Читать книгу Kostrows Wahrheit - Emil Horowitz - Страница 12
Phase 10 \\ 8. August – 15:22 Uhr
ОглавлениеEin Schwanenpaar schwimmt heran, lässt sich schließlich auf dem Rasen nieder. Die Entenfamilien halten sich respektvoll im Hintergrund. "Ich wusste gar nicht, dass es noch Schwäne auf dem Kleinhesseloher See gibt.“ Sira leckt an ihrem Eis.
"Warum auch nicht?" Kostrow lässt den Blick über den See streifen, an dessen Ufer sie entlangschlendern.
"Ich weiß auch nicht. Irgendwie dachte ich, dass sie in städtischen Gebieten langsam aussterben.“
"Den Englischen Garten kann man nicht als städtisches Gebiet bezeichnen.“
"Auch wieder wahr.“
Kostrow beobachtet die beiden Schwäne, von denen einer seinen Kopf zärtlich an der Kopfseite des Partners reibt. "Ich habe einmal gelesen, dass Schwäne eine Trauerzeit einhalten, wenn ihr Partner stirbt.“
"Das finde ich schön.“
"Sie sind monogam. Erst nach dem Tod des Partners und einer angemessenen Zeitspanne suchen sie sich einen neuen Partner."
Siras Blick zuckt zu Kostrow hinüber, dann wieder geradeaus. Schweigend gehen sie eine Weile nebeneinander her. "Wie geht es Miriam?“
"Gut, denke ich.“
"Denkst du?"
"Als wir uns gestern früh getrennt haben, war alles in Ordnung mit ihr.“
"Eigentlich habe ich nicht ihren Gesundheitszustand gemeint.“
"Müssen wir von Miriam sprechen?“
"Wir müssen nicht.“
"Gut." Wieder gehen sie schweigend nebeneinander her.
Sira wirft die leere Hülle ihres Eis am Stiel in einen Abfallkorb am Wegrand und kehrt an seine Seite zurück. "Ich mache mir oft Gedanken über sie."
"Über wen?“
"Miriam.“
Kostrow seufzt.
"Tut mir echt leid, aber das Thema beschäftigt mich eben.“
"Du hast selbst gesagt, dass du mit der Situation zurechtkommst.“
Sira blickt auf Kostrows Profil. "Das ist es nicht. Es geht nicht um Eifersucht, wirklich.“
Kostrow bleibt stehen, wendet sich zu Sira um. "Es geht nicht um Eifersucht?“
"Nein, Jokim. Da ist etwas, das ...“
"Ja?"
"Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Ich kann es nicht richtig greifen.“ Sie setzen sich wieder in Bewegung.
"Fühlst du dich von ihr bedroht?“
"Was, bedroht?“
"Ich meine das im übertragenen Sinn. Dass sie ... also ... zu viel von mir beansprucht, du weißt schon.“
Sira überlegt. "Nein, das ist es nicht. Nicht bei einem Mann wie dir.“
"Wie soll ich denn das verstehen?“
Auf Siras Gesicht taucht ein trauriges Lächeln auf. "Niemand beansprucht zu viel von dir."
"Bitte?"
"Das würdest du gar nicht zulassen.“
"Willst du damit sagen, dass ich ein Egomane bin?“
Wieder gehen sie eine Weile schweigend nebeneinander her. "In gewisser Weise schon, Jokim."
Kostrow bleibt stehen. "Das kannst du nicht ernst meinen."
Siras trauriges Lächeln richtet sich auf Jokim. "Es ist mir klar, dass du selbst das anders siehst. Das tun alle Egomanen.“
"Sira!"
