Читать книгу Kostrows Wahrheit - Emil Horowitz - Страница 11
Phase 9 \\ 7. August – 16:09 Uhr
ОглавлениеLustlos blickt Kostrow auf eine Auslage der Corluccio-Boutique an der Maximiliansstraße. Sein Blick streift über die Anzüge, die auf kopflosen Figurinen um Beachtung ringen. Seufzend betritt er das Geschäft, bleibt in der Mitte des Eingangsbereichs stehen. Sein Blick irrt ziellos umher, dann auf die Vitrinen und Regale um ihn herum. Unentschlossen dreht er sich langsam um sich selbst.
Eine hübsche Rothaarige im schwarzen Hosenanzug tritt an ihn heran. "Kann ich Ihnen helfen?“
"Sagen Sie mir, dass ich keinen neuen Anzug brauche.“
Die Rothaarige lacht leise. "Sie shoppen nicht gerne?“
"Ich hasse es.“
"Da sind Sie in guter Gesellschaft. So geht es den meisten Herren.“
Kostrow blickt in ihr apartes Gesicht. Rote Haare und grüne Augen, niedlich. "Schön, wenn man auf ein verständnisvolles Herz trifft.“
"Sie hätten mit Ihrer Frau oder Freundin kommen sollen, so machen es die meisten Herren.“
Nachdenklich blickt Kostrow an der Rothaarigen vorbei auf die luxuriöse Ladeneinrichtung. Wen hätte er mitbringen sollen? Miriam? Viel zu hektisch. Es bemerkt, dass hinter der Frage mehr steckt als im ersten Augenblick ersichtlich. Sira? Schon eher. Obwohl ...
"Ich glaube nicht, dass mir das helfen würde.“
Die Rothaarige legt den Kopf schräg. "Ihre Frau versteht nichts von Mode?“
Anregend, dieses Interesse. "Ich bin nicht verheiratet.“
"Ach so.“
Eine Rothaarige mit Pokerface, gerade das Richtige für ein nettes Wochenende. "Und meine ... also ... Bekannte versucht immer, mich zu ihrem Geschmack zu bekehren.“
Die Rothaarige lässt ihren Blick kurz über ihn schweifen. "Das sollten Sie nicht tun. Offenbar haben Sie ein gut entwickeltes Stilempfinden.“
Kostrow lächelt. "Vielen Dank.“
"Und nun soll es ein neuer Anzug sein?“
Er seufzt. "Ja, allerdings.“
Wieder dieses warme Lächeln, das so gut zu den grünen Augen passt. "Nur Mut. Sie werden sehen, am Ende sind Sie froh, sich dazu entschlossen zu haben.“
"Denken Sie?“
"Sicher. Das klingt jetzt wie Werbung, aber ich meine es wirklich so: Unsere Anzüge machen glücklich.“
Kostrow lächelt. "Wenn Sie das sagen ...“
"Versuchen Sie es einfach.“ Sie weist auf die Treppe. "Im ersten Stock.“
"Danke.“ Kostrow geht auf die Treppe zu und steigt die Stufen hoch. Im ersten Stock inszenieren einige geschickt ausgeleuchtete, mit Anzügen gefüllte Nischen das Angebot. Ratlos steht Kostrow davor.
Ein junger Mann in einem grafitfarbenen Anzug, einem hellgrauen Hemd und einer grau und weinrot gestreiften Krawatte tritt an ihn heran. "Kann ich Ihnen weiterhelfen?“
Kostrow zeigt auf seinen Anzug. "Ist das einer von Ihren?“
"Allerdings.“
"Den würde ich gerne anprobieren.“
"Gerne.“ Der Verkäufer vermisst Kostrow mit geübten Augen und zieht einen Anzug zwischen den anderen hervor. "Die Kabinen wären hier drüben.“ Er geht auf die Umkleidekabinen in einer Raumecke zu, gefolgt von Kostrow. In der Kabine hängt er den Bügel an einen Haken, hält seinem Kunden den Vorhang auf und schließt ihn hinter ihm. Kostrow streift seine Sportjacke ab und hängt sie an einen freien Haken. Nachdenklich blickt er auf den Anzug. Seine Fingerspitzen gleiten über den feinen, leicht strukturierten Stoff. Tue ich das wirklich im Geschäftsinteresse, oder ringe ich nur mit einem Minderwertigkeitskomplex?
