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Daniel erkannte sie sogleich, folgte ihr durch den Korridor, sein Mantel wehte offen. Er war versucht, ihren Namen zu rufen, hoffte, sie blicke sich um, doch sie schritt weiter, klein und hartnäckig wie immer. Er war sicher, dass sie es war, obwohl sie die Haare nun lang trug, zu einem Pferdeschwanz gebunden. Bestimmt sparte sie sich die Coiffeuse, sie musste immer sparen und würde auch noch sparen, nachdem sie einen Millionär geheiratet hätte. Das Karge und Einfache war ihr eingeprägt, wie ihre weiten und leichten Schritte und die etwas nach links abfallende Schulter, auf die sie, wie er wusste, einen blauen Schmetterling tätowiert hatte. Blue Mountain. Sie rauchte nicht, trank keinen Alkohol, fuhr einen angerosteten Cherokee Jeep; ihre Leidenschaft zeigte sich nur am Berg, sonst verbarg sie sich unter ihrer widerborstigen Kraft. Daniel war nicht sicher, was er von ihr wollte, sie hatte ihn auf schwierigen Routen geführt, sie hatten sich geküsst und einmal miteinander eine Nacht verbracht, in einer Hütte unter Wolldecken, eng umschlungen, aber vielleicht hatte er auch nur geträumt, sie hätten miteinander geschlafen. Seit seinem Unfall in Israel kletterte er nicht mehr, seit seiner Affäre mit Marit hatte er nie mehr mit einer Frau ein Verhältnis gehabt, von einem gelegentlichen One-Night-Stand abgesehen. Er folgte Andrea bis zum Foyer, sah sie durch die Flügeltür ins Freie treten. Auf dem Vorplatz beim steinernen Engel blieb sie stehen. Es schien, als denke sie darüber nach, was sie vergessen haben könnte. Er hoffte, sie kehre nochmals um, dann würde er sie begrüssen wie eine alte Bekannte, sie würden sich küssen, Erinnerungen austauschen, sich verabreden. Sie zögerte, zog ihr Handy aus der Tasche ihrer Windjacke, tippte eine SMS. Er war sicher, dass sie einen Freund hatte, eine Frau wie sie unter lauter Männern, die sie bewunderten, vielleicht den Manager, den sie einmal aufs Matterhorn geschleppt hatte. Daniel war noch immer eifersüchtig auf jenen Geck, auch wenn er sich sagte, dass er zuallerletzt Grund dafür habe. Doch für Gefühle, das wusste er, gab es keine Gründe, und keine Medizin half, wenn sie einen heimsuchten. So war das mit Marit gewesen, der Kollegin im Rabin Medical Center in Tel Aviv. Sie hatte ihn nach seinem Unfall zusammengeflickt.

«Doktor Meyer!» Die Stimme einer Pflegerin hallte durch den Korridor.

«Bin gleich da!» Er trat in die Toilette, liess Wasser in seine Hände laufen, kühlte sich das Gesicht. Er riss ein Papierhandtuch aus der Box, trocknete sich ab. Betrachtete die Narbe, die sich vom Haaransatz der linken Stirnhälfte zum Nasenrücken zog. Kaum mehr sichtbar, trotz der vierzehn Stiche. Marit hatte exzellente Arbeit geleistet, er hatte von der erfahrenen Traumatologin viel gelernt in den zwei Jahren in Israel. Und in den Monaten ihrer Affäre. Er hatte alles vergessen, das alte Leben, die Berge, die Heimat und Andrea. Wie einst auf schwierigen Kletterrouten hatte es für ihn nur das Hier und Jetzt gegeben, die verzweifelte Hektik in der Klinik nach einem Attentat, die ohnmächtigen Versuche, zerfetzte Körper am Leben zu erhalten, die Nächte in Marits Wohnung über dem Hafen von Jaffa.

Er trat in den Korridor, die Pflegerin, die ihn gerufen hatte, war verschwunden. Er schritt über die Passerelle zum Neubau der Onkologie, grüsste flüchtig einen Patienten, der mit stumpfem Ausdruck den Galgen mit dem Tropf vor sich herschob und seinem Blick auswich. Er klopfte an Anitas Zimmertür und schaute hinein. An ihrem Bett sass ein Mann auf einem Stuhl, vornübergebeugt, hielt ihre Hand. Sie hatte die Augen geschlossen, vielleicht schlief sie. Auf der Bettdecke lag ein Bund Weidenkätzchen. Der Frühling war angekommen in den Bergen.

Der Mann liess Anitas Hand los, sah sich um. Einer aus dem Dorf, dachte Daniel. Er kannte ihn nicht, nickte ihm zu und schloss die Tür wieder.

Spurlos

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