Читать книгу Spurlos - Emil Zopfi - Страница 19
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Sie war zu früh im Dorf, lehnte auf dem Parkplatz vor der «Alpenrose» am Jeep und betrachtete das Haus. Eine Nomadin wird sesshaft, dachte sie. Robert hatte einmal behauptet, ihre Mutter stamme von Fahrenden ab. Andrea war in der Welt «herumzigeunert», wie er das nannte. Jene Zeit lag hinter ihr, etwas Neues tat sich auf, so unbekannt wie der Weg durch die Felswand in Patagonien, den noch nie ein Mensch betreten hatte. Man sagte, die Sesshaften seien stärker als die Nomaden, die sie überall auf der Welt verdrängt und ausgerottet hatten.
Vom Turm schlug es drei Uhr. Gleich danach parkte Frey seinen BMW neben ihrem Jeep, stieg aus. Die Lichter seines Wagens blinkten auf, als er abschloss. Er begrüsste sie, gratulierte zu ihrem Entscheid. «Herr Kernen wird gleich da sein.»
«Wer ist das?»
«Der Dorfschreiner. Bei öffentlich-rechtlichen Vertragsabschlüssen habe ich immer einen Vertreter der Gemeinde dabei.»
Andrea erkannte den Mann im blauweiss gestreiften Überkleid und dem Christusbart, der sich vom Glockenturm her näherte. Er war ihr im Stadtspital begegnet, mit einem Bund Weidenkätzchen hatte er Anita besucht. Ein zukünftiger Nachbar. Er blieb in gehörigem Abstand stehen, blickte auf den Boden, während er einen Gruss murmelte.
Frey zog einen schweren Schlüssel aus seinem Aktenkoffer, schloss die Eingangstüre zur «Alpenrose» auf. Feuchtmuffige Luft schlug ihnen aus dem Treppenhaus entgegen. Noch habe ich nicht unterschrieben, ging Andrea durch den Kopf. Noch kann ich zurück. Ein Klumpen sass ihr im Hals. Der Kauf war ein Entscheid aus dem Bauch gewesen.
«Das Haus stand längere Zeit leer», erklärte Frey, «einmal gut durchlüften, dann müffelt es nicht mehr. Die Substanz ist gut.» Die Treppenstufen knarrten, Andrea war bisher nie aufgefallen, wie ausgetreten sie waren. Holzwürmer hatten winzige Krater aus weissem Staub aufgehäuft. Putz war auf die Stufen und Zwischenböden gefallen, Risse durchzogen die geweisselte Wand wie Spinnweben. Die Gaststube sah aus, als wären eben die letzten Stammtischgäste aufgestanden und ins Freie getorkelt. Klebrige Ringe auf dem runden Tisch, auf einem andern standen zwei Gläser auf Biertellern mit eingetrocknetem Schaum und eine angebrochene Flasche.
«Anita konnte nicht mehr aufräumen, man hat sie nach der letzten Untersuchung gleich im Spital behalten.» Freys Stimme hallte in der Gaststube. Der Schreiner brummte etwas und zupfte seinen Bart.
An der hinteren Wand hingen noch immer Aquarelle von Anita neben den vergilbten Fotos, die Andrea früher oft betrachtet hatte. Sie stammten von Töni, dem legendären Wirt und Bergführer. «Haben Sie den Töni gekannt?», fragte sie den Schreiner.
Er sah auf die Fotos, nickte. «Ich arbeitete auswärts, als er starb.» Er deutete mit dem Daumen über die Schulter in Richtung der Berge. «Drüben.»
Frey rief vom Fenster her: «Die Aussicht fasziniert mich jedes Mal, diese Stimmung.» Die Wolken hatten sich gehoben, ein Stück Himmel zeigte sich. Die schroffen Hänge der andern Talseite erschienen im Licht der Sonne sanfter. «Möchten Sie nochmals einen Rundgang machen, oder wollen wir gleich den Papier kram erledigen?»
Andrea hatte die «Alpenrose» mit einem Architekten und Kletterkumpel, der mit ihr in Patagonien gewesen war, vom Keller bis unters Dach abgeschritten. Reto Kocher kannte sich mit Altbauten aus. Der Zustand des Hauses sei nicht schlecht, da und dort faules Holz, das Gebälk zum Teil verwurmt, das Dach müsste gelegentlich erneuert werden, die Kellergewölbe entfeuchtet. Schimmelpilz hatte sich angesetzt. Zum Glück kein Hausschwamm. Doch die Substanz sei gut, ein historisches Objekt, im Kern ein paar hundert Jahre alt, das unbedingt erhalten werden müsse. Höchste Zeit, dass etwas geschieht, hatte Reto gesagt und sich anerboten, ein Projekt auszuarbeiten. Er hatte die Kosten einer sanften Renovation abgeschätzt und bei Frey den Preis nochmals gedrückt. So viel sei allein schon das Grundstück wert, meinte Reto. Eine gute Investition also.
