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Die Friedhöfe
ОглавлениеGegen Ende des 17. Jahrhunderts lebten drei Schutzjuden mit ihren Familien in Wunstorf. Insgesamt wird ihre Zahl oder ihr Ansehen höher gewesen sein als in den umliegenden Gemeinden. Nur so ist zu erklären, dass es ca. 1690 zur Anlage eines jüdischen Friedhofs vor dem Westertor, heute Ecke Haster Straße/Amtshausweg kam. Das Grundstück war in Erbpacht erworben worden, da die jüdische Minderheit von Grundeigentum im Hannoverschen Raum bis 1847/48 ausgeschlossen war.
Mit Verfügung des Regierungspräsidenten in Hannover vom 17. Dezember 1938 wurde dieser Friedhof landespolizeilich geschlossen und die Einebnung angeordnet. Ende November 1939 wurde das (noch nicht eingeebnete) Gelände an die Grundstücksnachbarin, die Witwe des Lederfabrikanten Bauer, Frieda Bauer, geb. Pless, verkauft.189 Im Zweiten Weltkrieg wurde das Friedhofsgelände von der Firma Oberpottkamp überbaut, deren Produktion als »kriegswichtig« eingestuft worden war.190
Am 4. Mai 1827 stellten Abraham Moses Löwenberg (Nr. 32), Samuel Moses Spanier und David Moses Spanier (Nr. 10) an den Magistrat der Stadt Wunstorf ein Gesuch »um Ankauf eines Gartens zum Begräbniß-Platz«:
Da unser bisheriger Begräbniß-Platz voll ist, und es wieder unsere Gesetze ist, an einem und denselben Ort Leichen zu begraben, so ersuchen wir gehorsamst, dem Hochlöblichen Magistrat, uns die Erlaubniß zu ertheilen einen dem Herrn Senator Häberlin gehörenden Garten vor dem Nord-Thore belegen, anzukaufen, und solchen zum Begräbiß-Platz benutzen zu dürfen. (FI)
Die Gemeindevertreter beriefen sich bei ihrem Antrag auf die Halacha, das jüdische Religionsgesetz, nach dem das Grab dauerhafter Besitz des bzw. der Verstorbenen ist. Damit unterscheidet sich der jüdische Friedhof deutlich von einem christlichen oder kommunalen, bei dem eine Grabstelle nach einer festgelegten Frist neu belegt werden kann. Auch in der hebräischen Bezeichnung bet olam, »Haus der Ewigkeit«, kommt diese Intention bei Anlage eines Friedhofs zum Ausdruck.
Das Gelände wurde 1922 um ein weiteres Flurstück im Südwesten ergänzt,191 was an der Anordnung der Grabstellen noch gut erkennbar ist. Während der größere Teil (750 qm) seit 1960 im Besitz des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Niedersachsen ist, gehört das kleinere Teilstück (276 qm) der Stadt Wunstorf.192
Am Friedhof, der von 1830 bis 1938 belegt wurde, kam es wiederholt zu Beschädigungen. Im Juni 1938 zeigte der damalige Vorsteher Albert Mendel an, »daß auf dem jüdischen Friedhof mehrere Grabsteine umgeworfen bezw. umgefallen seien«193, also bereits vor dem Novemberpogrom, in dessen Folge es zur Schändung des Friedhofs durch die SA kam.194 Die Untersuchung durch Polizeihauptwachtmeister Brackmann führte zu keinem Ergebnis. Die Polizei nahm schließlich »Naturgewalt« als Ursache der Beschädigungen an, ein angesichts des politischen Klimas der Zeit zweifelhaftes Ergebnis. Bereits in der Zeit von 1923 bis 1932 hatte der »Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« 125 politisch motivierte Schändungen jüdischer Friedhöfe im Reich festgestellt.195
Dass der Friedhof an der Nordrehr im Gegensatz zum alten Friedhof die Zeit des Nationalsozialismus – wenn auch beschädigt – überstand, dürfte u. a. darauf zurückzuführen sein, dass die älteren, auf Länderebene ergangenen Verwaltungsvorschriften auf dem Gebiet des Friedhofswesens nach 1933 weiterbestanden, und in Preußen die Ruhezeit nach Schließung eines Friedhofs 40 Jahre betrug.196 Der alte Friedhof wurde bis 1827 für Bestattungen genutzt, in Einzelfällen wohl noch bis ca. 1860.197 Die letzte Bestattung auf dem neuen Friedhof war hingegen erst im März 1938 erfolgt.
