Читать книгу The Family (Deutsche Edition) - Ed Sanders - Страница 5
Einleitung zur überarbeiteten und erweiterten Neuausgabe
ОглавлениеKeine Akte ist jemals vollständig; kein Fall wird jemals wirklich abgeschlossen, auch nach hundert Jahren nicht, wenn alle Beteiligten tot sind.
Graham Greene, Der dritte Mann
Kurze Zeit nach der Erstveröffentlichung von The Family saß ich auf einen Drink im Lion's Head, einer von Schriftstellern und Journalisten gern besuchten Bar in der Christopher Street im New Yorker Stadtteil The Village. Mein Freund, der Dichter Joel Oppenheimer machte mich mit einem Detective des NYPD bekannt, dem mein Buch gefallen hatte. »Da gibt’s ohne Frage eine Menge loser Enden,« sagte er, während wir uns zur Begrüßung die Hand reichten. Würde ich heute, zweiunddreißig Jahre später, mit demselben Mann sprechen, wäre dieser Satz immer noch zutreffend.
Noch Jahre nach Erscheinen der Erstausgabe war ich – vor allem durch die ausgezeichnete Zusammenarbeit mit dem Privatermittler Larry Larsen – stets in Fühlung mit verschiedenen Polizei- und Ermittlungsbehörden geblieben, die sich in jenen Jahren mit verschiedenen Sekten und mindestens einem satanistischen Kult und ihren Verbindungen zum Manson-Fall befassten.
Der Manson-Fall hatte alles: Er zerriss die Schleier Hollywoods gerade weit genug, um das Interesse der Nation und der ganzen Welt hervorzukitzeln. Er hatte Rock 'n' Roll, er hatte den Reiz des Wilden Westens, er beinhaltete die Kernthemen der Sechziger Jahre mit ihrer sexueller Befreiung, ihrer Liebe des naturhaften Lebens, ihrer Wildheit und ihrer psychedelischen Drogen. Er beinhaltete den Hunger nach Ruhm und Erneuerung; Religionen aller Art kamen vor, Kleinkriege und hausgemachte Gemetzel, alles zusammengekocht in einer großen Story voller Sex, Drogen und gewalttätiger Verfehlungen.
Je mehr ich mich in den Fall hineinarbeitete, desto mehr verunsicherte mich das, was diese Leute und die Gruppierungen in ihrem Umfeld getan hatten und weiterhin tun. Vieles, was ich bei der Recherche über dieses Buch erfuhr, erfüllte mich mit Abscheu. Mir war klar, dass ich mich in den Jahren, die ich in der Gegenkultur verbracht habe, oft unvollkommen verhalten habe und mich zum Teil sehr weit von der Jüdisch-Christlichen Tradition entfernt hatte, in der ich großgezogen worden war. Was ich aber hier kennenlernte, schien das Böse selbst zu sein und man muss kein perfekter Mensch sein, um Abscheu gegenüber jenen zu empfinden, die in voller Absicht Böses tun.
Die erste Ausgabe dieses Buchs erzählte die Geschichte der Family von ihren Anfängen 1967, nachdem Manson aus dem Bundesgefängnis entlassen worden war, und endete mit den Verhaftungen wegen der Tate-LaBianca-Morde im Dezember 1969. Die Neuausgabe von 1989 ist um einen ausführlichen Teil erweitert worden, der die Mordprozesse der Jahre 1970 und 1971 beschreibt und den Fall über zwei seltsame und turbulente Jahrzehnte weiterverfolgt. In diesen Zeitraum fällt auch Squeaky Frommes Attentatsversuch auf Präsident Ford.
Für die nun vorliegende Ausgabe konnte ich viele Details nachtragen, die sich in der Zwischenzeit ergeben haben und erzählen, was in den vergangenen Jahrzehnten aus einigen Schlüsselfiguren dieses dramatischen Krimis geworden ist.
Obwohl sich mein Schreibstil geändert hat, habe ich mich entschieden, nur wenige Eingriffe in den nervösen, faktenüberladenen Ton der Ausgabe von 1972 vorzunehmen. Was mich bewogen hat, die Chronologie mit Informationen vollzupacken, war mein starkes Gefühl, die ganze Geschichte dieser Morde sei noch nicht ans Licht gekommen – noch andere Mörder würden frei herumlaufen, die der Gerechtigkeit bisher entgangen waren. Ich wollte bei den Ermittlungen helfen und hoffte, dass neue Informationen ans Licht kämen und das Geheimnis teilweise gelöst werden würde.