"Bitte sei mir nicht böse. Ich sage das nicht, um dich zu verletzen. Ich weiß, dass du nicht böswillig bist. Deine Egozentrik ist wohl die Folge von irgendetwas anderem.“
"Und was soll das sein?“
"Tja, das ist die Eine-Million-Euro-Frage. Das beschäftigt mich noch mehr als Miriam.“
Gedankenverloren blicken sie sich an. "Du beschäftigst dich ziemlich viel mit mir und meinen Problemen.“
"Man kann sich nicht aussuchen, wen man liebt.“
Das trifft ihn unvorbereitet. "Du ... du liebst mich?“
Sira schreckt hoch, als hätte man sie aus einem Traum geweckt. "Was? Habe ich gesagt ... Nein, das war Quatsch, nur ein Impuls. Vergiss das gleich wieder.“
"Du liebst mich.“ Ein Gefühl der Wärme breitet sich in seiner Brust aus.
"Ich sage dir doch, das war nur ein emotionaler Schub, hat nichts zu bedeuten.“ Sie setzt sich wieder in Bewegung, Kostrow folgt ihr.
"Wäre es so schrecklich, wenn du mich liebst?"
"Es ist sinnlos, darüber zu diskutieren, weil es nicht der Fall ist. Und ja, es wäre schrecklich."
"Wieso?“
"Das habe ich doch schon beantwortet.“
"Hast du?“
"Niemand beansprucht zu viel von dir, schon vergessen?“
"Ach, das.“
"Wer dich liebt, setzt sich mit nacktem Hintern auf eine heiße Herdplatte.“
"Autsch.“
"Es ist so. Du bist nicht bereit, dich als gesamte Person in eine Beziehung einzubringen.“
"Das sind offene Worte.“
"Es muss einmal gesagt werden."
"Du gehst ganz schön hart mit mir ins Gericht.“
"Nur, weil ich dich ... weil mir viel an dir liegt.“
"Du wolltest es schon wieder sagen.“
"Wollte ich nicht, rede keinen Unsinn."
"Wenn du es nicht sagen wolltest, woher weißt du dann, was ich meine?“
"Hör auf damit!“
"In Ordnung.“ Wieder gehen sie schweigend nebeneinander her, erreichen das Seehaus.
Kostrow blickt Sira an. "Lust auf ein Bier?“
"Schon, aber hier gibt's nur die Riesengläser.“
"Und wenn wir uns eine Maß teilen?“
"Gute Idee.“
Mit dem großen Bierglas und einer nicht minder großen Breze nehmen sie einander gegenüber an einem der langen Biergartentische direkt am Seeufer Platz. Nach einem Schluck aus dem Glas und einigen Stücken von der knusprig-frischen Breze blicken sie träumerisch über den See, dessen Oberfläche mit einem bunten Dekor aus Ruderbooten und Entenschwärmen geschmückt ist.
"Und wie zeigt sich meine Egomanie?“
Sira überlegt. "Vor allem in deinen Bindungsängsten.“
"Ich habe keine Bindungsängste.“
"Ja, sicher.“
"Nur, weil man sich noch nicht definitiv auf einen Partner einlässt, muss das noch lange nicht heißen, dass ...“
"Und zwei Partner?“
"Bitte?"
"Oder drei?“
"Was soll das jetzt heißen?“
"Ich glaube du verwendest eine Frau als Grund dafür, sich nicht auf eine andere einzulassen."
"Also, das ist jetzt aber wirklich absoluter Quatsch."
"Und andersherum auch."
"Wenn du damit auf Miriam anspielst – das mit euch ist etwas anderes. Damit habe ich selbst meine Probleme."
"Ist es nicht."
"Ist es nicht was?"
"Es geht nicht nur um Miriam und mich."
"Das muss du mir erklären."
"Lassen wir es lieber."
"Hör mal, erst ergehst du dich in dunklen Andeutungen, und dann willst du nicht darüber reden?"
"Ich will nur nicht, dass wir streiten."
"Wir streiten doch gar nicht!"
"Noch nicht."
"Schatz, ich verspreche dir, dass ich nicht streiten werde, egal, was du mir jetzt sagst."
"Sei vorsichtig, was du versprichst."
"Ich schwöre es."