Sein Telefon klingelt, das Display zeigt Stephan an. Kostrow stellt die Verbindung her. "Was gibt’s?“
"Schlechte Laune?“
"Warum sollte ich schlechte Laune haben?“
"Weiß ich doch nicht. Du klingt eben so.“
"Quatsch. Ich probiere gerade einen Anzug.“
"Es hört sich eher so an, als hättest du eben einen aufs Maul gekriegt.“
"Pass auf, dass nicht du einen aufs Maul kriegst.“
"Und du willst keine schlechte Laune haben?“
"Genau. Ich bin super drauf. So gut ist es mir schon lange nicht gegangen.“
"Dann möchte ich dich nicht mit schlechter Laune erleben.“
"Sag mal, gibt es einen bestimmten Grund für deinen Anruf?“
"Sicher. Ich möchte mir von dir ein paar Modetipps für den Anzugkauf abholen.“
"Ich lege jetzt auf.“
"Halt, nicht so eilig, Partner. Wo kaufst du den Anzug?“
"Corluccio.“
"In der Maximilianstraße?“
"Nein, in Timbuktu.“
"Prima, bleib da. Ich bin gleich bei dir.“
"Wozu das denn?“
"Nun mach dich nicht gleich nass vor Begeisterung, mich zu treffen.“
"Was gibt es denn?“
"Ich habe etwas Explosives zu Enzo Milano.“
"Und was?“
"Nicht am Telefon. Ich komme gleich.“
"Ich habe keine Lust, in diesem blöden Laden stundenlang auf dich zu warten.“
"Ich bin gerade aus dem Vorverkauf der Kammerspiele heraus, gleich schräg gegenüber. In drei Minuten bin ich bei dir.“ Sieblat trennt die Verbindung, bevor Kostrow antworten kann. Achselzuckend steckt er das Telefon zurück in die am Haken hängende Jacke und öffnet den Gürtel seiner Hose.
Im neuen Anzug tritt er aus der Kabine und geht auf einen großen Spiegel zu. Kritisch betrachtet er sich. Warum nicht – irgendwie ist ein Anzug wie der andere. Der Verkäufer kommt heran, betrachtet Kostrow. "Sieht gut aus.“
"Finden Sie?“
"Sicher. Guter erster Versuch.“
"Erster Versuch?“
"Ich denke, Sie sollten auch ein paar alternative Farben und Schnitte anprobieren.“
Hört sich nach Arbeit an. "Wozu? Der hier gefällt mir.“
Der Verkäufer lächelt. "Ein Vorschlag. Lassen Sie mich noch zwei oder drei andere Anzüge für Sie aussuchen, und dann entscheiden Sie sich. Was halten Sie davon?“
Die unaufdringliche Fürsorge des Verkäufers gefällt Kostrow. "In Ordnung. Ich lasse mich überraschen.“
"Wenn ich das richtig verstehe, suchen Sie etwas Formelleres für das berufliche Umfeld?“
"So in der Art.“
Der Verkäufer sieht in fragend an.
"Wissen Sie, ich erweitere derzeit meine Klientel um Leute, die, also ...“
"... hochwertige Garderobe bevorzugen?“, ergänzt der Verkäufer.
"Gut erfasst. Ich möchte in diesem Umfeld nicht unangenehm auffallen.“
"Selbstverständlich. Ich werde sicher etwas Passendes finden.“ Während der Verkäufer sich auf die Suche nach geeigneten Anzügen macht, sieht Kostrow seinen Partner die Treppe hochsteigen. Der Verkäufer kommt mit drei Anzügen zurück. "Würden Sie die bitte in die Kabine hängen? Ich muss noch kurz etwas erledigen.“
"Kein Problem.“ Der Verkäufer geht auf die Kabinen zu, während Stephan von der anderen Seite herankommt.