Und obwohl in dieser Ausgabe viele Enthüllungen vorgestellt werden, bleibt das Mysterium nach wie vor bestehen, hat das Bild immer noch weiße Flecken, wird man die Akten vielleicht niemals ganz schließen können. Ich bin nach Los Angeles zurückgekehrt und habe für diese Neuausgabe viele Leute befragt, die mit dem Fall direkt zu tun hatten, so auch die damaligen Ankläger Vince Bugliosi, Stephen Kay und Aaron Stovitz. Ich sprach mit Polizeibeamten und anderen, die mit den Untersuchungen zur Family befasst waren. Ich fuhr noch einmal nach Goler-Wash, dreihundert Meilen nordwestlich von Los Angeles, wo die meisten Mitglieder der Manson Family ein endgültiges Rendezvous mit Handschellen hatten. Ich habe die Verteidiger interviewt, mit Manson korrespondiert und einen Nachmittag mit Sharon Tates Mutter, Doris Tate, verbracht, die eine treibende Kraft der Opferrechtsbewegung geworden ist. Während der Überarbeitung bin ich erneut von meinem Freund, dem großartigen Privatdetektiv Larry Larsen, unterstützt worden, der mir schon bei der Erstausgabe geholfen hatte, Informationen zusammenzutragen.
Oft fragte ich mich, warum ich mich vor Jahrzehnten mit einem Fall beschäftigte, der mehr lose Fäden hatte als ein Fransenteppich. Ich denke, ich habe mich darauf eingelassen, weil ich davon überzeugt bin, dass diese Gruppe mitgeholfen hatte, den Traum der Sechziger Jahre zu zerstören. In dieser Zeit war ich viel unterwegs als Dichter, Musiker und politischer Aktivist. Meine Band, The Fugs, trat regelmäßig in Kalifornien auf. In jenem Frühling, als wir draußen im Golden Gate Park für die Blumenkinder spielten, schlich Manson in Haight-Ashbury herum. Überall in Amerika gingen wir zu Love-ins und Friedensdemonstrationen und waren damit beschäftigt, eine ganze Generation aufzurütteln. Wir wollten dauerhafte Veränderungen. In diesen Jahren fuhr ich in einer Reihe psychedelischer Busse durch die Gegend und hatte Freunde, die in Kommunen lebten. Niemand hatte je Charles Manson erwähnt.
Bevor sie wegen Mordes angeklagt wurde, hatte ich von Mansons Gruppe nur ein einziges Mal etwas gehört. Ein Freund gab ein Ökologie-Informationsblatt mit dem Titel Earth Read-Out heraus. Ende Oktober 1969 druckte er eine Geschichte aus dem San Francisco Chronicle vom 15. Oktober 1969:
»Die letzten Überlebenden einer Bande nackter; langhaariger Diebe, die in gestohlenen Strandbuggies das Death Valley durchstreiften, sind, wie das Büro des Sheriffs gestern bekanntgab, ausgehoben worden. Ein Sheriff-Aufgebot, das von einem Aufklärungsflugzeug aus gelenkt wurde, verhaftete bei zwei Wüstenrazzien 27 männliche und weibliche Mitglieder der Nomadengruppe. Die Beamten erklärten, auch acht Kinder, darunter zwei unterernährte Säuglinge, seien aufgegriffen worden. Einige der Frauen waren vollständig nackt und andere trugen Bikinihöschen, wie die Beamten berichteten. Die Erwachsenen wurde alle ins Bezirksgefängnis Inyo eingeliefert, wo sie zu den gegen sie erhobenen Beschuldigungen, darunter Autodiebstahl, Hehlerei und illegaler Waffenbesitz, vernommen werden sollten. Laut Aussage der Beamten wurden sechs gestohlene Strandbuggies sichergestellt.
Hilfssheriff Jerry Hildreth erklärte, die Bande habe von Diebstählen in der Umgebung gelebt. Er berichtete, die Mitglieder der Gruppe seien in den gestohlenen Strandbuggies mit Vierradantrieb herumgefahren und hätten in einer Reihe verlassener Bergwerkshütten campiert. Bisher hätten sie sich dadurch der Verhaftung entzogen, dass sie nur nachts unterwegs gewesen seien und mit Funkgeräten ausgerüstete Wachtposten auf den Bergen aufgestellt hätten. ›Es war erstaunlich, wie sie ihre Spuren verwischten und Scheinlager errichteten, um uns abzuschütteln‹, sagte Hildreth. ›Sie haben uns ganz schön in Trab gehalten ... Es dürfte eines der unzugänglichsten Gebiete von ganz Kalifornien sein.‹«
Sechs Wochen nachdem ich diese beiden Absätze im Earth Read-Out gelesen hatte, waren die Titelseiten der Zeitungen voll mit Bildern von Manson, dem angeklagten Mörder mit dem glasigen Blick. Er wurde in einem Zuge als Hippie, Satansverehrer, Autodieb, Sektenführer, Sexbesessener und Meuchelmörder beschrieben. Seine Anhänger – einige junge Männer und an die zwanzig Mädchen – bezeichnete man als »Satanssklaven«, die bereit gewesen seien, alles für ihn zu tun, wo und wann auch immer. Hinter all den Schlagzeilen und Geschichten schien kein verlässliches Gerüst zusammenhängender Fakten erkennbar, das einigermaßen verständlich gemacht hätte, wie aus einer Gruppe junger amerikanischer Bürger eine Kommune von Schlächtern hatte werden können.