"Gut. Du hast mir erzählt, dass du dich von Miriam gestern Morgen verabschiedet hast, richtig?"
"Richtig."
"Und gestern Abend?"
"Was ist mit gestern Abend?"
"Willst du mir erzählen, dass du – Jokim Kostrow, Supertyp – einen Samstagabend allein mit einem guten Buch und einem Glas Wein zuhause vor dem Kamin verbracht hast?"
Kostrow schmunzelt. "Ich habe keinen Kamin."
"Aha, du hast keinen Kamin. Dann ist ja alles klar."
"Ich weiß schon, worauf du hinaus willst. Schatz ich hatte wirklich vor, mich bei dir zu melden, aber dann ist alles so hektisch gewesen ..."
"Lass den Quatsch. Mir geht es nicht darum, ob du dich bei mir gemeldet hast oder nicht. Du hast einen One Night Stand hinter dir."
"Was ist denn das für ein Unsinn!"
"Schluss damit. Ich kenne dich zu gut, vor allem deine Körpersprache, wenn du auf deine Kosten gekommen bist."
"Du liebe Zeit."
"Du magst ja eine Reihe außergewöhnlicher Fähigkeiten haben, die ich wirklich schätze, aber auf einem Gebiet bist du ein absoluter Stümper."
"Und zwar?"
"Beim Lügen."
"Oh."
"Sei nicht gekränkt. Ich ordne das in deine positiven Eigenschaften ein."
"Na, wenigstens etwas."
"Jokim, bitte verstehe mich richtig. Ich leite aus unserer Beziehung keine exklusiven Rechte für mich ab. Du bist, wie du bist, und für mich heißt das, dass ich mich entscheiden muss. Entweder damit leben, oder mich von dir trennen. Wie meine Entscheidung ausgefallen ist, siehst du ja."
"Das ist mehr als ich verdiene."
"Möglicherweise. Aber ich erzähle dir das alles, um dir zu helfen."
"In welcher Hinsicht?"
"Ich biete dir eine Interpretation für dein Beziehungsverhalten an, das dir vielleicht dabei hilft, dich selbst besser einzuschätzen."
"Jetzt machst du mich neugierig."
"Wahrscheinlich wird dir nicht gefallen, was du zu hören bekommst."
"Viel schlimmer kann es ja nicht werden."
"Doch, kann es."
"Meine Güte."
"Willst du es wirklich hören?"
Kostrow blickt über den im Sonnenlicht glitzernden See. Und der Tag hat so schön angefangen. "Ja, unbedingt."
"Ich denke, deine Bindungsängste und dein Blümchen-Bienchen-Reflex sind Ausdruck eines tief sitzenden Minderwertigkeitskomplexes."
Kostrow fühlt einen Adrenalinstoß, der sich vom Hals in die Brust fortpflanzt. "Ich habe einen Minderwertigkeitskomplex?"
"Vielleicht sollte man besser mangelndes Selbstwertgefühl dazu sagen. Du brauchst ständige Bestätigung, vor allem für deine Männlichkeit. Daher musst du dir ständig selbst versichern, dass du in der Lage bist, jede Frau herumzukriegen."
"Nicht jede Frau."
"Aber diejenigen, die du reizvoll findest. Je mehr Frauen du eroberst, desto mehr Bestätigung ist das für deine Männlichkeit. Und je weniger du auf eine feste Bindung setzt, desto mehr Freiraum hast du für deine Eroberungen."
"Ach, daher Blümchen-Bienchen-Reflex!"
"Richtig. Du fliegt von Blume zu Blume, wie ein fleißiges Bienchen."
"Dann bin ich also ein Bienchen mit einem Minderwertigkeitskomplex?"
"Könnte man so sagen." Sira lächelt. Schweigend blicken sie sich an.
Kostrow nimmt einen Schluck aus dem Bierglas. "Das war harte Kost."
Sira legt sanft eine Hand auf die seine. Kostrow fühlt wieder ein Gefühl der Wärme in sich aufsteigen. "Nur zu deinem Besten."
