Читать книгу Spurlos - Emil Zopfi - Страница 21
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Sie fand keinen Schlaf. Zählte die Glockenschläge vom Turm, die Viertelstunden, dann die Stundenschläge. Sie erinnerte sich, was Anita im Spital gesagt hatte: Da ist nur … der Glockenturm … Was hatte sie gemeint? Vielleicht hatte sie der Klang der Glocke oft um den Schlaf gebracht. Es gab Gerichtsurteile, die Kirchen- und Kuhglocken zum Schweigen brachten, weil sie die Anwohner störten.
Andrea drehte sich gegen die Wand, hörte leises Knacken und Knistern im Gebälk. Das Holz dehnte sich, spürte die Wärme und das neue Leben im Haus, die Holzwürmer nagten unentwegt. Es war ihre erste Nacht in der «Alpenrose». Sie hatte sich notdürftig eingerichtet, den Futon im hellsten Zimmer auf dem Boden ausgerollt, Nägel ins Täfer geschlagen für die Kleider, als ob sie sich nur vorübergehend hier aufhalten würde. Noch immer Nomadin. Der Gedanke, ein Haus zu besitzen, dieses uralte behäbige Haus, war ihr noch fremd. So ein Haus besitzt man nie wirklich, hatte Reto Kocher gesagt. Das Haus war hundert Jahre vor dir da und es wird hundert Jahre nach dir noch stehen. Du bist nur Gast, auch wenn du im Grundbuch als Besitzerin eingetragen bist. Vor dem Einzug hatte sich Andrea fast gefürchtet, obwohl das Haus gekauft und bezahlt war. Aus der abstrakten Zahl der Erbschaft war etwas Reales geworden.
Als erste «Amtshandlung», wie Reto es nannte, hatte sie über dem Eingang mit Bohrdübeln das Schild befestigt: Rock’n’Ice – Kletterschule. Dazu das Signet, eine Seiltänzerin zwischen zwei Bergspitzen. Kletterfreunde hatten ihr beim Umzug geholfen, es hatte aus Kübeln gegossen, doch ihr Mobiliar war schnell im Haus. Reto liess einen Sektkorken knallen und bemerkte: Beim Zügeln regnet es immer. Andrea prostete den Freunden zu und trank zur Feier des Einzugs ein halbes Glas.
Sie zählte die Glockenschläge, zwei Uhr nachts. Sie begann zu rechnen, addierte, subtrahierte, summierte Zins und Zinseszins einer allfälligen Hypothek für die sanfte Renovation. Neue Fenster, hatte der Architekt empfohlen, neue Fensterläden, Sickerleitung, um den Keller zu entfeuchten. Den Ersatz der alten ausgetretenen Treppen verlangte das Baugesetz. Das Amt für Heimatschutz hatte sich gemeldet, machte Auflagen. Die Schindelfassade und das Dach mit den Schwalbenschwanzziegeln mussten erhalten bleiben, eine kostspielige Angelegenheit. Das Amt für Umweltschutz forderte die Sanierung der Abwasserleitungen. Die Lebensdauer von sanitären und elektrischen Installationen war längst abgelaufen. Küche, Toiletten, Gästezimmer waren renovationsbedürftig. Ein Fass ohne Boden. Seit Wochen stellte Andrea in Computertabellen das Notwendige dem Wünschbaren gegenüber und wünschte sich manchmal wieder die Zeit herbei, als ein Zelt, ein Rucksack voll Kletterwerkzeug und eine Sporttasche mit Klamotten ihr einziger Besitz gewesen waren und die Unendlichkeit des Himmels über Amerika das Dach über ihrem Kopf. Ein Dach, das nie leckte, an dem keine Würmer und Schimmelpilze frassen. War ein neues Dach wirklich notwendig, wie Reto Kocher empfahl? Solange es nicht hereinregnete, wollte sie zuwarten. Und wieder schlug die Glocke. Drei Uhr.
Ein Rumpeln über ihrem Kopf schreckte sie auf, sie war doch eingeschlafen. Sie vernahm ein flüchtiges Trippeln im Estrich, ein Gegenstand fiel um, rollte über den Boden. Einbrecher! Sie stützte sich auf die Ellbogen, horchte. Es war so still, dass sie glaubte, ihr Herz zu hören, das heftig klopfte. Ein Viertelstundenschlag vom Glockenturm. Das Rumpeln und Rollen setzte in einem andern Teil des Estrichs wieder ein. Ein Gepolter, als ob jemand mit Kegeln spielte.
Andrea tappte auf allen Vieren von der Matratze zum Rucksack, schnallte den Eispickel ab, suchte zwischen Kletterwerkzeug nach ihrer Stirnlampe, setzte sie auf, trat in Socken und Pyjama ins Treppenhaus, den Pickel fest umklammert. Die Stufenleiter zum Estrich knarrte leise, als sie hinaufstieg. Sie horchte, hörte keinen Laut mehr, stiess die Bodenklappe auf und rief: «Ist da jemand?»
Der Lichtstrahl ihrer Lampe tastete über alte Möbel, die mit Leintüchern zugedeckt waren, über Truhen, Tische, kaputte Stühle, Säcke mit verrotteten Lumpen, einen Stapel Dachziegel, Bündel vertrockneter Schindeln, Zeitungen, Hanfseile, eine Kiste verstaubter Schuhe. Sie glaubte, Trippelschritte zu hören, die sich hinter einem Kamin entfernten, rief nochmals, doch kein Einbrecher oder sonst ein Eindringling zeigte sich. Dafür schlug ihr ein penetranter Gestank entgegen. Gespenster hinterliessen bei ihrem Verschwinden einen Geruch nach Schwefel und faulen Eiern, hatte einmal jemand erzählt. Der Estrich stank eher wie das Raubtierhaus im Zoo.
«Ist jemand da!», rief sie nochmals, um Mut aufzubauen, drang Schritt für Schritt vor, leuchtete jeden Winkel aus. Hinter dem Kamin trat sie beinahe auf eine schwarze Wurst von frischem Kot. «Verdammte Scheisse, Marder!», rief sie aus. «Auch das noch!» Ein Gespenst wäre ihr lieber gewesen.
Andrea schlug die Pickelspitze in einen Balken, ihre Angst kippte in Wut. Marder, das bedeutete, dass das Dach sofort repariert werden musste, vielleicht sogar erneuert.
Sie wusste, dass es fast unmöglich war, einen Marder aus dem Haus zu vertreiben, wenn er seine Duftspur hinterlassen hatte. Auch Marder waren sesshaft, keine Nomaden. Nach dem Lärm zu schliessen, war es ein Weibchen mit Jungen, die mit Vergnügen im Estrich herumtollten. Sie war also nicht allein.