Die Medien drehten durch. Kameras waren pausenlos im Einsatz und weltweit konnte man auf den Titelseiten Artikel lesen, die mit einer Mischung aus Faszination und Ekel berichteten. Es schien, als ob Mansons Family alle guten Eigenschaften einer Generation zugleich zerstörte – ihre Anteilnahme und ihr Selbstvertrauen, ihre Musik und ihre wilden Farben, ihre Liebe zur freien Natur und zu den landschaftlichen Schönheiten Amerikas, waches Gespür für die Notwendigkeit, die Umwelt zu schützen. War es möglich, dass diese eine Gruppe einen grotesken und abscheulichen Schlussstrich unter eine Dekade setzte, die so machtvoll und vielversprechend begonnen hatte?
Persönliche Neugierde trieb mich also dazu, seit 1969 Material über die Family zu sammeln. Zuerst dachte ich, man hätte ihnen die ganze Geschichte einfach angehängt. Dann beschloss ich, ein Buch über den Fall zu schreiben, und glaubte, etwa sechs Monate dafür zu brauchen. Ich hoffte, dass danach wieder die ruhigen Tage des Friedens und der Poesie einziehen würden. Aber schon mit meinem ersten Flug nach Los Angeles wurde ich in einen Strudel von hektischen, die Tage und Nächte erfüllenden Aktivitäten gerissen, deren Ergebnis dieses Buch ist.
Anderthalb Jahre schrieb ich buchstäblich alles nieder, was ich über die Manson Family hörte oder sah. Ich hatte ständig einen Kassettenrecorder bei mir und habe mindestens hundert Stunden Tonbandmaterial aufgenommen: Interviews, Gegenüberstellungen und Kommentare. Nichts war zu trivial, mein Notizstift hielt alles fest. Oft stellte sich eine winzige, scheinbar nichtssagende Information ein Jahr später als höchst bedeutungsvoll heraus. Innerhalb eines Jahres schrieb ich für die Los Angeles Free Press ungefähr fünfundzwanzig Artikel über den Manson-Prozess und das Weiterbestehen der Family seiner Anhänger. Ohne die freundschaftliche Hilfe der Redakteure der Free Press hätte dieses Buch nicht entstehen können. Die Redaktion war für mich eine Oase, eine Insel normaler Menschen, zu denen ich mich am Ende eines Tages flüchten konnte, erschöpft von der Jagd nach lauter wahnsinnigen Details über Leichen, Rituale und andere schauerliche Dinge.
Ein Teil dieses Buches wurde in der Hall of Justice in Los Angeles geschrieben, wo ich ungefähr vier Monate lang dem Prozess gegen Susan Atkins, Patricia Krenwinkel, Leslie Van Houten und Charles Manson beiwohnte. Auch den zweiten Prozess – das Verfahren gegen Robert Beausoleil wegen der Ermordung Gary Hinmans – besuchte ich regelmäßig. Außerdem war ich bei zahlreichen Gerichtsverhandlungen zugegen, in denen es um andere Morde ging, die der Family vorgeworfen wurden.
Es ist nicht leicht, die Angst und den blutgetönten Irrsinn wiederzugeben, die den Tate-LaBianca-Prozess umgaben, die Atmosphäre von surrealem Grauen und heruntergekommener Schäbigkeit. Die Morddrohungen von Mitgliedern der Family waren so zahlreich, dass ihnen schließlich niemand mehr besondere Beachtung schenkte.
Es gab aber auch heiklere Probleme, die meine Nachforschungen behinderten, insbesondere das Problem jener Leiche im Kofferraum. Mehrere Geschäftsfreunde von Jay Sebring wurden während des Prozesses ermordet. Ich versuchte gerade, einen von ihnen aufzuspüren, einen Mann namens Joel Rostau, von dem ich mir einige Informationen erhoffte, als im Herbst 1970 bekannt wurde, dass man seine Leiche in New York im Kofferraum eines Autos gefunden hatte. Ein anderer Bekannter wurde um Weihnachten in Florida ermordet aufgefunden. Diese Vorfälle veranlassten mich, meine Nachforschungen auf weniger gefährliche Gebiete zu verlegen. Kein Buch ist es wert, permanent so nah am Abgrund zu balancieren.
Auch nach all den Jahrzehnten hat der Fall also immer noch seine losen Fäden, große und kleine. Fest steht, dass diese Geschichte ein großes amerikanisches Drama ist, dessen Widerhall bis in die Gegenwart reicht.