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Ning stand in einem blauen Blazer mit dem Signet der Hotelkette auf der Brusttasche hinter der Rezeption, ihre schwarzen Haare hatte sie zu einem Knoten gebunden. «Die Herren sind schon im Café.» Sie lächelte Andrea zu. «Ich komme gleich.» Dann unterhielt sie sich in Englisch mit einem Paar, das ein Zimmer bezog.

Das Café des Hotels war fast leer. Zwei Herren in dunklen Anzügen sassen am Fenster, durch das man über die Stadt hinweg in die Ferne sah. Dunst schwebte über den Dächern, die Berge am Horizont standen im Schatten. Einer der Herren federte vom Stuhl, als er Andrea erblickte: «Frau Stamm. Wir kennen uns.»

Andrea erkannte die gedrungene Gestalt nicht gleich.

«Sie erinnern sich? Peter Frey.» Er wollte ihr die Windjacke abnehmen.

«Es geht schon», wies ihn Andrea zurück. «Sie sind der Gemeindeverwalter.»

Er stand dicht vor ihr, sein Atem roch nach Weisswein. «Die Gemeinde steht unter Kuratel. Ich bin von der Regierung abgeordnet.»

«Kuratel? Was heisst das?»

«Sie ist bankrott, wird vom Staat verwaltet. Weil ich im Dorf ein Haus besitze und Mitglied des Grossen Rates bin, hat man mich mit der Aufgabe betraut. Kein leichter Job. Ehrenamtlich sozusagen.»

Sie traten an den Tisch, auf dem ein aufgeklappter Laptop stand, einige Schriftstücke lagen daneben ausgebreitet.

«Herr Grieco. Von der Lévi AG», stellte Frey einen rundlichen Herrn mit schwarzem Kraushaar vor. Das Jackett spannte über seinem Bauch, die rote Krawatte war schief geknotet. Ein unerwartet harter Händedruck liess Andrea zusammenzucken. Lévi AG, der Name weckte Erinnerungen. Unangenehme. Das Zementwerk hatte den Lévis gehört, der Kalksteinbruch und die grösste Baufirma der Gegend. Sie setzte sich auf die Kante des Stuhls, den ihr Frey rückte. «Wir warten noch auf Frau Stamm.»

«Ich bin Frau Stamm», gab Andrea zurück.

«Entschuldigen Sie. Ich meinte die Gattin Ihres verstorbenen Vaters. Sie trägt Ihren Familiennamen, wenn ich mich nicht irre?»

«Sie irren sich nicht.»

«Ihr versteht euch gut, habe ich vernommen.»

«Sie vernehmen viel, Herr Frey.»

«Das ist leider nicht selbstverständlich. Sie ist ja sozusagen Ihre Stiefmutter. Was trinken Sie?»

«Kaffee bitte.»

Frey winkte die Kellnerin herbei.

Grieco zog eine Packung Zigaretten aus der Jackentasche, tippte eine heraus, hielt sie Andrea hin. «Rauchen Sie?» Seine Finger waren breit, die Nägel kurz geschnitten. Eine Arbeiterhand, die nicht zu den goldenen Manschettenknöpfen passte.

Andrea lehnte ab.

«Aber Sie erlauben?» Er klemmte die Zigarette zwischen die Lippen, zog sie aus der Packung.

«Lieber nicht. Eine Freundin liegt mit Lungenkrebs im Spital.»

«Die Wirtin der ‹Alpenrose›», bemerkte Frey.

«Tut mir leid.» Grieco legte die Zigarette auf den Rand des Aschenbechers, in dem schon einige Stummel lagen. Ning trat leise an den Tisch, setzte sich neben Andrea. Ihr Parfümduft verdrängte den Tabakgeruch.

«Die Lévi AG interessiert sich für Ihr Haus», eröffnete Frey das Gespräch. «Sie kennen die Firma?»

«Eine Besitzerin ist in den Bergen umgekommen», bemerkte Andrea, «Claudia Baumberger-Lévi. Ich war bei der Bergung dabei.»

«Richtig.» Grieco beugte sich vor, kämmte sich mit seinen dicken Fingern das Kraushaar. «Nach ihrem tragischen Tod und dem …», er suchte nach dem richtigen Wort, «… dem Hinschied ihres Gatten haben leitende Angestellte das Unternehmen übernommen. Ich war Lévis Bauführer und bin nun für den Immobilienbereich zuständig.»

«Management Buyout», erklärte Frey. «Ich berate das Unternehmen in Finanz- und Steuerfragen. Sehen Sie nun den Zusammenhang?»

Andrea nickte. Baumberger hatte damals seine Frau auf dem Weg unter der Plattenburg erschlagen, jedoch Steinschlag vorgetäuscht. Er selber war kurz darauf in eine Leitplanke gerast, wahr scheinlich Selbstmord.

«Robert wollte nicht verkaufen», sagte Ning leise.

«Sie haben also schon meinem Vater ein Angebot gemacht? Er hat mir nie davon erzählt.»

Grieco klemmte ein Zündholz zwischen die Zähne, liess es auf und ab wippen. «Wir haben versucht, mit ihm zu verhandeln. Aber Sie kannten ihn ja.»

