sie Angst davor hat etwas sehen zu können, das sie an ihren verloren gegangenen Teil erinnern könnte. Rondas Arschloch, das sie sich beizeiten hat zulegen müssen, um ihr Leben im harten Griff der Dominanz und Kontrolle zu bringen, um zu überleben, hat Ronda im Griff. Ganz und gar. Und dieses Arschloch jagt Ronda davon, weg von der Baustelle. Denn sie ahnt ja bereits, dass dort etwas von ihr selbst zurückgeblieben ist. Vor langer Zeit. Allein, und zerstört.