«Machen wir’s kurz.» Andrea setzte sich an den runden Tisch, Frey und Kernen nahmen gegenüber Platz. Der Verwalter wischte mit einer Hand Staub weg, legte die Verträge hin.
«Müsste nicht ein Notar dabei sein?», fragte Andrea.
«Nicht nötig. Ich bin amtliche Urkundsperson. Herr Kernen unterschreibt als Vertreter der Bürgergemeinde.»
Sie überflog den Kaufvertrag, bemerkte keine Veränderungen gegenüber dem Text, den der Architekt mit Frey ausgehandelt hatte. Steuerbefreit für die ersten zwei Jahre, das war schon etwas wert. Sie unterschrieb, Frey setzte seinen schwungvollen Schnörkel darunter, schob Kernen das Papier zu. Der zögerte. «Was soll ich …?»
«Unterschreiben, Herr Kernen.»
«Damit übernehme ich doch keine Verpflichtungen?»
«Absolut nicht, Herr Kernen.» Frey tippte mit dem Zeigefinger auf das Papier. «Lesen Sie hier. Sie bestätigen lediglich, dass Frau Stamm und ich persönlich unterschrieben haben. Als Zeuge sozusagen.»
Das Wort «Zeuge» schien Kernen zu verunsichern, doch er setzte Vornamen und Namen in einer regelmässigen Schülerschrift auf das Dokument.
«Gratuliere! Das Haus gehört Ihnen.» Frey stand auf, überreichte Andrea mit einer Verbeugung den Schlüssel. «Viel Glück für Ihr Unternehmen. Wie heisst Ihre Kletterschule schon wieder?»
«Rock’n’Ice.»
«Toll! Das wird Leute und Leben ins Dorf bringen. Und Arbeit fürs Handwerk, nehme ich an.» Kernen schaute aus dem Fenster, Freys Geschwätz war ihm offensichtlich peinlich.
«Mein Architekt wird mich beraten», sagte Andrea.
«Selbstverständlich sind Sie in der Wahl der Handwerker frei.»
Frey sah auf die Uhr: «Ich muss jetzt leider. Habe noch einen Termin.»
Gemeinsam traten sie ins Freie, redeten noch etwas übers Wetter, das nun hoffentlich besser werde, dann fuhr er weg.
Der Schreiner blieb stehen, als habe er noch ein Anliegen, die Hände in den Taschen seiner Überhosen. «Schönes Haus», sagte er mit belegter Stimme. «Gut, dass Sie es übernehmen und nicht ein Spekulant. Sie kennen die Berge und das Leben hier.»
«Die Berge kenne ich», sagte Andrea. «Das Leben noch nicht.»
Er wühlte in seinem Hosensack, zog ein Päcklein Kaugummi hervor, riss einen auf und steckte ihn in den Mund. «Ich habe das Rauchen aufgegeben. Mögen Sie?»
Andrea nahm sich einen Kaugummi. «Natürlich werden wir Sie anfragen, Herr Kernen, wenn es um Schreinerarbeiten geht.»
«Schon gut.» Er riss einen zweiten Kaugummi auf, schob ihn zwischen die Zähne, drehte das Papier zwischen seinen Fingern zu einer Kugel.
«Ist noch was?», fragte Andrea.
Er atmete tief durch. «Ich würde so gerne noch einmal auf den Berg.»
«Auf welchen Berg?»
«Die Plattenburg. Als Junge war ich mal oben. Mit dem Töni.»
«Dann haben Sie ihn also gut gekannt.»
«Er war mein Onkel.» Kernen presste eine Hand in die Hüfte, als fahre ein plötzlicher Schmerz durch seine Seite. «Wir sind über den Südgrat geklettert, vom Joch aus.»
«Töni muss ein guter Bergsteiger gewesen sein», sagte sie. «Die Erstbesteigung der Westwand war in jener Zeit eine grosse Sache.»
Kernen sah an ihr vorbei, seine Kinnladen mahlten versunken den Kaugummi. Sie wartete, ob er noch etwas erzähle von seinem Onkel, doch er schwieg.
«Sie hören von mir», sagte Andrea.
Kernen nickte. «Ich danke Ihnen.» Sein Händedruck war feucht und kraftlos.