Kannte sie ihn? Sie sah ihn vor sich, wie er die Makler abgeputzt hatte, in seiner ruppigen Art. Er konnte verletzen, er konnte lieben, niemand kannte ihn wirklich. Sie sagte: «Töchter haben oft härtere Köpfe als ihre Väter.»

Die Männer lachten, als habe sie einen Scherz gemacht.

Grieco tippte auf die Tasten des Laptops, drehte ihn um, damit sie den Bildschirm sehen konnte. Ein Plan erschien, grüne, braune, gelbe Flächen und Linien. «Die Lévi AG plant eine grosse Überbauung an Stelle der alten Häuschen. Moderne, sonnige, soziale Wohnungen für Familien, Alterswohnungen, ein Kindergarten …»

«Die Behörden unterstützen das Projekt. Eine gute Sache», unterbrach ihn Frey, «absolut keine Spekulation. Wir haben hier ein Schreiben der Stadtverwaltung.» Er legte einen Brief neben den Computer, Stadtwappen, Unterschriften. Dr. Peter Frey, Grossrat, Gemeindeverwalter.

Andrea überflog das Papier, sah zwischendurch auf den Bildschirm. War das eine gute Sache? Erinnerungen wirbelten in ihrem Kopf durcheinander. Lévis, die Zementbarone. Baumberger, eingeheiratet in die Familie, der seine Frau mit einem Stein erschlagen hatte, im Suff in die Leitplanke gekracht. Claudias Leiche auf dem Felsband unter dem Weg.

«Ich kann mir vorstellen, was Sie denken», sagte Grieco mit gedämpfter Stimme. «Ich habe Baumberger gekannt. Mein Vater war Schichtführer im Zementwerk des alten Lévi. Silikose, kein schöner Tod.» Er griff nach der Zigarette, drehte sie zwischen seinen Fingern. «Vergessen Sie die Vergangenheit. Wir kommen nicht weiter, wenn wir ständig am Alten hängen.»

«Rauchen Sie», sagte Andrea. «Es stört mich nicht mehr.»

Grieco steckte sich die Zigarette in den Mund, ein Zündholz flammte auf, zitterte in seiner Hand. «Danke, Frau Stamm. Ich glaube, wir verstehen uns.»

Frey lehnte über den Tisch und wandte sich mit überlauter Stimme an Ning. «Haben Sie mitbekommen, worum es geht?»

Sie nickte. «Sie bauen Wohnungen. Für Familien, Kinder, alte Leute.»

«Wir werden eine schöne Wohnung für Sie und Ihren Sohn reservieren. Zu Vorzugsbedingungen.»

Ning lächelte. «Danke, danke vielmals.» Sie legte ihre Hand auf Andreas Arm.

«Die Lévi AG macht Ihnen ein faires Angebot.» Frey lehnte sich zurück, faltete seine Hände im Nacken. «Überlegen Sie sich das in Ruhe. Ein besseres werden Sie nie mehr erhalten.» Er schob ein zweites Schreiben über den Tisch, Briefkopf der Lévi AG. Andreas Augen glitten über Buchstaben, Absätze, blieben zuunterst an einer Zahl hängen, fett gedruckt. Eine Zahl, bei der ihr schwindelte. Meine Kindheit, dachte sie, Vater, Mutter, der Garten mit dem Plattenweg, die Beerenstauden und Gemüsebeete. Alles würde verschwinden unter Beton, alle Erinnerung würde zugedeckt und ausgelöscht, zurück blieb diese abstrakte Zahl auf einem Bankkonto. Aber wollte sie sich erinnern? Hatte sie nicht schon Abschied genommen? Wollte sie nicht etwas ganz Neues beginnen? Die «Alpenrose», die Kletterhütte, ihre Kletterschule. Endlich einmal Tritt fassen irgendwo.

«Sie müssen sich nicht heute entscheiden.» Grieco klappte den Laptop zu. «Reden Sie miteinander, wir wollen Sie nicht drängen. Obwohl wir sehr interessiert sind an dem Projekt.»

«Die ‹Alpenrose› wäre Ihnen», bemerkte Frey beiläufig und stand auf. «Ohne Hypothek. Mitsamt einer ordentlichen Renovation.»

Die Herren bezahlten, packten ihre Aktenkoffer, verabschiedeten sich.

Andrea legte Ning den Arm um die Schulter und trat mit ihr ans Fenster. «Ning», flüsterte sie ihr ins Ohr. «Ning. Sollen wir das Haus verkaufen? Willst du das?»

Eine Klingel ertönte, Ning wurde an der Rezeption verlangt.

«Ich will, was du willst, Andrea.» Sie wand sich los, ihr Lächeln war eingefroren. Was wollte sie wirklich? Warum sagte sie «Ja» zu allem, was ihr begegnete? Andrea mochte sie, aber sie verstand sie nicht. Und Robert? Ihr Vater war ein anderer Mensch geworden in der kurzen Zeit, in der er mit ihr gelebt hatte, scheinbar ruhig und glücklich und noch fremder als zuvor. Jetzt ruhte er auf dem Berg mit all seinen Geheimnissen.

Spurlos

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