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Phase 6 \\ 6. August – 12:14 Uhr
ОглавлениеKostrow erinnert sich daran, was Stephan Sieblat über den Münchner Ostbahnhof gesagt hat. Einer der schönsten hässlichen Bahnhöfe Europas. Er blickt durch die Scheibe des Imbissladens auf die belebte Ladenzeile. Die Uhr im Zeitungskiosk gegenüber zeigt vierzehn Minuten nach zwölf. Der mittägliche Stoßverkehr ist in vollem Gange. Auf dem Weg vom Haupteingang zu den Gleisen muss fast jeder hier vorbei, eine überdachte Nabelschnur zwischen Stadt und Reiseverkehr. Trotz der umfassenden Umbauten und Renovierungsarbeiten ist das Ambiente unpersönlich, abweisend, kalt, wie zuvor. Dennoch ist der Bahnhof einer der Brennpunkte des Viertels, den Geschäften der Ladenzeile geht es glänzend.
Schlagartig, ohne Vorwarnung, überrollt Kostrow eine dunkle Woge tiefster Mutlosigkeit. Es ist, als wäre das bisherige Leben eine lückenlose Abfolge absurder, zielloser und überflüssiger Aktionen gewesen. Es ist, als wäre jedes Bemühen, der Zukunft Inhalt zu verleihen, ein sinnwidriges Vorhaben, aussichtslos, ausweglos. Es ist, als hätte jemand eine strategisch wichtige Sicherung herausgeschraubt. Es ist, als gäbe es eine ganz persönliche Verdammnis, nur für ihn geschaffen. Nein, nicht jetzt, nicht schon wieder! Es wird schlimmer, von Mal zu Mal. Und es wird immer schwieriger, zur Oberfläche aufzusteigen, sie zu durchstoßen und in bewohnbaren Lebensraum zurückzukehren. Kostrow schließt die Augen, versucht, regelmäßig zu atmen, die bisher wirksamste Gegenstrategie. Langsam verwehen die dunklen Schwaden.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, die etwa eine Minute dauert, ist der Anfall überwunden. Luong Thi Han kommt hinter der Ausgabetheke hervor, zwängt sich mit Kostrows Bestellung durch den voll besetzten Imbissladen. Er stellt den Teller auf das schmale Ablagebrett, das vor dem Fenster angebracht ist. Kostrow schüttelt die letzten Schatten ab, blickt den Vietnamesen an. "Danke, Luong."
"Immer Freude wenn kommen", sagt Thi Han mit einer leichten Verbeugung und kehrt in den Kochbereich zurück. Der außergewöhnliche Duft der Currywurst auf seinem Teller erinnert Kostrow daran, warum er sich immer wieder freiwillig in die menschenfeindliche Umgebung dieser zugigen Bahnhofspassage begibt. Mit Heißhunger stürzt er sich auf die Wurst. Keine andere Currywurst kann da mithalten, einschließlich aller Currywursttempel Berlins.
Durch die Scheibe sieht er Michail Lasarew auf den Imbiss zugehen und eintreten. Der Ukrainer drängt sich zwischen den Gästen hindurch neben Kostrow. "Komischer Treffpunkt", brummt er anstelle einer Begrüßung.
"Die Currywurst ist es wert."
"Currywurst ist gepresster Dreck."
Kostrow muss lachen. "Ach was, Michail, du hattest nur einen schlechten Start damit. Gönne dir eines von Luongs Meisterwerken, dann wirst du anders darüber denken."
"Ich esse doch keine Currywurst, die ein Chinese macht."
"Erstens ist er Vietnamese, und zweitens sollte man nicht vorschnell urteilen. Probier es einfach."
"Danke, kein Bedarf."
"Na los, Genosse, ich lade dich ein." Mit mürrischer Miene zuckt Lasarew die Schultern. Kostrow wendet sich dem Imbissbesitzer zu, reckt einen Arm hoch und zeigt von oben auf Lasarew, während er mit den Lippen lautlos das Wort Currywurst formt. Thi Han nickt bestätigend.
Lasarew sieht Kostrow an. "Also, worum geht es?"
