Читать книгу ABSTINENZ - E. W. Schreiber - Страница 6
Funktionen
ОглавлениеIch mag Ronda. Nein, ich liebe Ronda. Sie kann rund sein, aber manchmal hat auch sie einen Stock-im-Arsch, der meinem aufs Haar gleicht. Und das finde ich sehr interessant. Und Ronda findet das auch. Ronda hat zwei Seiten in sich, und ihre Wellen bewegen sich mal rhythmisch, mal unrhythmisch durch mich hindurch. Ich muss dann immer genau darauf aufpassen, was gerade zu Ronda und was zu mir gehört. Ich habe mir beizeiten angelernt, noch bevor ich mich mit anderen Leuten treffe, mich zu zentrieren. Das heißt, ich gehe in der Stille in mich, lausche meinem Atem, bringe Ruhe in meinen Körper und fühle was sich in mir bewegt, was so in mir vorgeht. Ich weiß dann immer, welche Grundstimmung in mir herrscht und kann mich im Falle des Falles daran festhalten, an meinem Gefühl, das ich zuvor in mir habe festmachen können. Bevor ich also Ronda‘s Praxis betrete, weiß ich, welche Wellen mich heute reiten und welche ich bereiten möchte. Nur Ronda weiß das nicht. Sie hat aber bestimmt ihre eigene Technik, von der ich auch nichts weiß. Und bestimmt hat sie kein schlechtes Gewissen dabei, wenn sie mir nichts davon sagt. Therapeuten geben ja nichts von sich preis. Keine erläuternden Erklärungen zu meinen Wahrnehmungen zu bekommen, macht mich allerdings ganz schön nervös. Ich glaube, Ronda und ich sind uns nicht unähnlich. Denn ich glaube, dass es ihr Angst machen würde, sollte sie von mir und meinen Begeisterungsschüben für sie erfahren, sobald ihre Wellen auf mich überschwappen. Irgendwie wollen wir beide nichts davon hören, von all den Dingen, die nicht klar benannt sind, aber immerzu um uns herumschwirren. Das letzte Mal fragte sie mich: „Isa, was ist das hier zwischen uns? Ich hatte schon viele Klientinnen, aber sowas wie mit dir habe ich noch nie erlebt.“ Hm, was meinte sie mit sowas. Ich war nervös. Also blieb mir meine Frage auf der Zunge kleben und Ronda mir die Antwort unschuldigerweise schuldig. Ich hätte es zu gerne gewusst. Zu gerne würde ich Ronda auseinandernehmen in ihren Zwiespälten, die für mich immer offensichtlicher werden und dafür sorgen, dass sich so etwas wie eine Schlucht, ein Krater in mir auftut, der mich zu knacken versucht. Einerseits will ich wissen was es ist, das sich durch Ronda in mich bohrt, andererseits aber befürchte ich erneut Schaden zu erleiden, wenn ich von Ronda eine klare entschiedene Antwort herbeizwingen würde.
Was hatte Ronda vor?
Wenn mir etwas Angst macht, dann ist es Macht gepaart mit Dummheit und Unbewusstheit.
Ronda ist nicht dumm, sondern überaus intelligent. Aber sie hat Macht und mir ist noch nicht recht klar wie bewusst ihr ist, was sie mit mir tut, wenn sie mich im Unklaren lässt. „Isa, du musst Kontrolle abgeben“, sagte sie mal. „Du willst alles kontrollieren, aber mich kannst du nicht kontrollieren und das macht dir Angst!“ Wham, das hatte irgendwie gesessen. Es hatte geklatscht, mich wachgerüttelt für eine Erklärung, damit ich Ronda endlich den Durchblick verschaffen konnte, von dem mir so wichtig war, dass sie ihn hatte. Denn wenn sie den Durchblick nicht hatte, wäre sie unbewusst und dadurch ungemein gefährlich für mich in ihrer ausübenden Macht.
Also beginne ich, Ronda Funktionen zu erklären.
Und Ronda ist ganz Ohr und macht es sich auf ihrem Stuhl bequem, ganz wie zu Hause, als hätten wir einen netten Plausch in ihrem Wohnzimmer. Ich mag das. Es ist rund, es ist menschlich und feminin, ganz einfach wunderbar. Aber das ist jetzt meine Welle, und die will ich momentan nicht reiten.
„Meine leibliche Mutter“, beginne ich, „stand in Funktion zu mir. Sie wurde für ihre Dienste an meinem Vater von ihm bezahlt. Und für den Schuss, den er abließ, bleche ich heute noch. Ich bin ein erst durch Bezahlung entstandenes Wesen.“ Oh Mann, das ist ein harter Schlag, das zu sagen. Aber nun ja, so ist es eben. „Mit ihrer Funktion als Hure, als bezahlte Sexsklavin, schaffte meine Mutter ein Nebenprodukt. Mich. Im Moment meiner Zeugung stand sie in bezahlter Funktion. Für den rein menschlichen Aspekt der Liebe war da kein Platz.