Er zeigt auf den Anzug. "Sieht sehr gut aus. Nimmst du den?“
"Weiß ich noch nicht.“
"Wolltest du nicht einen klassischen schwarzen Anzug?“
"Woher weißt du das?“
"Hast du mal gesagt.“
"Habe ich?“
"Sicher. Aber dieses Grau ist auch sehr ansprechend.“
"Wenn du das sagst. Aber du wolltest mir doch etwas über Milano erzählen.“
"Kennst du Jannik Bornemann?“
"Blöde Frage. Schließlich war er in meiner Abteilung beim BKA. Wir sind seit damals befreundet.“
"Das wusste ich gar nicht.“
"Du kannst ja nicht alles wissen.“
"Jedenfalls solltest du in diesem Zusammenhang bald Kontakt mit ihm aufnehmen.“
"Wie kommst du denn auf diese Idee?“
"Na, wegen Milano und seinen drei Mal vermaledeiten Kois. Die gehen mir genauso nicht aus dem Kopf wie dir.“
"Und was hat Jannik damit zu schaffen?“
"Organisierte Kriminalität, klar?“
"Nicht klar.“
"Hast du dir Milano mal genauer angesehen?“
"Genauer kann man eigentlich nicht sagen.“
"Stell dir mal vor, du triffst den nicht als Restaurantchef, sondern, sagen wir mal, auf der Straße, umringt von vier Bodyguards in schwarzen Anzügen und Sonnenbrillen.“
"Na ja, ich würde denken, ein Mafia-Mitglied vor mir zu haben.“
"Aha, ich wusste, du schnallst es.“
"Unsinn. Zwischen vier Bodyguards mit Sonnenbrillen sieht jeder wie ein Mafioso aus, sogar du Würstchen.“
"Wie auch immer, ich würde Bornemann fragen, ob sie etwas über Milano oder das Tartufo Nero haben.“
"Hat er nicht.“
"Und woher willst du das wissen, du Genie?“
"Weil Jannik beim Staatsschutz ist, nicht bei organisierter Kriminalität.“
"Ich habe das untrügliche Gefühl, dass du trotzdem mit ihm sprechen solltest, und meine Gefühle sind meistens richtig.“
Gedankenverloren blickt Kostrow auf den Verkäufer, der am anderen Ende des Raums Hemden in ein Regal einsortiert. "Schaden kann es jedenfalls nichts.“
"Gut so. Und wenn du schon dabei bist, kannst du auch gleich über eine andere Sache mit ihm reden.“
"Welcher Sache?“
"Die Kois.“
"Aha. Die sind sicher beim BKA aktenkundig. Ich werde mich nach ihren Vorstrafen erkundigen.“
"Witzig.“
"Und was sollte Jannik wirklich über die Kois wissen?“
"Sie könnten Bestandteil einer hierarchischen Struktur sein.“
"Und wovon?“
"Kein Schimmer. Deshalb sollst du ja mit Bornemann reden."
"Das hört sich alles an, als wäre etwas Großes im Busch."
"Noch gibt es keine Anzeichen in diese Richtung. Also, entspann dich und kauf dir einen schönen Anzug.“
Kostrow blickt missmutig auf die Umkleidekabine, in der drei Anzüge auf ihn warten. Stephan zieht sein Smartphone hervor und blickt auf das Display. "Ich muss weiter. Wir sehen uns am Montag.“ Mit einem kurzen Winken geht er auf die Treppe zu. Kostrow betritt die Kabine und zieht den Vorhang hinter sich zu.
Eine halbe Stunde später steigt Kostrow in einem grauen, fein gestreiften Anzug aus der Esecutivo-Linie die Treppe hinunter. Die Rothaarige sieht ihm lächelnd entgegen.
"Ich würde ihn gerne gleich anbehalten, geht das?“
"Sicher. Die Etiketten sind bereits entfernt?“
"Das hat Ihr Kollege schon erledigt, und mir auch meine Sachen mitgegeben.“ Er hebt die Tüte etwas an, die er in der linken Hand hält.
"Ich hoffe, Sie haben nicht zu sehr leiden müssen.“
"Ihr Kollege hat sich rührend um mich gekümmert und mich sogar vor einer Fehlentscheidung bewahrt.“
"Wirklich?“
"Ich wollte den gleichen Anzug wie er und dann möglichst schnell verschwinden. Aber er hat mich davon überzeugt, es mit ein paar Alternativen zu versuchen.“
Die Rothaarige lässt wieder den Blick über Kostrow streifen. "Ich denke, das war eine gute Entscheidung. Darf ich Ihnen etwas zeigen?“
"Sicher doch.“
Die Rothaarige geht zu einem Regal, in dem Hemden in verschiedenen Farben einsortiert sind. Sie sucht ein wenig herum und zieht ein hellgraues, leicht schimmerndes Exemplar heraus. Aus dem Krawattenkarussell, das davor auf einer Glasvitrine mit Lederwaren thront, sucht sie eine weinrote Krawatte mit dezenten, grauen Tupfen heraus. Mit den Accessoires kommt sie zu Kostrow zurück und legt sie vor ihm auf den Tisch. "Was sagen Sie dazu?“
"Scheint zu passen.“
"Das wird sicher toll zusammen aussehen. Das Hemd sollten Sie vielleicht anprobieren, wegen der Kragengröße."