Kostrow wischt sich mit der kleinen Papierserviette Currysauce aus den Mundwinkeln. "Bist du frei?"
"Teilweise."
"Kannst du ein Undercoverprojekt übernehmen?"
"Kommt drauf an."
"Was soll das nun wieder heißen?"
"Das ist abhängig von Termin, Dauer und Manpower."
"Es müsste ziemlich bald losgehen."
"Was heißt bald?"
"Diese Woche, am besten innerhalb zwei Tagen."
Von Lasarews Pokerface ist nichts abzulesen. "Wie lange?"
"Schwer zu sagen. Es kommt darauf an, wie schnell ihr fündig werdet. Ich schätze, maximal eine Woche."
"Mit wie vielen Leuten kann ich reingehen?"
"Wie viele hast du aktuell?"
"Drei. Die anderen haben Kontrakte bis zum Quartalsende."
Thi Han bringt die Currywurst, stellt sie vor Lasarew ab. Der blickt mit Todesverachtung darauf. "Nicht wollen?", fragt der Vietnamese besorgt.
"Doch, Luong, alles wunderbar", sagt Kostrow lächelnd. "Vielen Dank." Mit einer erneuten Verbeugung zieht sich der Imbisschef zurück.
"Drei Leute und du wären zu auffällig. Schaffst du es mit zwei Leuten?"
"Kommt darauf an, was die Aufgabe ist."
"Der Auftraggeber wird gehackt."
"Dachte ich mir schon."
"Es geht vor allem um seine Projektdatenbanken. Da ist offenbar jemand eingedrungen."
"Das kann doch jeder normale Datenanalyst mühelos reparieren. Wozu braucht ihr da eine Undercoveraktion?"
"Wie es aussieht, hatten die Angreifer Hilfe von innen. Die implantierten Bots und lokalen Crawler lassen darauf schließen."
"Und wir sollen herausbekommen, wer die Bösen sind."
"So ist es. Ihr geht rein als Mitarbeiter des Systemanbieters, die die Möglichkeiten einer Netzwerkoptimierung prüfen."
"Mit Wissen des Systemanbieters?"
"Nicht, wenn es vermeidbar ist."
Lasarew versinkt in Überlegungen. Geduldig wartet Kostrow auf seine Antwort.
"Könnte funktionieren", sagt Lasarew schließlich.
"Nimmst du an?"
Lasarew blickt auf seine Currywurst. "Wenn ich dieses Dreckszeug nicht essen muss."
"Jetzt probier doch erst einmal."
Aus den Augenwinkeln wirft Lasarew dem Detektiv einen zweifelnden Blick zu. Seufzend schneidet er schließlich ein kleines Stück Wurst ab und steckt es in den Mund. Sekunden später reißt er die Augen auf. "Wahnsinn!"
"Na siehst du", sagt Kostrow lächelnd.
"Das ist Currywurst?"
"Das ist Luongs Currywurst. So etwas findest du auf der ganzen Welt nicht noch einmal."
Lasarew hat bereits ein weiteres, erheblich größeres Stück in den Mund gesteckt und kaut genussvoll darauf herum. "Das ist hervorragend. Wie wird das gemacht?"
"Genau genommen sind es zwei Geheimnisse. Das eine ist die Sauce. Niemand weiß, wie er die so hinbekommt."
"Wahrscheinlich vietnamesische Gewürze."
"Gut möglich."
"Und das zweite Geheimnis?"
Kostrow lacht. "Das ist die Wurst selbst. Er verwendet koschere Würste aus einer Schächterei in Bad Tölz."
"Koschere Currywurst?"
"Könnte man so sagen."
Genussvoll isst Lasarew den Rest der Wurst.
"Also, was ist? Übernimmst du den Job?" fragt Kostrow, nachdem er fertig ist.
"Standardhonorar?"
"Wie immer."
"Sag den Leuten, dass wir übermorgen anrücken."
Kostrow zieht den vorbereiteten Zettel mit Muhrmanns Kontaktdaten aus der Tasche und legt sie neben Lasarews Teller. "Sag es ihm selbst." Er klopft dem Hacker freundschaftlich auf die Schulter und geht zur Ausgabetheke, um zu bezahlen.