Die Kompetenzstreitigkeiten im Rahmen der den Nationalsozialismus kennzeichnenden »Polykratie«, d. h. des Nebeneinanders rivalisierender Instanzen von Partei und staatlicher Verwaltung, sowie die Notwendigkeit, Bestattungsmöglichkeiten offen zu halten, solange noch Jüdinnen und Juden im Reich lebten, sicherten den Friedhöfen trotz vielfältiger gegenteiliger Bestrebungen in einer relativ großen Zahl die Existenz über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus.
Die Anlage des Friedhofs an der Nordrehr war schon vor 1922 mit 750 qm Fläche198 deutlich größer als der Friedhof vor dem Westertor (469 qm199), entsprach ihm aber in der Umfriedung mit einer »lebenden Hecke« (für den alten Friedhof als zweiseitige Hainbuchenhecke bezeugt) und dem Eingang durch eine zwischen zwei Steinpfosten angebrachte Holz- bzw. »hölzerne Gittertür« (Nordrehr). Der Zugang war bei dem neuen Friedhof allerdings deutlich bequemer, da sich das Tor – wie heute noch – direkt am Weg nach Klein Heidorn befand, während der alte Friedhof nur über einen Privatweg durch die städtische Baumschule zu erreichen war.
Der erhaltene Wunstorfer Friedhof bietet ein recht einheitliches Bild, anders als dies seit dem 19. Jahrhundert in größeren Städten der Fall war. Der Leipziger Rabbiner Gustav COHN beklagte diese Entwicklung in seinem 1930 erschienenen Büchlein »Der jüdische Friedhof« zutiefst, da sie an der wesentlichen Aufgabe des Friedhofs vorbeigehe, zu zeigen, »daß der einzelne Tote zur Gemeinschaft gehört hat, und daß auch seine letzte Ruhestätte die Zusammengehörigkeit mit den Menschenbrüdern und -schwestern betonen muß.«200
Diese weitgehende Einheitlichkeit beruht in Wunstorf auf der überwiegenden Verwendung der traditionellen Sandsteinstele und hebräischer Grabinschriften sowie der fast durchgehenden chronologischen Anordnung der Gräber. Diese folgt der Ausrichtung des Friedhofsgeländes von Nordwesten nach Südosten, die ungefähr derjenigen des alten Friedhofs »am Westertor« entspricht. Die (hebräische) Schriftseite der Grabsteine und die Gräber selbst zeigen in nordwestliche Richtung, nicht, wie vielfach anzutreffen, nach Südosten. Eine bindende Vorschrift hierfür existiert allerdings nicht.201 Möglicherweise spielte bei dieser Konzeption die Gebetsrichtung (nach Jerusalem) der vor dem Grabe stehenden Angehörigen eine Rolle.
Familienbestattungen im eigentlichen Sinn gibt es auf dem Wunstorfer Friedhof nicht, wenn man von dem durch eine Familientragödie bedingten Sonderfall der Familie Anschel und Röschen Spaniers (Nr. 49) oder den erst im 20. Jahrhundert aufkommenden Grabsteinen für Ehepaare (Nr. 68, 75) bzw. demjenigen für die aus den Niederlanden stammende Sientje Keiser und ihre Tochter Kantje (Nr. 78) absieht. Eine Ausnahme von der Anordnung nach der Reihenfolge des Begräbnisses stellen die eigentlichen Kindergräber (Nr. 47, 48, 71, 77) dar, die am Rand des Gräberfeldes zur Straßenseite hin liegen.
Es gibt auf dem Wunstorfer Friedhof allerdings auch Grabsteine, die sich von dem insgesamt sehr einheitlichen Bild abheben, sei es durch eine rein deutsche Inschrift (z. B. Nr. 16) oder eine besondere äußere Gestaltung (z. B. Nr. 12, 25, 27, 37). Bild-Symbole und -schmuck sind nur vereinzelt anzutreffen und beschränken sich im Wesentlichen auf das Leviten-Geschirr (Nr. 7, 26), Tempelgiebel bzw. Zelt (Nr. 3), (Morgen-?)Stern (Nr. 20, 23 u. a.), Sonne (Nr. 3, 76), Rose (Nr. 43, 44), Efeublatt (Nr. 27) sowie – seit dem 20. Jahrhundert – Gesetzestafeln (Nr. 75, 77) und Davidsschild (Nr. 72, 74 u. a.). Lediglich ein Grab lässt sich als das eines Kohen, also eines Angehörigen der Priesterschaft, identifizieren, allerdings ausschließlich anhand der hebräischen Inschrift. Der Verzicht auf die traditionelle Darstellung der segnenden Priesterhände lässt sich hier (wie die für Wunstorf ungewöhnliche Wahl einer kleinen Grabplatte) auf die sich dramatisch verschlechternde Situation der jüdischen Bevölkerung zurückführen: Man schreibt das Jahr 1938.