Kostrow blickt auf die im Krageninneren aufgedruckte Zahl. "Nicht nötig, die Größe stimmt. Langsam werden Sie mit unheimlich."
Die grünen Augen strahlen. "Alles eine Frage der Erfahrung.“
Wie soll ich das denn verstehen? "Sie denken also, ich habe den richtigen Anzug ausgesucht?“ Er zieht seine Brieftasche aus dem neuen Anzug und reicht ihr seine Kreditkarte.
"Ich bin überzeugt davon.“ Sie macht kehrt und geht mit schwingenden Hüften auf den Tisch mit dem Kartenterminal zu. Nach dem Zahlvorgang reicht sie ihm seine Karte und die Tüte mit seinen alten Kleidungsstücken, dem neuen Hemd und der neuen Krawatte. "Und – habe ich recht gehabt?“
"In welcher Hinsicht?“
"Dass unsere Anzüge glücklich machen.“
"Ehrlich gesagt, das weiß ich noch nicht.“
"Sie wissen nicht, ob Sie glücklicher sind als zuvor?“
"Ich glaube, das, was Sie meinen, ist das Glück, das man empfindet, wenn man in einem Ihrer Anzüge gut ankommt.“
"Könnte schon sein.“
"Dazu ist ein Feldversuch erforderlich.“
"Ein Feldversuch?“
"Sicher. Ich muss wissen, wie eine Person, die mir gut gefällt, auf mich in meinem neuen Anzug reagiert.“
Die Mundwinkel der Rothaarigen zucken. "Das ist aber eine komplizierte Versuchsanordnung.“
"Und sie wird noch komplizierter. Es genügt nicht, die Reaktion eines kurzen Augenblicks auszuwerten. Dazu ist schon eine etwas längere Testphase erforderlich.“
"Eine längere Testphase, aha.“
"Genau, über einen Abend hinweg zum Beispiel. Man müsste auch unterschiedliche Testumgebungen berücksichtigen, zum Beispiel in einem Restaurant, einer Bar, solche Dinge eben.“
"Was Sie nicht sagen.“
"Auch die Kompetenz des Testleiters oder der Testleiterin ist von Bedeutung.“
"Kompetenz?“
"Es müsste natürlich jemand sein, der sich in Modedingen gut auskennt, am besten mit der Mode des Herstellers.“
"Sie denken wohl an jemanden aus der Belegschaft dieses Geschäfts.“
"Das wäre ein ganz hervorragendes Beispiel.“
"Wie wäre es, wenn ich den netten Kollegen frage, der Sie so gut beraten hat?“ Das Lächeln der Rothaarigen hat sich zu einem breiten Grinsen ausgewachsen.
"Äh, ja, das wäre natürlich eine Möglichkeit, aber ...“
"Aber?“
"Na ja, da gibt es noch eine besondere Testbedingung.“
"Und die wäre?“
"Die Testleiterin müsste so wunderschön rotes Haar und ein so umwerfendes Lächeln haben wie Sie.“
Die Rothaarige blickt Kostrow eine Weile an. "Also, ich weiß nicht ...“
"Sie werden doch nicht zulassen, dass ein Kunde nach dem Kauf eines Corluccio-Anzugs nicht so glücklich ist wie von Ihnen versprochen? Wo bleibt Ihre Loyalität zur Firma?“
"Der Anzug soll Sie glücklich machen, nicht ich.“
"Könnte man nicht das eine mit dem anderen verbinden?“
Wieder blickt sie Kostrow lange an. "Um acht Uhr schließen wir, aber es kann eine halbe Stunde dauern, bis ich hier raus bin.“
Kostrow blickt in die leuchtend grünen Augen, verliert sich darin. "Also, wenn ich eine Prognose auf das Testergebnis wage ...“
"Ja?“
"Ihre Anzüge machen wahrscheinlich wirklich glücklich.“