"Ja, das habe ich verstanden."
Sira blickt über den See. "Aber das mit Miriam, das ist anders."
"Du meinst meine Beziehung zu ihr?"
"Ja ... nein. Da ist irgendetwas, das sich mir entzieht, je mehr ich darüber nachdenke."
"Also, ich weiß wirklich nicht, was du meinst."
"Meinst du, ich? Es ist, als müsste ich erst in ein Paralleluniversum wechseln, um mich ihr anzunähern."
"Das klingt jetzt aber ziemlich metaphysisch."
Sira lacht verlegen. "Stimmt. Das ist Unsinn."
"Vielleicht solltest du etwas viel Naheliegenderes versuchen."
"Und zwar?"
"Lerne sie persönlich kennen."
Sira versteift sich. "Das möchte ich eigentlich nicht."
"Warum denn nicht? Du musst sie ja nicht als meine Freundin kennenlernen. Sicher gibt es Möglichkeiten, eine zufällige Begegnung zu inszenieren."
"Nein, das ist es nicht. Ich will sie nur einfach nicht persönlich kennen lernen, das ist alles."
"Hört sich merkwürdig an."
"Möglich. Ich will ja nicht einmal ein Foto von ihr sehen, wie du weißt."
"Allerdings."
"Wenn ich das richtig verstehe, ist es bei ihr genauso."
"Das kann man so nicht sagen. Schließlich weiß sie nichts von dir."
"Ja, richtig, das hatte ich vergessen. Aber irgendetwas in mir sagt mir – wenn sie von mir wüsste, würde sie genauso reagieren."
"Eine mutige Behauptung."
"Möglich. Aber trotzdem – ich bin mir sicher."
Nachdenklich blickt Kostrow in Siras Augen. Ein Ozean aus Liebe. "Ich würde gerne besser verstehen, was du meinst."
"Das würde ich auch gerne. Das Komischste daran ist ..."
"Was denn, Süße?"
"Ich fürchte gar nicht das eigentliche Treffen mit Miriam, sondern ..."
"Sondern was?"
"Sondern die Auswirkungen."
"Welche Auswirkungen?"
Sira kneift die Lippen zusammen. "Das ist gar nicht leicht zu beschreiben. Ich werde das Gefühl nicht los, dass das physische Zusammentreffen mit ihr Auswirkungen darauf haben wird, wie ich dich sehe."
Kostrow starrt sie mit offenem Mund an. "Mich?"
"Ich weiß nicht, wie ich es besser ausdrücken soll." Sie lacht kurz auf. "Es ist totaler Unsinn. Wahrscheinlich bin ich einfach nur hysterisch."
"Also, hysterisch kommst du mir wirklich nicht vor."
Sira lächelt ihr schmales Lächeln. "Schön, wenn einem das bestätigt wird." Sie reißt ein kleines Stück von der Breze ab und steckt es in den Mund.
Kostrow blickt über den See, dann auf Sira. "Ich schlage dir etwas vor."
"Und was?"
"Eigentlich ist es ja dein Vorschlag."
"Ach ja?"
"Lass uns nicht mehr von Miriam sprechen."
"Guter Vorschlag."
"Und nicht mehr von Frauen-aufreißenden Möchtegern-Machos."
"Es wird immer besser."
"Und nicht von Bindungsängsten."
"Hervorragend."
"Und schon gar nicht von komplexbeladenen Honigbienen."
"Ich hätte es nicht besser formulieren können."
"Dann sind wir uns ja einig."
Sira blickt ihn mit schräg gestelltem Kopf an. "Und wovon sollen wir stattdessen reden?"
"Vielleicht von der wundervollsten Frau, die ich je getroffen habe."
Sira beugt sich über den Tisch. Kostrow erhält einen Kuss, der die letzten Schwaden roter Haarpracht und hellgrün leuchtender Augen in nebelhaftem Dunst auflöst.