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Authentizität

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Ronda, meine Therapeutin liebt authentische Begegnungen. Sagt sie. Und ich frage mich soeben, weil ich zu jenen Menschen gehöre, die Gedanken, Gefühle und Körperreaktionen anderer Menschen mit allen Sinnen wahrnehmen können und wie ein Schwamm in mich aufsauge, wie authentisch die heutige Sitzung wohl werden wird. Denn nachdem, was sich da gerade in Rondas Phantasie zusammenbraut, und ich kann sie wahrnehmen in allen Einzelheiten, müsste sie sich geradewegs auf mich zu bewegen, direkt zu mir auf die Couch. Sie müsste aufreizend ihre Schenkel spreizen, sich auf meinem Schoß niederlassen und mir lasziv ihren weiten Ausschnitt unter die Nase reiben, damit ich ihre süßen, kleinen Brüste sehen kann, die ich nicht das erste Mal ins Auge gefasst habe.

Natürlich könnte man jetzt einwenden: „Aber Isa, Gedanken sind frei, und du betreibst Spitzfindigkeit, wenn du meinst, dass jeder Gedanke und jedes Gefühl, das nicht sofort offen körperlich gezeigt wird, einer Lüge gleichkommt und nicht authentisch ist.“ Ja, ja das könnte man mir schon vorwerfen, dass ich spitzfindig bin, wenn es darum geht, Gefühle beim Namen zu nennen, um sie dann auch zu zeigen, damit man weiß, woran man ist.

In der Fachsprache der Therapeuten würde man sagen ausagieren. Und Ronda sagte mir einmal, sie dürfte erotische, sexuelle Phantasien nicht ausagieren. Dafür sorgen Gesetze. „Denn das wäre Missbrauch und ich werde die alten Verletzungen, die dir angetan wurden nicht wiederholen.“ Das spricht für Ronda. Trotzdem finde ich, dass ihr Job einem zweischneidigen Schwert gleicht, das den Namen „Alles ist möglich, alles darf sein“ trägt, seinem Namen aber niemals gerecht werden kann, des Abstinenzgebotes wegen, das authentisches Verhalten unmöglich macht.

Ich weiß das alles, Ronda ist nicht meine erste Therapeutin. Sie scheint mich allerdings ganz ordentlich zu beschäftigen, weil sie etwas an sich hat, das mich magisch anzieht. Also frage ich mich wie Ronda damit klar kommt, authentische Begegnungen zu lieben, den Beruf des Therapeuten gerade auch wegen dieser Möglichkeit, Authentizität zu erleben, ausgewählt hat, obwohl ihr doch schon in der Ausbildung klargemacht wurde, dass Authentizität, gemeinsames in Aktion geraten mit dem Klienten, einen in den Knast bringen kann.

Therapie ist also nichts anderes als ein Vorgaukeln der Möglichkeit, Authentizität und Offenheit zu lernen und zu erleben, finde ich. Denn sobald man seine Gefühle endlich entdeckt, darf man sie nicht durchleben, und da kann Ronda noch so sehr das Gegenteil behaupten, es ist und bleibt nur die Halbwahrheit von „alles darf sein“, und hat mit Authentizität nichts zu tun.

„Irgendwie“, so denke ich mir jetzt, „muss jeder Therapeut einen Dachschaden haben. Einen, der sie grenzwandeln lässt.“ Nur so kann ich mir erklären, weshalb meine Therapeutin tut was sie tut. Sie versucht mit mir gemeinsam herauszufinden, was mir fehlt, und welchen Dachschaden ich zu verzeichnen und wenn möglich zu reparieren habe. Und ich seh schon, wohin mich die ganze Sache führen soll. Sie will mir scheinbar meine Spitzfindigkeit austreiben, aber das wird ein schwieriges Unterfangen. Nicht für mich, aber für sie.

