Читать книгу ABSTINENZ - E. W. Schreiber - Страница 5

Rund

Оглавление

Ich knacke gerne Tabus. Wozu sollten sie sonst da sein? Es macht mir Spaß Grenzen zu überschreiten, wenn sie für ein authentisches Leben nützlich sind. So ist das auch mit runden Bewegungen. Runde Bewegungen sind für mich sehr intim. Sie sind weiblich. Ich zeige sie nicht in der Öffentlichkeit, habe mich der Männerwelt angepasst. Wenn ich die Menschen auf der Straße beobachte, sehe ich kaum jemanden seine Hüften schwingen. Die Leute bewegen sich, als hätten sie einen Stock-im-Arsch.

Wie würde das auch aussehen, wenn ein Mann rhythmisch im Takt, beschwingt mit den Hüften tanzend, durch die Gassen bummelt. Sofort würden Rufe laut, getuschelt und geschwatzt werden, was ist das bloß für eine Schwuchtel.

Und würde eine Frau wagen, sich hüftschwingend durch das Leben zu bewegen, hätte sie keine ruhige Minute mehr. Welches Mädchen versuchte nicht schon in der Schule den beschwingten Schritt im Pausengang. Es dauert nicht lange und man wird selbst von den eigenen Geschlechtsgenossinnen als Arschwacklerin, Flittchen und für etwas sich besser Haltendes gebrandmarkt.

Schon in der Schulzeit fiel mir auf, dass jegliche runde Bewegung automatisch auf Sex schließen lässt. Die Leute assoziieren mit runden Bewegungen scheinbar anzügliches sexuelles Verhalten und Begehren. In meiner Kindheit hatte ich noch keine genaue Erklärung dafür, aber mittlerweile bin ich Ende Dreißig und kann aus Erfahrung berichten, dass es in den Betten der Leute nicht sehr viel runder abgeht. Ich kenne sehr viele Frauen, die mir dabei zustimmen, dass sie sich beim Sex mit Männern, der „Stock-im-Arsch-Bewegung“ der Männer, anstandslos angepasst haben. Wie langweilig. Und jetzt stelle ich mir vor, die Welt würde runder werden. Arschwackelnde Passanten wohin das Auge blickt, kein langweiliges Vor und Zurück, Vor-Zurück, sondern ein rundes hüftschwingendes Vor und Links, Zurück und Rechts und das alles im Salsa Takt. Die Welt würde aus den Fugen geraten. Sie wäre in ihrer Bewegung authentisch, das Leben wäre vorzeigbar.

Mich stört das Stock-im-Arsch Leben schon seit meiner Kindheit. Vielleicht habe ich deshalb die Seite gewechselt. Immer wenn ich an meine Mütter denke, und ich habe zwei davon, bemerke ich, dass ich ständig versucht war, die Mitte von beiden zu finden. Meine leibliche Mutter war die Hure, während die andere, die mich aufzog, ein Nonnenleben führte. Ich befand mich also immerzu in der Zwickmühle, irgendwie Identität durch meine Mütter zu erfahren. Ein zweischneidiges Schwert also, dessen beide Seiten nicht recht zu mir passten. Mich als Frau zu finden, losgelöst von beiden Frauen, die unterschiedlicher nicht sein konnten, konnte ich also nur durch ihre Wellenbewegungen. Denn ich wusste, was ich fühlte und was ihre Gefühle waren. Und das war schon eine gehörige Herausforderung. Aber mal ehrlich, Frauen werden nicht lesbisch, weil sie Mütter haben, die ihnen Liebe versagten oder ansonsten irgendetwas vorenthielten. Meine Mütter enthielten mir nie etwas vor. Sie lebten beide extreme Seiten, von der die eine gut und die andere schlecht zu sein schien. Doch weder die eine noch die andere lebte authentisch. Meine leibliche Mutter störte das mit dem Stock-im-Arsch-Leben, schlich aber dennoch bezahlt penetriert, gelangweilt, vor und zurück, durch ihr Dasein. Und die andere Mutter penetrierte der Gedanke, Tag ein, Tag aus, Penetration nicht ertragen zu können, und sie übersah völlig, dass sie wegen ihrer einsamen und einseitigen Vor- und Zurück-Bewegungen im Leben stagnierte. Beide bemerkten nicht, dass sie vom Leben gefickt wurden und sich von diesem ficken ließen. Ich wollte nie vom Leben gefickt werden wie die beiden. Und demnach entschied ich mich, das Ficken als das zu sehen, was es in Wahrheit auch sein sollte. Ein Ausdruck meines Körpers. Und ich probierte mich aus. In alle Richtungen versuchte ich herauszufinden, wann ich mich als Frau authentisch fühlen konnte. Und ich bin meinen Müttern unendlich dankbar dafür, dass sie mich zur Lesbe haben werden lassen, ohne dass sie meine Wahl irgendwie beeinflussen konnten.