Das Irre an der Sache aber war, dass mir diese Tatsache nie erklärt wurde. Immer stand ich im Unklaren. Da wird einem ein Leben lang erzählt, ein Kind ist das Produkt der Liebe zwischen zwei sich liebenden Menschen. Und ich dachte so war es auch bei mir. Dass ich das Produkt einer Dienstleistung war, hätte ich schon früher wissen sollen. Aber ich hatte Glück, denn Mutter hat mich das nie spüren lassen, ein Dienstleistungsprodukt zu sein. Sie war in meinem Leben gar nicht vorhanden.“
Ronda hört mir aufmerksam zu und schluckt einige Male, während ich mich selbst dabei beobachte, wie ich von der Zimmerdecke aus meinen Körper auf der Couch hockend betrachten kann.
„Nur einmal versuchte ich mit Mutter darüber zu sprechen, aber mit Mutter kann man nicht über die Wahrheit reden. Sie hat sich ihre eigene zusammengesponnen und nach ihrem Gehirnschlag im letzten Jahr werde ich nie die Wahrheit der Geschichte hören. Auf diese Weise behielt Mutter Macht über mich, unbewusst und dümmlich wankt sie durchs Leben und lässt mich durch ihre Wellenbewegungen in einer Art Gefängnis sitzen, aus dem es kein Entkommen gibt. Meine Mutter ist die funktionalisierte Kerkermeisterin, die nie über ihre wahren Gefühle zu mir sprechen wird. Niemals.
Und wenn ich an Mama denke, die Frau die mich aufgezogen hat wie ihr eigenes Kind, so muss ich um der Wahrheit willen sagen, dass auch sie in Funktion zu mir stand, weil sie für ihre Dienste an mir bezahlt wurde. Natürlich ließ mich Mama das nie spüren, aber auch mit ihr darüber zu reden wird ein Traum bleiben, weil Mama Alzheimer hat und es sich nicht klar festmachen lässt, was genau da an menschlicher Liebe in ihre Dienstleistung hineingewachsen ist. Mir fehlt einfach das Gefühl echter authentischer geradliniger Zuneigung, ohne funktioneller Ausübung.“
Verdammte Scheiße, schon wieder. Ich denke gerade, dass es Menschen in Funktionen sind, die mir Angst machen. Nicht ihrer Funktion wegen, sondern weil sie innerhalb ihrer Dienstleistung Gefühle und Beziehung anbieten, die keinerlei klare Grenzen aufweisen, weil sich Menschliches mit Funktion überschneidet. Also niemals rein menschliche unbezahlte Liebe geben können, und genau das wünsch ich mir so sehr. Die Sicherheit wahrhaft menschlicher Liebe an Körper, Geist und Seele.
Ich denke an Robby Williams, den britischen Popstar, der einmal sagte, dass sein Vermögen dafür verantwortlich sei, das er niemals sicher sein könne, ob ihn eine Frau seines Geldes oder tatsächlich um seines Willen liebte. Und genau dies mache ihn so unendlich einsam. Ich war der Robby Williams in einem Leben dominiert von funktionalisierten, abgeschmackten Beziehungen.
Ich starre geistesabwesend Ronda an, die scheinbar nicht weiß, dass ich sie jetzt vom Fenster aus beobachte, und gleichsam mich, in meiner geistlosen Hülle.
Jetzt wird mir klar, wohin ich Ronda entwickeln möchte. Wohin ich uns beide gemeinsam entwickeln möchte. Ich will sie raus haben aus ihrer Funktion. Raus aus der bezahlten Dienstleistung. Ich fühle mich wie ein Nebenprodukt, in dem das Hauptprodukt wahre menschliche Liebe sein sollte. Oh du heilige Scheiße. Ich habe mich soeben ertappt. Ich habe soeben Ronda ertappt. Denn ich mag Ronda. Und Ronda mag mich. Jetzt versteh ich auch, weshalb Ronda mit der vermaledeiten Abstinenzregel kämpft und jedesmal, wenn ihre Funktion gegen ihre menschlichen Gefühle gewinnt, und sie gewinnt immer, erneut ein Teil in mir stirbt und mich völlig verstört zurücklässt. Ronda verwüstet mich. Und obwohl sie nicht weiß, auf welche Wunde sie tritt, habe ich mich noch nie so bewusst von einer Frau verwüsten lassen.