Es fällt mir leicht, zu beschreiben was mir fehlt. Es sind authentische Begegnungen. Das passt wunderbar zu Rondas Einstellung, die authentische Begegnungen sucht und liebt. Und das Fehlen der gleichen bringt mich, seit ich ein Kind war, immer wieder in Rage. Zu Hause erlebe ich, was es bedeutet, authentisch zu leben. Deshalb ist es ja auch mein zu Hause. Aber außerhalb meines Heimes, außerhalb meiner kleinen Welt, die aus meiner Frau, meinem Ex-Mann, ein paar wunderbaren Freunden und unseren vier Kindern besteht, fühle ich mich heimatlos, weil in der Welt da draußen keine Authentizität stattfindet.

Meine Welt ist riesengroß und gefährlich für Außenstehende, weil sie keine Gedanken, keine Gefühle und Körperreaktionen von anderen zu deuten verstehen und sie am eigenen Leib erfahren können. Wahrscheinlich könnten sie schon, aber sie wollen es einfach nicht. Eine neue Sprache zu erlernen ist Schwerstarbeit. Diese Leute sprechen ganz einfach nicht meine Sprache. Diese Leute wollen nicht erkannt werden, weil sie sich dann in ihrer vermeintlichen Sicherheit von mir ertappt und davon getrieben fühlen.

Und jetzt frage ich mich, während ich so auf der Couch hocke und darauf warte, dass Ronda authentisch wird, was sie wohl damit meint, wenn sie sagt, sie liebt authentische Begegnungen.

Ich hätte nichts einzuwenden gegen einen offenen, erotischen Schlagabtausch zwischen uns beiden, mitten auf dem Sofa, aber Ronda scheint nicht in den Knast zu wollen. Und das kann ich nachvollziehen.

„Also keine authentische Begegnung“, denke ich und sehe wie sich Rondas Welle der Gefühle langsam wieder auf das offene Meer zurück bewegt.

Ich mache das schon seit meiner Kindheit. Die Leute dabei beobachten, wie sich ihre Wellen ausbreiten. Es war meine einzige Möglichkeit, die Wahrheit von der Unwahrheit unterscheiden zu können. Solange die Kleinen noch nicht sprechen können, scheint alles in der Erwachsenenwelt in Ordnung zu sein. Doch sobald die Kids ihre ersten Worte sagen, sagen sie die Wahrheit. Sie sagen den Erwachsenen was sie sehen, sie erzählen mit wenigen Worten, welche Welle gerade heran rollt und wie sich das anfühlt, was soeben auf sie zu rollt. Und meistens erschrecken dann die Großen so sehr über die Wahrnehmung des Kindes, dass sie sich gezwungen fühlen zu lügen. Wie schändlich, wenn ein kleines Kind sie aus ihrem Schutzpanzer des Schweigens herausbrechen und bloßstellen würde, weil ihr Leben nicht authentisch ist. Und das ist es, was dann den Kindern vorgelebt wird, lebe nicht authentisch. Jeder hat seine Geheimnisse, die verborgen werden müssen. Doch was sie damit wirklich zeigen ist Lüge. Die Lüge des eigenen Lebens zu leben, darauf kommt es an, weil die Welt einfach so tickt und nichts anderes Platz darin hat.

Und so war das auch bei mir. Ich musste also schon sehr früh lernen, welche Welle meine eigene ist und welche zu den anderen gehört. Ich war nicht allein auf der Welt, und ich fühlte mich verbunden mit allen Lebewesen. Was mich allerdings einsam machte, war die Tatsache, dass ich mit dieser Wahrnehmung scheinbar alleine dastand. Denn die Erwachsenen sahen das grundsätzlich anders. Sie sahen sich von allem und jedem getrennt. Und das brachte mein Leben ganz gehörig ins Wanken, weil ich ständig auf dem gleichen zweischneidigen Schwert wandeln musste, so wie Ronda es gerade tut. Und das scheint mir mein wahres Problem.

ABSTINENZ

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