Nicht dass mir Sex mit den Männern nicht gefallen hätte, aber ganz ehrlich? Es ist ein Stock-im-Arsch-Fick, dem man sich aussetzt. Es ist ein Sich-Beschlafen-Lassen ohne authentische Bewegung und Regung. Und ich muss mir jetzt ganz ernsthaft die Frage stellen, wie meine Frau das so sieht. Ich habe sie noch nie dazu befragt, ob ich im Bett die langweilige Vor- und Zurück-Haltung einnehme, oder ob meine Hüften auch die rechts und links Bewegung beherrschen. Aber ich gehe davon aus, dass ich rund bin in solchen Sachen, sonst wäre sie wohl nicht meine Frau geworden. Denn auch meine Frau liebt runde Bewegungen.

Was mich an der Stock-Variante im Alltag so stört ist, dass sie Verklemmtheit vorlebt und Authentizität blockiert. Und das muss ich ändern. Daher gehe ich jetzt zum Salsa-Tanzen. Salsa riecht ja förmlich nach Sex. Nach lesbischem, rundem Sex wohlgemerkt. Ich beobachte die Frau beim Tanzen. Immer und ausnahmslos. Es ist so wie beim Küssen. Es ist immer nur die Frau, die Erotik für mich ausstrahlt. Wahrscheinlich interessieren mich die Frauen deshalb so viel mehr in diesen Dingen, weil ich weder meine eine noch die andere Mutter tanzend oder küssend gesehen habe. Ich muss zugeben, das hätte mich schon einigermaßen interessiert, wie unterschiedlich sie mit Küssen und Tanzen umgegangen wären. Ich weiß nicht, wie viele Filme ich mir angeguckt habe, nur um herauszufinden, wie Nonnen und Huren küssen. Aber mal ehrlich, beide Frauensorten sieht man nicht küssend. Nie. Und alleine diese Tatsache ließ in mir eine sehr wichtige Frage offen.

Wenn ich den Frauen beim Tanzen zuschaue, wie sie sich mit geschmeidigen, runden Bewegungen sinnlich im Takt bewegen, überzieht mich immer ein wohliger Schauer, der mir eine Ganzkörpergänsehaut beschert. Und weil ich es selbst fühlen wollte, das Wippen und Drehen, das Becken bei gestrecktem Bein einknicken und herausschnellen zu lassen, muss ich mir nun, wo ich diese Bewegungen trainiere, selbst eingestehen, dass ich meinen Körper plötzlich etwas anders wahrnehme als bisher, und dass ich die Welle, die sich dabei in mir von unten nach oben rhythmisch ausbreitet, langsam schon beim Spazierengehen einfindet. Aber ich habe mir fest vorgenommen, erst nachdem ich den ersten Grundschritt im Blut habe und das Knacken in meinen Hüften nicht mehr registriere, weil runde Bewegung für meine üppigen Hüften authentisch geworden ist, werde ich mich ganz in die Öffentlichkeit trauen, gemeinsam mit Jörg, meinem Tanzpartner, der seinen Stock-im-Arsch als körperzugehöriges Organ betrachtet. Wir sind schon gespannt, was passiert, wenn wir uns beschwingt in den Schaufenstern der Innenstadt spiegelnd, beim authentischen Arschwackeln begegnen. Und wie die Leute dann darauf reagieren werden.

Genauso verhält es sich dann auch mit meiner Frau. Wenn ich authentisches Gehen umsetzen kann, werde ich meine Frau nehmen und mit ihr händchenhaltend durch die Innenstadt bummeln. Denn das traue ich mich nicht. Ich weiß, dass sich sehr viele Männer ein lesbisches Pärchen vorstellen, dem sie beim Liebesspiel zuschauen und bei dem sie mitmischen dürfen, damit sich endlich ein authentisches rundes Gefühl in der Lendengegend einstellt. Doch wenn sie ein solches Pärchen händchenhaltend durch die Straßen schlendern sehen, zeigt sich ein rigoroses Kopfschütteln, um Unpässlichkeit und gespielte Authentizität zu demonstrieren.

Die Stock-im-Arsch-Demo geht mir schon lange auf den Geist und daher muss ich lernen, in der Öffentlichkeit authentisch lesbisch zu sein. Außerdem leiste ich dadurch nicht nur bei mir selbst Entwicklungsarbeit.

Zu Hause hab ich‘s ja drauf, das Runde in mir, und zeige es auch. Ich denke nicht nach, sondern bin rund. Aber da draußen geht das nicht. Da draußen muss immer alles schön sauber bleiben. Hinter dem Vorhang aber, in den Köpfen der Leute, ist die Doppelmoral am werken.

So ist das mit der runden Bewegung, sie braucht einen Imagewandel. Und diesen müssen wir unbedingt erstmals in der Öffentlichkeit vollziehen, zumindest für Jörg und mich, damit wir uns endlich auch in der Öffentlichkeit authentisch bewegen, damit sich in der Welt mal was bewegt. Jörgs unglückliche Frau würde dann schon bemerken, dass ihre bisweilen lesbischen Tendenzen eine Wurzel und den Urgrund in dem innigen Wunsch nach Authentizität haben. So wie ich auch, braucht auch Jörg selbst, aber auch seine Frau, runde Bewegung und diese gelingt nur im Einklang mit Körper, Geist und Seele. Woher ich das weiß? Och, die Frauen erzählen mir so allerlei, wenn sie einen zu viel gekippt haben.

ABSTINENZ

Подняться наверх